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ANTANAS MACEINA

SOWJETISCHE ETHIK UND CHRISTENTUM

Zum Verständnis des kommunistischen Menschen

MCMLXIX

ECKART-VERLAG•WITTEN

(C) 1969 by Eckaxt - Verlag, Witten Umschlaggestaltung: Claus-E. Heeger Satz und Druck: G. Meiners, Schwelm

Inhaltsverzeichnis

Vorwort    7

    I. Entstehung und Sinn der sowjetischen Ethik    9

        1.    Der ethische Ansatz des Kommunismus    10

        2.    Die Entstehung der sowjetischen Ethik    15

        3.    Gründe für die Formulierung einer Ethik    22

        4.    Die Tragweite der sowjetischen Ethik    31

    II. Die Grundlagen der sowjetischen Ethik    41

        1.    Die Stellung der Moral im Dasein    43

        2.    Kritik der traditionellen Moral    48

        3.    Das Mitsein als Grundlage der sowjetischen Moral    58

        4.    Normen der sowjetischen Moral    68

    III.    Atheismus als Lebensform des Sowjetmenschen    77

        1.    Die Dialektik des sowjetischen Atheismus    79

        2.    Religion als Urform der Entfremdung    92

        3.    Die Religion als entfremdetes Dasein    102

        4.    Der Atheismus als Befreiung    110

        5.    Die Gestalt des sowjetischen Atheismus    120

    IV.    Der Sinn des Lebens im Kommunismus    131

        1.    Die Entstehung der Sinnfrage    133

        2.    Die Sinngebung als Lösung der Sinnfrage    138

        3.    Das sowjetische Erleben des Todes    148

        4.    Die Überwindung des Todes    157

I. Exkurs: Der Dialog zwischen Christen und Marxisten    166

II. Exkurs: Die Gottbildner im Marxismus    192

Sachregister   201

Vorwort

In den Jahren 1962 bis 1965 wurde der Verfasser von der Evangelischen Akademie Westfalen, Arbeitskreis Bochum, eingeladen, Vorträge über die Grundfragen der sowjetischen Ethik zu halten. Er folgte dieser Einladung um so williger, als er aus seinem langjährigen Umgang mit der marxistischen Philosophie wußte, welch große Lücke in unserer Erforschung des Marxismus immer noch besteht: wir befassen uns intensiv mit dem dialektischen und teilweise noch, wenn auch schon merklich weniger, mit dem historischen Materialismus. Dabei aber übersehen wir beinahe gänzlich die sowjetische Ethik, die im letzten Jahrzehnt einen ungeahnten Aufschwung erlebte. Indes ist die Ethik für eine tiefere Kenntnis des Kommunismus nicht weniger wichtig als seine Ontologie (der dialektische Materialismus) oder seine Geschichtsphilosophie (der historische Materialismus).

Der dialektische Materialismus will uns erklären, wie aus dem universalen und ewigen Werden der Materie ein bewußtes und freies, deshalb völlig neues und der Natur sogar entgegengesetzes Wesen — der Mensch — entsteht. Der historische Materialismus unternimmt es, uns zu zeigen, wie dieses neue Wesen in der Geschichte existiert und wie sein Leben sich allmählich, aber unaufhaltsam zum Kommunismus entwickelt. Doch erst die Ethik legt jene Normen und Regeln frei, denen der kommunistische Mensch, d. h. „der Mensch der Zukunft“, wie er heute auch offiziell genannt wird, folgen soll, um seiner einzigartigen Stellung in der Welt würdig zu sein und sich gegen andere Menschenbilder behaupten zu können.

Nun ist die Kenntnis des ethischen Verhaltens des kommunistischen Menschen für uns von größter Wichtigkeit, denn nur das enthüllt uns die Eigenart und den Geist dieses Menschen und schafft somit die notwendigen Voraussetzungen auch für das Gespräch mit ihm, das heute von allen Seiten gefordert und bereits gepflegt wird. Zu dieser Kenntnis sollten die Bochumer Vorträge einen kleinen Beitrag leisten.

Von Professor Dr. Emst Bornemann, dem Initiator dieser Vorträge, angeregt und anhaltend ermutigt, sie zur Veröffentlichung vorzubereiten, hat der Verfasser sein Vortragsmanuskript noch einmal von Grund auf umgearbeitet und mit Quellen- und Literaturangaben versehen. Die Problemstellung selbst wurde jedoch nicht erweitert, außer in den Exkursen am Ende des Buches.

Es wird in diesem Buch viel zitiert aus der Überzeugung, daß die objektive Darstellung einer fremden Weltanschauung erst dann gelingt, wenn wir sie selbst ausgiebig zur Sprache kommen lassen. Dieser Methode folgt der Verfasser konsequent bis zum Ende und hofft, daß die hier behandelten marxistischen Thesen so beschrieben sind, wie sie von den marxistischen Denkern selbst, in erster Linie von den russisch-sowjetischen Marxisten, verstanden werden.

Die Namen der zitierten russischen Autoren und die Titel ihrer Werke werden in der Umschrift nach der internationalen Gepflogenheit der Bibliotheken und wissenschaftlichen Institute wiedergegeben, wobei das tschechische Alphabet verwendet wird. In den Fußnoten jedoch sind, um die bibliographische Genauigkeit zu wahren, die Namen der Autoren so belassen, wie sie jeweils in den Titeln der Übersetzungen aus dem Russischen verwendet werden. Daraus ergeben sich die Abweichungen an der Schreibung sogar desselben Namens (z. B. Berdjajew, Berdiajev, Berdiaeff).

Antanas Maceina,
Professor für Religionsphilosophie
an der Universität Münster

Münster/Westf., den 27. Januar 1969

I. Entstehung und Sinn der sowjetischen Ethik

Wenn wir das Erscheinen des Kommunismus in unserer Epoche mit dem des Christentums in der Antike vergleichen, fällt uns sofort ein aufschlußreicher Unterschied auf: das Christentum stellte sich der heidnischen Welt zuallererst als eine neue Ethik vor, während der Kommunismus sich bewußt als eine neue Geschichtsdeutung zeigt. Das Christentum verkündete die subjektive Wandlung des Menschen, der Kommunismus fordert eine radikale Umgestaltung der objektiven Lebensformen. Die neuen, nach dem Bilde Christi gewandelten Menschen sollten das christliche Leben und die christliche Welt bewirken. Aus dem neuen, nach den Grundsätzen der proletarischen Revolution umorganisierten Leben und der um gestalteten Welt soll nun der kommunistische Mensch mit all seinen Tugenden entstehen. Der Ausgangspunkt des Christentums war die innere Gesinnung, der des Kommunismus ist die äußere Ordnung. Der ethische Charakter des Christentums ist in den Evangelien, der Apostelgeschichte und den Apostelbriefen so auffallend1, daß manche auch heute noch die christliche Religion nur für eine Morallehre halten und jede dogmatische Begründung dieser Lehre als späteres Beiwerk oder als Mythos ablehnen. Dagegen erweckt der Kommunismus wegen seiner überaus starken Betonung der objektiven Gesetzmäßigkeit den Eindruck „eines wesentlichen, grundsätzlichen Immora-lismus“.2

Von diesem Eindruck geleitet, behauptete seinerzeit Benedetto Croce, der italienische Geschichtsphilosoph, daß die marxistischen Ideen zwar „keinen Widerspruch zu allgemeinen ethischen Prinzipien“ enthalten, „auch wenn sie hier und dort mit den Vorurteilen der gängigen Pseudomoral zusammenstoßen“; jedoch berechtige das noch nicht, den Marxismus in einem echt moralischen Sinne auszulegen; es wäre vielleicht möglich, „eine Erkenntnistheorie nach Marx zu schreiben“, aber es wäre „ein hoffnungsloses Unterfangen“, über „die Prinzipien der Ethik nach Marx zu schreiben“.3

Derselben Ansicht war auch Werner Sombart, der deutsche Soziologe, der in den dreißiger Jahren schrieb, „das wissenschaftliche System des Marxismus ist seiner Struktur nach a-ethisch . . . das Marxsche System enthält keinen Gran Ethik“, und eben darin bestehe „dessen Eigenart“.4 Ist aber diese Meinung begründet? Beruht sie nicht eher darauf, daß wir von der objektiv-historischen Seite des Kommunismus allzu sehr fasziniert sind und deshalb seine subjektiv-anthropologische Seite leicht übersehen? Ist es nicht vielmehr so, daß der Kommunismus genauso wenig a-ethisch ist wie das Christentum a-dogmatisch? — Eben das sollen die weiteren Überlegungen klären.

1   Es ist zum Beispiel sehr kennzeichnend, daß die erste Versammlung der Apostel und der Presbyter in Jerusalem sich ausschließlich mit ethischen Fragen befaßte, um den Streit über die Gültigkeit des mosaischen Gesetzes zu schlichten (vgl. Apg. 15, 2—5). Auch die Beschlüsse dieser Versammlung waren rein ethischer Natur: die Christen — die Juden und die Hellenen — sollten sich „vom Götzenopfer, von Blut, von Ersticktem und von Unzucht“ enthalten; „keine weiteren Lasten“ wurden ihnen auferlegt (Apg. 15, 28—29). Folgen sie diesem Beschluß, so handeln sie recht.

2   G. Fedotov, Christianin v revolucii (Der Christ in der Revolution), Paris 1957, S. 20.

3 Zit. R. Tucker, Karl Marx. Die Entwicklung seines Denkens von der Philosophie zum Mythos, München 1963, S. 4; K. Sauerland, Der dialektische Materialismus, Berlin 1932, S. 55.

4    W. Sombart, Der proletarische Sozialismus („Marxismus“), Jena 1924, Bd. I, S. 313.

 

1. Der ethische Ansatz des Kommunismus

Schon die Tatsache allein, daß der Kommunismus imstande war, im Laufe einiger Jahrzehnte eine die ganze Welt umspannende soziale Bewegung auszulösen und seine Anhänger zu jedem Opfer zu bewegen, beweist uns, daß er nicht nur eine Seinslehre und eine Geschichtsdeutung, sondern zugleich auch eine Morallehre ist, und zwar nicht zufällig, sondern seinem Wesen nach.5 Sonst würde man nicht erklären, wie Ignace Lepp mit Becht sagt, warum „so viele Männer und Frauen ihm ihr Leben weihen, ja sogar bereit sind, für ihn zu sterben“.6 Bei der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus übersehen wir meistens, daß der ethische Ansatz bereits seinen theoretischen Grundlagen innewohnt. Der dialektische Materialismus ist allerdings ethisch neutral, denn er untersucht die allgemeinen Prinzipien der Naturwelt und schließt seine Untersuchungen mit der Entstehung des Menschen ab. Sobald aber der Mensch da ist, beginnt in der Entwicklung des Kosmos eine neue Epoche, die nichts anderes ist als Werdegang der Freiheit, wie sie der historische Materialismus nennt.

Gewiß, besitzt auch diese Epoche ihre Gesetze, doch die Gesetze der menschlichen Geschichte sind nicht mehr die der Naturwelt. Zwar behauptet Lenin, Marx habe „die Erkenntnis der Natur auf die Erkenntnis der menschlichen Gesellschaft“ ausgedehnt.7 In diesem Sinne muß man auch G. Plechanovs Ausdruck, „der Marxismus ist der auf die Gesellschaftswissenschaft angewandte Darwinismus“8, verstehen. Das bedeutet jedoch keineswegs die Übernahme materieller Gesetze der Natur oder des Tierreiches. „Marx stimmt mit Darwin überein“; er stimmt aber nicht „mit Raubtier und Vieh“ überein, betont Plechanov.9 Das heißt, Marx erweitert Darwins Blickpunkt und Methode, doch er betrachtet das Tierreich nicht als Regel oder Modell der Menschheit. Plechanov spottet sogar über manche bürgerliche Schriftsteller jener Zeit, die ihren Lesern nicht „das wissenschaftliche Verfahren Darwins, sondern die tierischen Instinkte jener Lebewesen, von denen Darwin sprach, empfehlen“.10 Die Geschichte der Menschheit ist etwas völlig Neues. Das Erscheinen des Menschen war ein gewaltiger Sprung der Materie auf eine andere Ebene, auf die „die Kategorien aus dem Tierreich total unanwendbar“ sind.11 Der Marxismus widersetzt sich jedem Versuch, die Geschichte als einfache Fortsetzung der Natur zu verstehen.12 Die Geschichte als Existenz des Menschen in Raum und Zeit geht nun auf die Schöpfung eines neuen Menschen zu, denn der alte Mensch existiert als entfremdetes Wesen, d. h. als ein Mensch, der sich fremden Mächten unterworfen und deshalb sich selbst verloren hat. Der jetzige Mensch als Produkt der bisherigen Geschichte ist nach Marx ein „entmenschter Mensch“, der in einer „entmenschten Welt“ lebt.13 Das ist die verkehrte Stellung des Menschen zu sich selbst, zur Natur weit und zu seinem Mitmenschen; eine Stellung, die die Magie, die Religion und schließlich das Privateigentum und die Arbeitsteilung verursacht haben.14 Um diesen entmenschten oder von sich selbst entfremdeten Menschen zum wahren und bei sich selbst existierenden Menschen zu machen, muß man die alte Welt, wie Marx verkündet, „vollkommen ans Tageslicht“ ziehen und „die neue positiv“ ausbilden (a. a. O., S. 166); man muß sie verändern, und zwar von Grund auf, damit der Mensch zu sich selbst zurückkehren und weiterhin bereits „als totaler Mensch“ (a. a. O., S. 240) existieren könnte. Folglich ist der Kommunismus „der authentische Anfang des Menschen“.15

Wir können diese Ideen annehmen oder ablehnen, aber wir dürfen ihnen nicht den ethischen Charakter absprechen. Denn nur oberflächlich betrachtet erscheint die Beschreibung des entfremdeten Daseins als eine Feststellung geschichtlicher Gegebenheiten. Im Grunde jedoch verbirgt sich hinter der Frage Marxens, wie der entfremdete Mensch existiert, die Frage was er ist und sein soll, um menschlich existieren zu können. Der Begriff der Entfremdung ist ein tief ethischer Begriff. Die Entfremdung ist zwar historischen Ursprungs, also keine Ursünde und kein metaphysischer Status16, und muß deshalb auch innerhalb der Geschichte überwunden werden. Doch eben darin, daß dieser geschichtliche Zustand von Marx als Unterjochung und Ausplünderung des Menschen, als Abhängigkeit und Versklavung seiner Wesenskräfte bezeichnet wird (vgl. a. a. O., S. 254—55), liegt ein Werturteil über die Entfremdung als ein dem Menschen widersprechendes Phänomen, das, ethisch betrachtet, nicht bestehen darf und nicht eintreten sollte. Der Begriff der Entfremdung wird somit zum gedanklichen Kern der marxistischen Geschichtsdeutung und macht den Marxismus zu einer gewaltigen Befreiungsbewegung, die den Menschen zu sich selbst zurückführen will. Aus dem Zustand der Verdinglichung soll der Mensch in den Zustand der Vermenschlichung versetzt werden. Die vom Marxismus intendierte Befreiung, wie sie Marx selbst kennzeichnet, ist nichts anderes „als Beintegration oder Rückkehr des Menschen in sich als Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung“ (a. a. O., S. 255), also eine Tat hohen ethischen Banges.

Eben darin liegt die Erklärung für die Begeisterung, der der Marxismus überall dort begegnet, wo der Mensch „ärmer als Mensch“17 geworden ist. Denn was könnte es Erhabeneres geben, als den Menschen von einem tausendjährigen Irrweg abzubringen, ihm den wahren Weg zu sich selbst zu zeigen und ihn auf diesem Weg zum „totalen Menschen“ 18 zu bilden! Jeder materielle Wohlstand, jede bürgerliche Buhe und Sicherheit verblassen gegenüber diesem hohen Ziel. Der Marxismus vermag, wie dies Ignace Lepp aus seiner eigenen Erfahrung bezeugt, „ein Gefühl tiefer Verbundenheit mit allen Verstoßenen dieser Erde“ zu erwecken.19 Vielen Menschen, vor allem den jungen Menschen, tun sich ungeahnte Perspektiven ihres Lebens auf, wenn sie nach schmerzlicher Einsamkeit auf den Kommunismus stoßen und von ihm in eine Gemeinschaft eingegliedert werden, die fest entschlossen ist, „eine neue Welt zu bauen, eine unendlich schönere als die der heute lebenden Menschen“.20 Das ist „ein wunderbares Gefühl der Freude“ (ebd.), das auf jeden überzeugten Kommunisten eine starke ethische Wirkung ausübt und ihn zu großen Opfern anspomt. All das „unmoralisch von Grund aus“21 zu nennen, wie wir dies in der westlichen Kritik der sowjetischen Moral hie und da lesen, heißt den Geist des Kommunismus mißverstehen und deshalb auch seine Erfolge falsch einschätzen.

Obwohl die Meinung über den amoralischen Charakter des Marxismus, wie wir sehen, unbegründet ist, weist sie uns trotzdem auf eines hin: der ethische Ansatz des Kommunismus war ursprünglich nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Dafür gab es zwei Gründe: die stark ausgeprägte Polemik in der marxistischen Lehre und die revolutionäre Struktur der marxistischen Praxis.

Aus dem Kampf für die Befreiung der proletarischen Klasse geboren, kennzeichnete sich der Marxismus von Anfang an als eine rücksichtslose Kritik alles Bestehenden. Allerdings verstand Marx selbst diese Aufgabe nicht so rein negativ wie viele russische Revolutionäre, die durch ihre zerstörerische Tätigkeit nur den Platz freimachen wollten22 und „nur eine Brücke“ bauten, die jedoch nicht sie selbst, sondern „ein anderer, unbekannter, kommender Mensch passieren“ sollte.23 Marx wollte eine neue Welt auch positiv ausbauen, wenn auch noch nicht in allen Einzelheiten geplant und für alle Zeiten. Da aber diese neue Welt nur als Gegensatz zur alten Welt möglich war, mußte die alte Welt erbarmungslos verneint werden. Das Positive wohnte dem Marxismus wohl inne, aber es war vom Negativen allzu stark verdeckt. Wie bekannt, lehnte es Marx ab, die neue aus dem Kommunismus hervorgehende Ordnung näher zu beschreiben. Er hielt es für einen Vorzug des Kommunismus, daß er „nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik die neue finden“24 will. Denn „die Konstruktion der Zukunft“ sei nicht die Sache des Kommunismus (ebd.). Was er gegenwärtig zu vollbringen hat, sei eben „die rücksichtslose Kritik“, eine Kritik nämlich, „die sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet“, auch nicht „vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten“ (ebd.).

Diese Kritik traf nun nicht nur die bürgerliche Sozial- und Wirtschaftsordnung, sondern auch die bürgerliche Moral. Besonders im „Kommunistischen Manifest“ (1848) finden wir eine Reihe von ethischen Fragen, doch werden sie hier nur unter dem Aspekt jener „rücksichtslosen Kritik“ behandelt, ohne eine positive Aussage darüber, was an die Stelle der abgelehnten bürgerlichen Moral treten soll. Mit Entrüstung weist Marx, zum Beispiel, den Vorwurf zurück, die Kommunisten wollen „die Weibergemeinschaft einführen“.25 „Die Kommunisten brauchen die Weibergemeinschaft nicht einzuführen“, erwidert Marx, denn „sie hat fast immer existiert“ (ebd.). Die Bourgeoisie nehme „die Weiber und Töchter ihrer Proletarier“, sie verführe „ihre Ehefrauen wechselseitig“, die bürgerliche Ehe stelle „die Gemeinschaft der Ehefrauen“ dar.26 Marx verwirft die bürgerliche Ehemoral vollständig. Aber er sagt kein Wort darüber, was für eine Familien-ethik er selber meint. Er bemerkt nur, „mit der Aufhebung der jetzigen Produktionsverhältnisse“ werde „auch die aus ihnen hervorgehende Weibergemeinschaft“ verschwinden (ebd.). Das Verschwinden ist aber wiederum nur ein negativer, inhaltsleerer Begriff, der auf keine positive Form der Beziehung zwischen den Geschlechtern im Kommunismus hindeutet. So verfährt Marx auch mit anderen ethischen Problemen. Jeder konkreteren und positiven Lösung dieser oder jener Moralfrage geht er geflissentlich aus dem Wege. Es ist deshalb kein Wunder, daß diese rücksichtslose Kritik an der bestehenden Moral, ohne gleichzeitig ein neues positiv ethisches Ideal zu entwerfen, von den Zeitgenossen als ein grundsätzlicher Immoralismus erlebt wurde. Auch in der marxistischen Literatur, das gab Lenin selbst zu, wurde oft „die Sache so hingestellt“, als ob der Kommunismus „keine eigene Moral“ hätte.27

Dazu trug auch die außergewöhnliche Situation der marxistischen Praxis wesentlich bei. Jede Ethik wurzelt doch in der Alltäglichkeit des Lebens. Jede Ethik entsteht aus dem einfachen grauen Alltag und nicht aus einer besonderen Situation oder einer Grenzsituation der menschlichen Existenz. Aber gerade dieser Alltag fehlte dem Kommunismus lange Zeit. Bis zum Jahre 1917, d. h. bis zur sowjetischen Bevolution, existierte der Kommunismus nicht als eine mehr oder weniger fixierte Lebensform, sondern nur als eine radikale Bewegung, die „den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung“28 vorbereitete, ja hie und da sogar einleitete. Die revolutionäre Situation, in der sich die Anhänger des Kommunismus befanden, versetzte sie in einen Zustand, der stark vom Gesetz der Grenzsituation beherrscht wurde. Der Kampf, das Leid, die Angst und schließlich auch der gewaltsame Tod waren die Kennzeichen des damaligen kommunistischen Daseins. Der kommunistische Mensch jener Zeit erlebte seine Situation als einmalig und individuell, so daß sein Verhalten in dieser oder jener Lage, in der er sich befand, nie zu einer allgemeinen Maxime werden konnte. Die damalige kommunistische Moral war wesentlich eine Situationsmoral.

Gerade aber deshalb war sie nicht fähig, allgemeine Verhaltensregeln zu formulieren und für bindend zu erklären. Denn jede Situationsethik erschöpft sich in der je gegebenen Situation und kann nicht auf eine andere Situation, vor allem nicht auf eine andere Grenzsituation, übertragen werden. Es gibt ja nicht zwei gleiche Situationen des Kampfes, des Leidens, der Angst, des Todes, in denen sich die Menschen auch gleich verhalten. Deshalb hat A. Šiškin recht, wenn er sagt, „die Gründer des Marxismus haben die ethischen Fragen nie akademisch gestellt; sie betrachteten diese Fragen immer im Zusammenhang mit dem Klassenbewußtsein des Proletariates und mit dem Kampf um eine neue Gesellschaft“.29 Anders ausgedrückt, der ethische Ansatz des Kommunismus war ursprünglich situationsbedingt. Infolgedessen spricht auch das 1. Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands30, angenommen auf dem 2. Parteikongreß 1903, noch kein Wort über die Moral des befreiten Menschen. Die Befreiung selbst wird wohl verkündet: „Die soziale Revolution wird . . . die Klassenteilung der Gesellschaft beseitigen und dadurch die ganze geknechtete Menschheit befreien“31, doch wie diese befreite Menschheit weiter leben soll, darüber sagt das Programm noch nichts. Seine Forderungen sind ausschließlich auf die damalige politische Situation Rußlands zugeschnitten und erschöpfen sich im rein Sozialen und Wirtschaftlichen.

5    Einen zufälligen ethischen Charakter des Marxismus erkennt auch W. Sombart an, indem er zugibt, daß es nicht ausgeschlossen ist, den Marxismus als Ganzes „auf ethischem Fundamente“ ruhend anzusehen oder in seinen Einzelheiten ethische Bestandteile zu entdecken (vgl. a. a. O., Bd. I, S. 313).

6 lg. Lepp, Von Marx zu Christus, Graz 1957, S. 13.

7    W. I. Lenin, Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, Ausgewählte Werke, Stuttgart o. J., Bd. I, S. 64—65.

8    G. V. Plechanov, Izbrannye filosofskie proizvedenija (Ausgewählte philosophische Werke), Moskau 1956, Bd. I, S. 690.

9  G. V. Plechanov, a. a. O., S. 691.

10  G. V. Plechanov, a. a. O., S. 690.

11  Fr. Engels, Dialektik der Natur, Berlin 1955, S. 329.

12  Vgl. H. Ley, Bemerkungen zum Wesen echter Menschlichkeit, im Sammelwerk „Beiträge zur Kritik der gegenwärtigen bürgerlichen Geschichtsphilosophie“, hrsg. von B. Schulz, Berlin 1958, S. 170.

13 K. Marx, Die Frühschriften, hrsg. von A. Landshut, Stuttgart 1953, S. 161—162.

14  Näheres über die Entfremdung des Menschen, wie sie vom historischen Materialismus verstanden wird, werden wir im 3. Kapitel sagen, wenn wir den Atheismus als Lebensform des Sowjetmenschen untersuchen.

15  B. Garaudy, Humanisme marxiste, Paris 1957, S. 96.

16  Die marxistische Kritik dieser Auffassung siehe bei R. Garaudy (Humanisme marxiste, S. 63—65) und in einer Sammelstudie „Les marxistes repondent & leurs critiques catholiques“, hrsg. von H. Denis u. a., Paris 1957.

17  K. Marx, Die Frühschriften, S. 255.

18 K. Marx, a. a. O., S. 240.

19 lg. Lepp, Von Marx zu Christus, S. 31.

20 lg. Lepp, a. a. O., S. 71.

21 S. Tyzkiewics, Die sowjetische Moral, im Sammelwerk „Christentum in der  Sowjetunion“, hrsg. von W. de Vries, Heidelberg, 1950, S. 100. — Neuerdings haben jedoch auch einige westliche Interpreten des Marxismus dessen ethischen Charakter auf Grund der Sorge um den Menschen erkannt und anerkannt (vgl. Th. Steinbüchel, Der Sozialismus, Tübingen 1950, S. 19—22; W. Theimer, Der Marxismus, München 1957, S. 11). Die Begründung dieses Charakters wird jedoch bei den genannten Autoren entweder zu stark scholastisch („der Normbegriff vom überzeitlich-absoluten Wertsein des Menschtums in aller Geschichte“, Steinbüchel, a. a. O., S. 22) oder zu stark idealistisch im Sinne Hegels („Materialismus und Ethik werden eins; eine autonome Idee des Guten wird überflüssig, weil die materielle Entwicklung ohnedies zum Guten hinstrebt“, Theimer, a. a. O., S. 11) gesehen.

22    Diese rein negative Einstellung der russischen Revolutionäre beschreibt I. Tur-genev in seinem Roman „Väter und Söhne“ (1861). In einer Szene des Werkes lesen wir: „Nein, erlauben Sie mal — begann Nikolaj Petrovic —, Sie verneinen alles oder, genauer gesagt, Sie zerstören alles... Aber man muß doch auch wieder aufbauen.“ — „Das ist nicht mehr unsere Sache... Erst muß man den Platz freimachen“, antwortete Bazarov, der Vertreter des Nihilismus und der Revolution (J. Turgenjew, Väter und Söhne, Zürich 1949, S. 79).

23    A. I. Herzen, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1949, S. 351.

24    K. Marx, Die Frühschriften, S. 168.

25  K. Marx, a. a. O., S. 544.

26  K. Marx, a. a. 0., S. 544—45.

27  W. I. Lenin, Rede auf dem 3. allrussischen Kongreß des kom. Jugendverbandes Rußlands (am 2. 10.1920), zit. W. I. Lenin, Uber die Religion, Berlin 1956, S. 66.

28  K. Marx, Die Frühschriften, S. 560.

29  A. Šiškin, Voprosy etiki v trudach V. I. Lenina (Fragen der Ethik in den Schriften Lenins) in „Voprosy filosofii“ (Fragen der Philosophie), Moskau 1960, Nr. 4, S. 58.

30  Dieser Name wurde erst im Jahre 1918 auf dem 7. Parteitag in den Namen „Kommunistische Partei Rußlands (Bolschewiken) — KPR/B“ umgewandelt (vgl. Geschichte der kommunistischen Partei der Sowjetunion, Berlin 1960, S. 346—47).

31  Vgl. B. Meissner, Das Parteiprogramm der KPdSU 1903 bis 1961, Köln 1962, S. 116.

 

2. Die Entstehung der sowjetischen Ethik

Eine sowjetische Ethik konnte erst entstehen, als der Kommunismus zur Lebensform des Alltags wurde und somit die frühere Ausnahmesituation ablöste. Das geschah durch die kommunistische Revolution im Jahre 1917, so daß wir diese Revolution als den grundsätzlichen Anfang der sowjetischen Ethik ansehen können. Denn erst von da an konnte der ethische Ansatz des Kommunismus sich entfalten, in konkreten Verhaltensregeln sich äußern und zu einem ethischen System ausgebaut werden. Als Lehre jedoch blieb die sowjetische Ethik auch nach der Revolution noch jahrzehntelang unentwickelt. Das Programm der Kommunistischen Partei Rußlands ((KPR/B) vom Jahre 1919, das das Programm vom Jahre 1903 ablöste, steUt ebenfalls noch keine ausdrücklich formulierten ethischen Forderungen an den kommunistischen Menschen. Das Programm sagt nur, „daß das Zeitalter der proletarischen Weltrevolution begonnen hat“, daß diese Revolution „die Menschheit aus der Sackgasse hinausführen“ und somit die allseitige Entwicklung „aller Mitglieder der Gesellschaft“ gewährleisten wird. Die Aufgabe der Partei sei nun, „die ideologische und erzieherische Arbeit“ vorwärtszutreiben. Worin aber diese Arbeit besteht, darüber schweigt das Programm. Man gewinnt sogar den Eindruck, daß die Partei die Umwandlung des Menschen gerade aus der Umwandlung der objektiven Lebensformen erwartet und deshalb ihre ganze Aufmerksamkeit auf diese Formen richtet: die unentgeltliche Ausbildung, der Zutritt zu den Hörsälen der Hochschulen für alle, der Zugang zu edlen Kunstschätzen, die Abschaffung der Religion, die Errichtung von Bibliotheken, Volksuniversitäten, Kinos, Studios usw. sollen, nach dem Programm, „ein Werkzeug zur kommunistischen Wiedergeburt der Gesellschaft werden32“. Im Vergleich mit dem Programm vom Jahre 1961, von dem wir noch sprechen werden, erscheint das Programm vom Jahre 1919 noch ohne eigentliche ethische Ausrichtung. Man hegte in der damaligen Zeit noch ein sehr starkes Vertrauen zu den sog. objektiven Faktoren, die, durch die Bevolution tungewandelt, von selbst einen neuen Menschen hervorbringen sollten. Deshalb wurden die ethischen Faktoren, weil sie eben wesentlich subjektiv sind, kaum beachtet.

Die bewußte Sorge um die sowjetische Ethik als Lehre kam erst Ende des zweiten Jahrzehntes nach der Revolution zum Ausdruck. Im Jahre 1938 hielt der sowjetische Pädagoge A. S. Makarenko (1888—1939) in Moskau einen Vorlesungszyklus über „Probleme der sowjetischen Schulerziehung“, und in diesen Vorlesungen forderte er zum ersten Mal die Formulierung einer sowjetischen Ethik. Makarenko war ein genialer Erzieher, der sein Talent besonders an den verwahrlosten Kindern (bezprizomiki) erprobte. Die grausame Bevolution und der ihr folgende Bürgerkrieg hatten das alte russische Familiengefüge weithin zerstört. Viele Väter der bürgerlichen Welt waren vom Revolutionstribunal hingerichtet worden, schmachteten in Gefängnissen oder flüchteten ins Ausland; viele aus allen Schichten fielen an der ,weißen‘ oder ,roten' Front. Die Mütter starben vor Hunger, an Krankheiten und seelischen Erschütterungen. Es blieben Scharen von Kindern, um die sich niemand kümmerte. Die kleineren und schwächeren starben dahin, die größeren und stärkeren gingen auf die Straße: sie hausten in Ruinen, Kellern, verlassenen Baracken, Marktbuden und ernährten sich von Abfällen, die sie in Müllhaufen fanden. Betteln und Stehlen waren endlich die einzigen Möglichkeiten, sich vor dem Tode zu bewahren. Bald organisierten sich diese Jugendlichen zu Banden, wählten ihre Führer und veranstalteten planmäßige und gut vorbereitete Diebstähle, Überfälle, Morde und Plünderungen. Ungewaschen, zerlumpt, abgemagert, von Geschlechtskrankheiten verseucht, wurden diese unglücklichen Jungen und Mädchen zu einer furchtbaren Landplage. Im Jahre 1920 richtete Makarenko die erste Kolonie für 80 solcher verwahrlosten Jugendlichen ein und begann ihre Umerziehung, und tatsächlich gelang es ihm, viele von ihnen dem Leben zurückzugeben.33

In den erwähnten Vorlesungen berichtete Makarenko über seine pädagogische Erfahrung und gab offen zu, daß er ohne eine Morallehre in seiner Arbeit nicht auskommen könne: „Während meiner Praxis“, sagte Makarenko, „bin ich zur Überzeugung gekommen, daß eine Darlegung der Theorie der Moral bei uns unentbehrlich ist“.34 In den damaligen sowjetischen Schulen war dieses Fach nicht vertreten. Makarenko hatte „nicht das Recht“, selbst „ein Lehrfach .Moral einzuführen“ (ebd.). Ohne dieses Fach wäre aber seine erzieherische Tätigkeit erfolglos geblieben. Deshalb trug er die Morallehre in einer anderen Form vor: er benützte nämlich die Vollversammlungen, die seine Schüler aus verschiedenen Anlässen veranstalteten, und lehrte sie Ethik: „Ich verfügte über einen von mir persönlich aufgestellten Lehrplan für diesen Gegenstand . . . Ich hatte in meiner Praxis sogar bereits ausgearbeitete Konspekte für solche Gespräche über die Theorie der Moral, hatte die Zeit, meine Arbeit in dieser Richtung in einigem zu vervollkommnen, und erkannte die sehr guten, großen Erfolge einer solchen Theorie der Moral“ (ebd.). Deshalb empfahl Makarenko, daß „im Zuge der Entwicklung“ der sowjetischen Schule Unterricht in der Ethik eingeführt werden sollte“ (ebd.).

Ein Jahr später schrieb Makarenko selber eine Arbeit „Über kommunistische Ethik“ (1939), in der er seine Empfehlung wiederholte und zugleich auch einige Gedanken zum Ausbau der sowjetischen Ethik äußerte. Er präzisierte seine frühere Idee in dem Sinne, daß die neue sowjetische Ethik „nicht eine einfache Nomenklatur der sittlichen Normen, sondern ein harmonisches und praktisch realisierbares in sich geschlossenes sittliches System“ sein solle.35 Sie solle solche Geschlossenheit und Klarheit, solche Überzeugungs- und Anziehungskraft haben, daß sie „alle Moralkodexe, die jemals in der Geschichte existiert haben, weit übertreffen“ könne (ebd.). Zugleich versuchte Makarenko zu erklären, warum im neuen sowjetischen Menschen auch nach einem Zeitraum von 20 Jahren immer noch sehr viele „Überreste der Vergangenheit“ zu finden seien. Man pflegt, sagt Makarenko, all das „in Bausch und Bogen für Überreste des Kapitalismus zu halten“36. In Wirklichkeit aber seien „gewisse Mängel“ des sowjetischen alltäglichen Lebens und des sowjetischen Charakters „durch unsere eigene Schuld entstanden, weil wir kein neues ethisches System ausgearbeitet und die neuen sittlichen

Übereinkünfte ungenügend studiert haben“ (ebd.). Makarenko war in der Sowjetunion der erste, der den wesentlichen Zusammenhang zwischen dem neuen Menschen und einer neuen Ethik begriffen und deutlich ausgesprochen hat. Er sollte deshalb als wirklicher Gründer nicht nur der sowjetischen Pädagogik, sondern auch der sowjetischen Ethik erkannt und anerkannt werden.

Doch die Forderung Makarenkos nach der kommunistischen Morallehre fand in den vierziger Jahren keinen Widerhall: seine Vorlesungen und Artikel, die wir eben zitiert haben, wurden erst nach seinem Tode veröffentlicht: die Vorlesungen über die sowjetische Schulerziehung 1946 und der Artikel über die kommunistische Ethik erst 1949. Noch zehn Jahre lang ging also die Formung des neuen Menschen in der Sowjetunion einen rein objektiv-historischen, administrativ bestimmten Weg, ohne daß man sich um den subjektiv-ethischen Faktor, nämlich die Einstellung des Menschen selbst, kümmerte. Allerdings sprach Lenin schon im Jahre 1920 zu den Jungkommunisten Rußlands über die kommunistische Moral, die „aus den Interessen des proletarischen Klassenkampfes“ entsteht und „völlig den Interessen des proletarischen Klassenkampfes untergeordnet ist“.37 Doch in der gleichen Ansprache relativierte Lenin diese Moral, als er ihren Inhalt „in der festen, solidarischen Disziplin und in dem bewußten Kampf der Massen gegen die Ausbeuter“ sah.38 Auch die Situationsgebundenheit der kommunistischen Moral kam in dieser Ansprache Lenins zum Ausdruck, als er „die Grundlage der kommunistischen Sittlichkeit“ in den „Kampf für die Festigung und Vollendung des Kommunismus“ verlegte.39 Die Festigung und Vollendung des Kommunismus war damals sicher eine sehr drängende Aufgabe. Konnte sie aber die Grundlage der Moral des neuen Menschen bilden?

Das gleiche stellen wir, einige Jahre später (1928), auch bei M. I. Kalinin fest, der in einer Rede, gehalten ebenfalls vor den Jungkommunisten, bedauerte, daß „die jungkommunistische (komsomolskaja) Moral zu wenig untersucht“ und „die proletarische Moral zu schleppend entwickelt“ werden.40 Doch auch Kalinin führte den Inhalt dieser neuen Moral auf „die Festigung der Arbeiterklasse, ihrer Kampfmacht“ und auf „die Entwicklung der sozialistischen Produktion“ zurück — das sei „die ethische Pflicht“ des Komsomol (ebd.). Kalinin sprach auch „von der Formung des neuen Menschen“ als Aufgabe der Zeit41, doch diesen neuen Menschen sah er im „Mitglied der sozialistischen Gesellschaft“ oder „im gesellschaftlichen Menschen“42, d. h. in einem Menschen, der eben von den objektiven Faktoren geformt wird. In seinen Vorlesungen „Über kommunistische Erziehung“ (1940) beschränkte sich Kalinin auf rein praktische Hinweise: „Unserem Klassenkampf maximale Hilfe zu leisten“, „sich wenigstens mit elementarer Gewissenhaftigkeit zu seiner Arbeit zu verhalten“, „das Erarbeitete zu hüten“, „die Liebe zur Heimat, zur sozialistischen Heimat“ zu entwickeln, „den Kollektivgeist zu wecken und zu stärken“43. Von der Forderung nach der Begründung der kommunistischen Erziehung durch eine Morallehre, wie dies bei Makarenko in dessen Vorlesungen über die kommunistische Schulerziehung der Fall ist, finden wir bei Kalinin kein Wort. Das ist ein auffallendes Zeichen, das uns deutlich macht, wie wenig Widerhall Makarenkos Worte zu jener Zeit fanden. Erst das folgende Jahrzehnt kann als die eigentliche Periode der Entstehung einer sowjetischen Ethik bezeichnet werden.

Im Jahre 1944 stellte die berühmte sowjetische Zeitschrift „Pod znamenem marksizma — Unter dem Banner des Marxismus“ ihr Erscheinen ein, nach einer langen und heftigen philosophischen Auseinandersetzung über die Dialektik.44 Nach drei Jahren der Vorbereitung erschien 1947 eine neue Zeitschrift unter dem Namen „Voprosy filosofii — Fragen der Philosophie“, die eine Wendung im gesamten sowjetischen Denken bedeutete. In dem Leitartikel der ersten Nummer rechtfertigte die Schriftleitung das Erscheinen einer rein philosophischen Zeitschrift damit, daß „das Interesse an Philosophie“ in der Sowjetunion groß und „die Bedeutung der marxistisch-leninistischen Philosophie für das Sowjetvolk“ ungeheuer seien; die sowjetischen Gebildeten erwarten von der Zeitschrift „eine kühne, schöpferische Bearbeitung der marxistisch-leninistischen Philospohie“45. Dieser letzte Satz veranlaßte die Zeitschrift, sich auch mit den Fragen der Ethik zu befassen, die bis dahin kaum berücksichtigt worden waren. Bereits von Anfang an hat die Ethik einen Platz in dieser neuen Zeitschrift gefunden. Allerdings waren die Artikel meistens negativen Charakters; d. h. die Zeitschrift kritisierte, wie Marx seinerzeit verlangte, rücksichtslos die bürgerliche Moral. Doch manche Aufsätze lassen erkennen, daß auch eine positive Entwicklung der eigenen Ethik des Marxismus im Gange war.46

Am bezeichnendsten war jedoch die Veröffentlichung des Programmentwurfs für den Kursus der Ethik an philosophischen Fakultäten im Jahre 1951.47 Diese Fakultäten bilden die Dozenten der Philosophie für sowjetische Hochschulen aus. Die Einführung eines Kursus der Ethik für künftige Dozenten des Marxismus-Leninismus bedeutete, daß der Marxismus als Denksystem nicht mehr bei einer reinen Seinsinterpretation stehenbleiben, sondern daß er sich auch mit dem Bewußtsein beschäftigen sollte, und zwar im Sinne der Erforschung und Formulierung der Verhaltensregeln für den kommunistischen Menschen. Das bedeutete, daß der Marxismus sich von einer Weltanschauung zu einer Lebensanschauung entfaltete und diese Lebensanschauung zu einer Lehre gestaltete, die gerade den jungen sowjetischen Akademikern vermittelt werden sollte. In demselben Jahre wurde das genannte Projekt in der Zeitschrift „Fragen der Philosophie“ kritisch beurteilt48 und dann verwirklicht. Im Jahre 1951 also wurde die Ethik als Bestandteil des Marxismus-Leninismus offiziell anerkannt und in das sowjetische Denksystem aufgenommen. Das folgende Jahrzehnt (1951—61) diente dann der Entwicklung und Festigung der Ethik als Lehre im kommunistischen Denken und Leben.

Wir möchten hier nicht den Verlauf dieser Entwicklung weiter verfolgen, denn er sagt uns nichts wesentlich Neues. Wir möchten nur die gegenwärtige Lage der sowjetischen Ethik in wichtigsten Punkten zusammenfassen, damit wir sehen, wie weit diese Entwicklung bereits vorangetrieben worden ist.

a)    Das Philosophische Institut der sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Moskau besitzt eine Sonderabteilung für Ethik. Die Aufgabe dieser Abteilung ist es, die wissenschaftliche Erforschung sowohl der kommunistischen als auch der bürgerlichen Moral zu organisieren und zu fördern. Diese Abteilung nimmt Kandidaten an, die sich das Fachgebiet ,Ethik“ für ihre wissenschaftliche Laufbahn erwählt haben.

b)    Die philosophischen Fakultäten49 der Universitäten in Moskau, Leningrad, Kiev und Lvov besitzen Lehrstühle für Ethik und bilden, wie bereits erwähnt, Dozenten für die marxistische Philosophie aus, die nun durch die Ethik erweitert und ergänzt wird.

c)    Seit dem Jahre 1959 ist das Programm der marxistischen Philosophie, die jetzt an allen sowjetischen Hochschulen als Pflichtfach gelehrt wird, durch die sowjetische Ethik ergänzt worden. Dieser Kursus heißt „Grundlagen der marxistischen Ethik“ und beansprucht ein Semester (2 Wochenstunden).50

d)    Seit dem Jahre 1957 werden Tagungen, auch Seminare der Ethiker ver-veranstaltet, die die Arbeit der Dozierenden und Forschenden auf dem

Gebiete der Ethik koordinieren und vertiefen sollen. Einzelne ethische Probleme werden auf diesen Tagungen als Themen gestellt und behandelt, z. B. das Problem der Werte (1964), der Usprung der Moral (1965), beide in Moskau.51

e) Seit dem Jahre 1955 erscheinen immer mehr Studien, die ethische Fragen behandeln und popularisieren: es gibt in der Sowjetunion schon eine zahlenmäßig beträchtliche ethische Literatur, obwohl ihr Niveau, wie die sowjetischen Kritiker zugeben, „die Ansprüche des praktischen Aufbaus des Kommunismus weithin nicht befriedigt“52.

Was uns aber bei dieser Entwicklung besonders interessiert, ist die Tatsache, daß alle Bestrebungen auf dem Gebiete der Ethik eine offizielle Bestätigung und Anerkennung in dem neuesten Programm der Kommunistischen Partei Rußlands gefunden haben. Der 22. Parteitag hat im Jahre 1961, wie bekannt, ein neues Programm angenommen, das das Programm von 1919 ablöst. Dieses dritte Programm beschäftigt sich nun zum ersten Mal auch mit den ethischen Fragen, und zwar so intensiv, daß es sogar „der ethische Kodex des Erbauers des Kommunismus“ genannt wird.53 Die Partei betrachtet dieses Programm als „Programm für den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft“54. Das wurde auch früher betont. Doch die Maßnahmen für diesen Aufbau waren früher ausschließlich objektiv: Sie betrafen die Errichtung und Veränderung äußerer Institutionen. Jetzt aber wird die Aufmerksamkeit unmittelbar auf den Menschen gelenkt. Das dritte Programm spricht ausdrücklich von Eigenschaften, durch die sich der kommunistische Mensch auszeichnen soll, und alle diese Eigenschaften sind moralischen Charakters : kommunistisches Bewußtsein, Arbeitsfreude, Disziplin, Ergebenheit gegenüber den Interessen der Gesellschaft;55 sie werden als „unveräußerliche Eigenschaften des Menschen der kommunistischen Gesellschaft“ bezeichnet (ebd.); ja, es wird im Programm sogar das Ideal des neuen Menschen kurz aber inhaltsvoll und einprägsam umrissen, nämlich: dieser neue Mensch soll „geistigen Reichtum, moralische Sauberkeit und körperliche Vollkommenheit harmonisch in sich vereinigen56“. Ebenfalls zum ersten Mal spricht das Programm namentlich von der kommunistischen Moral als solcher und zählt ihre Prinzipien auf.57 Mit diesem Programm verkündet die Partei nicht nur das, was sie auf dem Gebiete der Wirtschaft, der Politik, der Kultur, sondern auch das, was sie auf dem Gebiete der sitt-liehen Formung des Menschen erreichen will. Dadurch bekommt die sowjetische Ethik nicht nur einen öffentlichen, sondern sogar einen offiziellen Charakter: sie wird zur Angelegenheit der Partei und durch sie auch die des Staates. Der ursprünglich verborgene ethische Ansatz des Marxismus ist nun in der Sowjetunion zu einer Staatsaufgabe geworden. Die sogenannte „freie Moral“, die in den Jahren nach der Revolution so intensiv verkündet wurde — die Refolgung einer Moral wurde damals noch als „Zeichen der Bourgeoisie“ betrachtet58 —, wird heute als „überlebte Ansicht“ verurteilt59 und die Sowjetunion „die Zitadelle... einer neuen kommunistischen Moral“ genannt.60

32 Vgl. B. Meissner, a. a. 0., S. 121—32.

33  Die Arbeit unter den verwahrlosten Jugendlichen hat A. Makarenko in seinem Buch „Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem“ (Berlin 1949) beschrieben. Das ist ein erschütterndes Dokument der damaligen Zeit, zugleich aber auch eine Hymne auf die Macht der Erziehung.

34  A. S. Makarenko, Werke, Berlin 1956, Bd. V, S. 137.

35  A. S. Makarenko, a. a. O., S. 422.

36 A. S. Makarenko, a. a. O., S. 423.

37 W. I. Lenin, Rede..., a. a. O., S. 66.

38 W. I. Lenin, a. a. O., S. 70.

39 W. I. Lenin, a. a. O., S. 71.

40 M. I. Kalinin, Izbrannye proizvedenij a (Ausgewählte Werke), Moskau 1960, Bd. III, S. 251.

41 M. I. Kalinin, a. a. O., S. 249.

42 M. I. Kalinin, a. a. O., S. 252.

43   M. I. Kalinin, a. a. O., S. 400-413.

44   über diese höchst interessante Auseinandersetzung vgl. R. Ahlberg, Dialektische Philosophie und Gesellschaft in der Sowjetunion, Wiesbaden 1960.

45   Zit. W. Goerdt, Fragen der Philosophie. Ein Materialbeitrag zur Erforschung der Sowjetphilosophie im Spiegel der Zeitschrift ,Voprosy filosofii' 1947—1956, Köln 1960, S. 24.

46 Vgl. M. Z. Selektor, Politik und Moral (1951, Nr. 4), I. S. Kon, Recht und Moral (1952, Nr. 2). A. T. Fedorova, Arbeit und Moral (1949, Nr. 3), I. S. Kon, Die marxistische Ethik und das Problem der Pflicht (1954, Nr. 3). Man berichtete auch über die Lage der marxistischen Ethik in den anderen inzwischen kommunistisch gewordenen Ländern (z. B. in der Tschechoslowakei, 1952, Nr. 1) und über die ethischen Anschauungen einzelner Denker (z. B. A. S. Makarenkos, 1949, Nr. 1 oder N. Černyševskijs, Nr. 2).

47   Vgl. Voprosy filosofii, 1951, Nr. 2, S. 192 ff.

48   Vgl. Voprosy filosofii, 1951, Nr. 6, S. 218 ff.

49    Vgl. K. Meyer, Das wissenschaftliche Leben in der UdSSR, Berlin 1959, S. 25—30.

50   Vgl. Voprosy filosofii, 1960, Nr. 11, S. 133.

51   Vgl. Voprosy filosofii, 1957, Nr. 5, S. 203; 1965, Nr. 11, S. 159.

52  Vgl. Voprosy filosofii, 1963, Nr. 8, S. 70.

53  Programma kommunističeskoj partii Sovetskogo Sojuza (Das Programm der KP

54 der UdSSR), Moskau 1961, S. 6; vgl. B. Meissner, Das Parteiprogramm der KPdSU 1903 bis 1961, S. 145.

55 Programma..., a. a. O., S. 62—63; B. Meissner, a. a. O., S. 186.

56    Programma ..., a. a. O., S. 121 ; B. Meissner, a. a. O., S. 228.

57   Programma ..., a. a. O., S. 119—120; B. Meissner, a. a. O., S. 228.

58  M. I. Kalinin, Izbrannye proizvedenija, Bd. II, S. 251.

59  O. Nekljudowa, Von einem Schuljahr (deutsch: „Katja erobert junge Herzen“), Berlin 1956, S. 262.

60  G. Karpow, Über die Kulturrevolution in der UdSSR, Berlin 1956, S. 5.

 

 

3. Gründe für die Formulierung einer Ethik

Drei Gründe waren es, wie es scheint, die eine systematische Entwicklung und Ausarbeitung der sittlichen Normen für die praktische kommunistische Lebensform notwendig machten, nämlich: das Streben nach der Weltrevolution, der Kontakt mit asiatischen Völkern und der Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus.

Die Refreiung des Menschen aus der Entfremdung, diese höchste ethische Tat, ist nach dem Marxismus nur auf dem Wege der Revolution möglich. Keine Reform, mag sie auch noch so umfassend sein, ist imstande, das Leben so zu verändern, daß dadurch auch der Mensch verändert würde. Das Proletariat ist ja, wie Marx es nennt, „der völlige Verlust des Menschen“61; es kann sich also aus diesem Zustand „nur durch die völlige Gewinnung des Menschen“ (ebd.) befreien. Das Proletariat ist „die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft“62; es kann sich also nicht aufrichten, „ohne daß der ganze Überbau der Schichten ... in die Luft gesprengt wird“ (ebd.). Am Proletariat ist „das Unrecht schlechthin“ verübt worden63, das nur durch die Gerechtigkeit schlechthin wieder gutgemacht werden kann, was die Umwälzung des Lebens von Grund auf erfordert. Die Revolution ist deshalb das Lebensgesetz des Kommunismus. Das ist nicht „die moralische Rache“, sondern „die geschichtliche Notwendigkeit“64.

Doch die Revolution als die einzige Form der Refreiung des Menschen ist keine partielle Angelegenheit, denn auch die Entfremdung des Menschen ist keine partielle Erscheinung. Die Entfremdung ist total: sie ist die Existenzform des Menschen in der gegenwärtigen Geschichte. Folglich muß die

Revolution als Überwindung dieser totalen Erscheinung ebenfalls total sein. In allen anderen Revolutionen blieb nach Marx „die Art der Tätigkeit stets unangetastet“; es handelte sich dabei „nur um eine andere Distribution dieser Tätigkeit, um eine Verteilung der Arbeit an andere Personen“; die kommunistische Revolution richtet sich indes „gegen die bisherige Art der Tätigkeit“ und will somit „die gesamte Tätigkeit“ verändern.65 Sie umfaßt alles — sowohl intensiv (alle Werte und Inhalte) als auch extensiv (alle Länder und Völker).

Die Totalität der kommunistischen Revolution im extensiven Sinne heißt Weltrevolution. Denn das Proletariat kämpft nicht für seine Klasse allein und gegen seine Not allein, sondern es kämpft für die Befreiung der ganzen Menschheit. „Das Proletariat kann“, wie Marx sagt, „nur weltgeschichtlich existieren66“. Folglich kann auch der Kommunismus als Aktion des Proletariates nur universal sein. Das betont Marx besonders stark: „Der Kommunismus ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker auf einmal und gleichzeitig möglich“ (ebd.). Beschränkt er sich freiwillig auf ein Land, so engt er das proletarische Bewußtsein von selbst ein und hebt somit die all-menschliche Rolle des Proletariates auf. Andererseits wird auch das Universalwerden der menschlichen Beziehungen, die aus der Universalität der Produktivkräfte entstehen, ebenfalls „den lokalen Kommunismus“ auf-heben.67 Der lokale Kommunismus ist ein Widerspruch in sich. Deshalb nennen die sowjetischen Denker die westliche Ansicht, der Sieg des Kommunismus in Rußland sei von örtlicher Bedeutung und deshalb „historisch belanglos“68, „die bürgerliche Legende“, die eben nicht sieht, daß die sowjetische Revolution „der Ausdruck der allgemeinen progressiven Vorwärtsbewegung der Weltgeschichte“ ist69 und somit „eine neue Ära in der Geschichte der Menschheit“ einleitet.70 Rußland sei nur ein Sprungbrett für die Revolution, die nun in allen Völkern und Ländern stattfinden solle. Davon war Lenin so tief überzeugt, daß er glaubte, nach dem Sieg der Roten Armee in Rußland werde sich das Proletariat in Westeuropa, vor allem in Deutschland und England, von selbst erheben und den Kapitalismus stürzen.71

Doch es geschah kaum etwas von Bedeutung. Die hie und da aufflackemden kleinen Aufstände der Kommunisten wurden bald unterdrückt, denn sie fanden in Westeuropa keine oder nur eine geringe Unterstützung seitens der großen Massen des Proletariats. Das war für die Führer des Kommunismus ein deutliches Zeichen, daß die Weltrevolution nicht „auf einmal und gleichzeitig“ stattfinden werde, wie es Marx gelehrt hatte und woran Lenin und mit ihm auch viele andere glaubten. Die Kommunisten Rußlands überzeugten sich, daß auch die Weltrevolution genau so sorgfältig vorbereitet und von geschulten Leuten ausgeführt werden mußte wie die Revolution in ihrem eigenen Lande. Das russische Proletariat stellte zwar „die Avantgarde des internationalen revolutionären Proletariats“ dar, wie Lenin es mit Stolz nannte72, doch diese Avantgarde allein vermochte nicht die Weltrevolution zu entfachen, wenn das Weltproletariat nicht mitmachte. Man mußte sich wieder an das proletarische Bewußtsein wenden, es weiter schärfen und entwickeln. Die Spontaneität, gegen die Lenin schon seit dem Jahre 1902 kämpfte, erwies sich auf der internationalen Ebene als genau so verhängnisvoll wie auf der nationalen.73 Von nun an sollte es deshalb anders werden: es sollten Gruppen von Revolutionären in der ganzen Welt gebildet werden, die bereit wären, jedes Opfer auf sich zu nehmen, um den Prozeß der Revolution voranzutreiben. Das, was Lenin früher auf der nationalen Ebene verlangte — „gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Rußland aus den Angeln heben“74 — sollte jetzt auf die ganze Welt ausgedehnt werden.

Dazu aber brauchte man Leitbilder, Praktiken, Schulen, Erziehung, das heißt eine Lebensform, die als Haltung des Weltrevolutionärs gelten sollte. Man brauchte einen Menschentypus, der geistig und sittlich als Vorbild dem Weltproletariat gezeigt werden konnte. Das war die erste und aktuellste Aufgabe, die der Marxismus nach dem Erfolg der proletarischen Revolution auf der nationalen Ebene und nach dem Mißerfolg der Revolution auf der Weltebene zu erfüllen hatte. Materialien und Impulse, wie der Typus des Weltrevolutionärs innerlich aussehen und was für ein Leben er führen solle, fanden die russischen Kommunisten in der Tradition ihrer eigenen langen revolutionären Bewegung, vor allem bei den Bewegungen „Land und Freiheit (Zemlja i volja)“ und „Der Volkswille (Narodnaja volja)“, die mit Gewalt, ja Terror den Zaren hatten stürzen wollen und deshalb streng disziplinierte und opferfreudige Gruppen organisiert hatten. Der sogenannte „Katechismus der Revolution“, von Bakunin und Nečaev ausgearbeitet75, diente den kommunistischen Revolutionären nun als Muster nicht nur für die Organisierung der revolutionären Gruppen in der Welt, sondern auch für die moralische Haltung des Weltrevolutionärs, denn in diesem Katechismus wurden die wesentlichen Eigenschaften des revolutionären Menschen bereits formuliert: die Weihe seines Lebens für die Sache der Revolution (§ 1), die Unversöhnlichkeit gegenüber dem Feinde (§ 2), die Unterdrückung jedes persönlichen Gefühls der Verwandtschaft, der Liebe, der Freundschaft, der Anerkennung (§ 6), die Ablehnung jeder Romantik und jedes Utopismus (§ 7), die Anerkennung der Revolution als des einzigen Maßstabes für alle Taten (§ 11) usw. Die Übereinstimmung des „Katechismus der Revolution“ von Bakunin-Nečaev mit den gegenwärtigen Forderungen der sowjetischen Ethik ist verblüffend und noch zu wenig erforscht76: das alte Vermächtnis der russischen revolutionären Bewegung lebt in der sowjetischen Ethik als Erbe sehr deutlich fort.

Der Anspruch auf die Weltrevolution und die Notwendigkeit, diesen Anspruch konkret zu verwirklichen, zwangen den sieghaften Marxismus der Sowjetunion, eine entsprechende Ethik zu entwickeln und die Revolutionäre nach ihr zu erziehen. Die marxistische Moral sollte sich im Leben der Weltrevolutionäre zu allererst als „Waffe im Kampf der unterdrückten Massen gegen die ökonomischen Grundlagen der gegebenen Gesellschaft, gegen ihre politischen Institutionen, gegen ihre herrschende Ideologie und Moral“ bewähren.77 Der erste Anstoß zur Entstehung und Entwicklung der sowjetischen Ethik kam also von dem Ziel des Kommunismus, nämlich von der Notwendigkeit der Weltrevolution, die ohne eine Morallehre nicht zu erreichen ist. Daß es wirklich so war, beweisen uns die Erziehung in den Kominternschulen der Sowjetunion und die Tätigkeit der kommunistischen Revolutionäre in der ganzen Welt.78

Der zweite Grund, warum die sowjetische Ethik in dem letzten Jahrzehnt so intensiv gepflegt wurde, ist im Kontakt mit asiatischen Völkern zu sehen. Auf Asien richtete schon Lenin seine Aufmerksamkeit, als er in seiner Studie „Was tim“ (1902) „die Zerstörung des mächtigsten Bollwerks nicht nur der europäischen, sondern auch der asiatischen Reaktion“ durch „das russische Proletariat“ verkündete79 und später sogar den eigenen Weg Asiens zum Kommunismus voraussah; einen Weg, der „noch mehr Eigentümlichkeiten präsentieren“ sollte „als die russische Revolution“80. Nachdem die proletarische Revolution in China ebenfalls den Sieg errungen und eine gewaltige Masse von Menschen in den kommunistischen Block eingegliedert hatte, intensivierte die Sowjetunion ihre Kontakte mit Asien besonders eifrig und nützte jede Gelegenheit aus, um den Kommunismus als Befreier asiatischer Völker vorzustellen. Gewöhnlich verstehen wir all das als kommunistische Unterstützung dieser Völker in ihrem Kampf gegen den Kolonialismus. Und das ist er in der Tat. Doch außer dieser politischen oder militärischen Hilfe hat die Verbreitung des Kommunismus in Asien eine viel tiefere Bedeutung, auf die uns der baltendeutsche Denker Hermann Graf Keyserling schon vor 40 Jahren hingewiesen hat, die uns jedoch wegen der politischen Wirren immer noch entgeht.

Keyserling macht uns darauf aufmerksam, daß „der Sieg des Materialismus vom psychologischen Standpunkt im Osten das Gegenteil dessen“ ist, „was er bei uns bedeutet“81. Die materialistische Weltanschauung ist nicht nur eine theoretische Bejahung der Welt, sondern gleichzeitig auch eine schöpferische Hinwendung zur Erde als zu unserer einzigen und endgültigen Heimat, um sie zu verwandeln, zu verbessern und somit unser Dasein zu erleichtern. Die Weltzugekehrtheit ist die notwendige Folge des Materialismus. Nun war der Westen, wie Keyserling richtig bemerkt, „zu aller Zeit weltzugekehrt“ (S. 39). Die schöpferische Gestaltung der Erde war für das Abendland immer eine selbstverständliche Aufgabe. Der westeuropäische Mensch erlebte diese sichtbare Wirklichkeit immer als eine echte Realität, ja oft sogar als die einzige Realität. Nicht die Realität dieser Welt mußte man dem abendländischen Menschen beweisen, sondern gerade die Realität einer jenseitigen Welt, einer Überwelt, an die er zwar immer glaubte, die er aber oft nur für ein Schattenreich hält oder als rein passives Dasein deutet. Nicht den Materialismus brauchte also die faustische Seele, um in eine neue Seinsdimension vorzustoßen, sondern eher den Spiritualismus. Und eben darin sieht Keyserling die Wirkung des Christentums im Abendlande: durch seine spirituelle Seite vertiefte das Christentum die westliche Weltzugekehrtheit, erzeugte eine Spannung zwischen Diesseits und Jenseits und wurde somit zur Urquelle genialer Inspirationen, die die westeuropäischen Schöpfungen kennzeichnen. In dieser Hinsicht konnte der Materialismus als Seinsinterpretation dem abendländischen Menschen kaum etwas Neues sagen. Zum Impuls großer schöpferischer Taten wurde er deshalb im Westen nicht, denn er formulierte nur das, was der abendländische Mensch schon stets in seinem Herzen trug. Hier liegt vielleicht die Erklärung dafür, daß der Kommunismus im Westen immer unter dem sozialen Blickpunkt gesehen und nie als Seinsdeutung ernstgenommen wurde.

„Der Osten hingegen war immer spirituell; was ihm fehlte, war gerade die Entwicklung des Weltzugekehrten“ (S. 39). Der asiatische Mensch erlebte die Welt als Schein und nicht als wahres Sein. Der Tod und nicht das Leben war für ihn das, worauf er sich vorbereitete: nicht gut zu leben, sondern gut zu sterben, war ihm die größte Sorge. Die Sehnsucht nach der Befreiung aus dem Kerker des Leibes und des irdischen Daseins im allgemeinen war die Leitidee der Weltdeutung des orientalischen Menschen. Denn diese Erde wurde vom orientalischen Menschen als Unglück, als Ort der Strafe und Reinigung, d. h. als etwas Minderwertiges und Vorübergehendes erlebt. Hier liegt anscheinend der letzte Grund, warum das Christentum in Asien nie festen Fuß fassen konnte: die vom Christentum verkündete und vertretene Daseinsrichtung war ja dieselbe wie die aller asiatischen Religionen. Das Christentum konnte wohl das asiatische Leben läutern, etwas persönlicher machen und somit auf der Liebe aufbauen, aber nicht von Grund auf revolutionieren, indem es die Daseinsrichtung radikal veränderte. Denn das, was dem asiatischen Menschen fehlte, war nicht das tiefe Erleben des Jenseits, sondern ein Gefühl für die Echtheit und den Wert des Diesseits. Eben dieses Gefühl stärkt nun der Kommunismus.

Als der Kommunismus in Asien erschien, begriff der orientalische Mensch, daß die materialistische Weltanschauung ihm wirklich eine neue Dimension des Daseins erschließt, nämlich: die Dimension der sichtbaren Wirklichkeit. Der Kommunismus lehrt die asiatischen Menschen, daß die Welt kein Schein, sondern das wahre Sein ist; daß das Leben auf der Erde einmalig ist und deshalb verbessert, erleichtert, vervollkommnet werden kann und muß. Angesichts des allumfassenden Kosmos fühlte sich der asiatische Mensch als ein winziges Teilchen. Nun lehrt ihn der Kommunismus, daß er der Herr der Erde und der Zukunft ist, denn er ist imstande, die Erde zu verändern, über die Naturkräfte zu herrschen und sie sich dienstbar zu machen. Wir können sehr gut verstehen, welchen tiefen Eindruck diese neue „Religion der Erde“ auf den orientalischen Menschen macht und wie radikal sie seine bisherige Daseinsrichtung verändert. Im Westen bedeutet der Materialismus nur eine extreme Auswirkung der alten abendländischen Weltzugekehrtheit. Im Osten dagegen bedeutet er eine neue Botschaft, die das gesamte Leben verwandelt, indem er alle Kräfte aktiviert und sie auf die einst als Schein mißachtete Welt ausrichtet: unter dem Einfluß des Kommunismus wird der östliche Mensch zu einem großen Schöpfer. Der Kommunismus als Befreier wird deshalb nicht nur politisch, sondern zugleich auch existenziell erlebt: er befreit nämlich den asiatischen Menschen von seinem eigenen einseitigen Spiritualismus.

Doch diese befreiende Aufgabe kann der Kommunismus nur als Ethik in Asien erfüllen. Die bisherige Daseinsrichtung des orientalischen Menschen war wesentlich ethisch bestimmt. Asien hat sich in seiner Denkgeschichte recht wenig mit den Problemen der Ontologie, um so mehr aber mit denen der Ethik beschäftigt und eine Morallehre entwickelt, die es in vielen Punk-ten mit der christlichen Ethik aufnehmen kann. Die asiatische Askese ist in vielem sogar strenger und folgerichtiger als die christliche Askese. Auch das mystische Element ist in der Lebensdeutung stark ausgeprägt. Will nun der Kommunismus diesen so tief ethisch veranlagten Völkern eine neue Haltung einprägen, so muß er zuallererst ihnen eine neue Ethik darbieten; eine Ethik, in der das aktiv-schöpferische Verhalten des Menschen zur Welt klar und überzeugend entwickelt ist. Das haben die sowjetischen Denker sogleich erfahren, als sie an philosophischen Kongressen Pakistans und besonders Indiens teilnahmen, wo die Themen meistens ethisch und sogar religiös verstanden und behandelt, und bei privaten Gesprächen die Fragen der Beziehung der Philosophie zum Leben und zur Moral in erster Linie angeschnitten wurden.82 Von solchen Kongressen zurückgekehrt, veranlaß-ten die sowjetischen Vertreter die philosophischen Institutionen (Institute und Lehrstühle), die Initiative zu ergreifen und sowjetische Werke philosophischen Inhaltes, „vor allem die Arbeiten über Probleme der Ethik“, in asiatische Sprachen zu übersetzen.83 Doch zu jener Zeit (1955—57) gab es derartige Arbeiten in der Sowjetunion so wenig, daß diese Initiative praktisch nichts anders bedeutete, als den dringenden Appell zur Entwicklung der Ethik im eigenen Lager. Wie feinfühlig sich die Sowjets zu den asiatischen Völkern in dieser Hinsicht verhalten, zeigt uns auch eine an sich unbedeutsame, aber charakteristische Einzelheit: während zu den Philosophiekongressen in der westlichen Welt sowjetische Ontologen und Naturphilosophen geschickt werden, fahren nach Asien sowjetische Ethiker. Der asiatische Anstoß bei der Entwicklung der sowjetischen Ethik ist deutlich spürbar.

Der dritte Grund, warum die Ethik als formulierte Theorie aus dem Marxismus hervorgehen mußte, liegt in der inneren Entwicklung des Kommunismus selbst. Wie bekannt, wird die kommunistische Ordnung nicht auf einmal errichtet. Lenin kündete zwei Stufen an, die die Entwicklung durchlaufen soll: die Stufe des Sozialismus und die des Kommunismus. In der Periode des Sozialismus oder, wie Lenin sagt, in der „niederen Phase der kommunistischen Gesellschaft“84 werden die Gerechtigkeit und die Gleichheit unter den Menschen nur relativ hergestellt. Hier behalten viele bürgerliche Rechte, Sitten, Lebensformen noch ihre Gültigkeit, denn „ohne in Utopien zu verfallen, darf man nicht annehmen, daß die Menschen sofort nach dem Sturz des Kapitalismus lernen werden, ohne edle Rechtsnormen für die Allgemeinheit zu arbeiten“85. Selbst „Unterschiede im Reichtum, und zwar ungerechte Unterschiede bleiben bestehen“86. Das einzige, was schon in dieser ersten Phase unmöglich gemacht wird, ist „die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ (ebd.). Erst in der zweiten Periode oder der „höheren Phase des Kommunismus“87 sollen diese Halbheiten beseitigt und die vollständige Befreiung des Menschen als entfremdetes Wesen verwirklicht werden. Doch diese höhere Phase wird nicht eingeführt, betont Lenin, denn sie läßt sich überhaupt nicht einführen (vgl. ebd.); sie hängt nämlich von der inneren Reife der Gesellschaft ab. Folglich ist auch der zeitliche Eintritt dieser zweiten Phase unbestimmt. „Wie rasch diese Entwicklung weitergehen wird, wie schnell sie zur Aufhebung der Arbeitsteilung, zur Beseitigung des Gegensatzes von geistiger und körperlicher Arbeit, zur Verwandlung der Arbeit in das erste Lebensbedürfnis führen wird“88, „welche Etappen die Menschheit auf dem Wege zu diesem höheren Ziel durchschreiten wird, welche praktischen Maßnahmen sie hierzu ergreifen wird, wissen wir nicht und können wir nicht wissen“89.

Die Revolution vom Jahre 1917 als Sturz des Kapitalismus versetzte das russische Volk in die erste Phase des Weges zum Kommunismus, nämlich in die Periode des Sozialismus. Diese Periode dauerte Jahrzehnte und dauert immer noch an. Gleichzeitig aber zeichnet sich bereits auch die Phase des Kommunismus ab. Schon im Jahre 1952 verkündete der 19. Parteitag, der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft sei gesichert, und die Hauptaufgabe der Stunde bestehe nun darin, allmählich „die kommunistische Gesellschaft auszubauen“90. Auf dem 21. Parteitag im Jahre 1959 sagte N. Chruščev, „das Sowjetvolk hat . . . jetzt in eine neue äußerst wichtige Periode seiner Entwicklung zu treten — die Periode des umfassenden Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft“91. Dieser Parteitag wird deshalb als Anfang der Periode des Kommunismus in der Sowjetunion bezeichnet. Das soll eine Zeitspanne sein, in der die kommunistische Ordnung endgültig errichtet wird und zwar mit allen Konsequenzen im praktischen Leben. Darauf ist auch das neueste Programm der KP der UdSSR aus dem Jahre 1961 zugeschnitten.

Eine der wichtigsten Veränderungen, die diese neue Phase des Kommunismus mit sich bringt, ist, wie das genannte Programm betont, „die aktive Beteiligung aller Mitglieder der Gesellschaft an der Verwaltung der gesellschaftlichen Angelegenheiten“92. In der sozialistischen Periode war die Verwaltung dieser Angelegenheiten eine Aufgabe des Staates: die Verwaltungsbehörden waren politischen Charakters und wandten Gewalt an, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Das war die Diktatur des Proletariates im wahren Sinne des Wortes, wobei jedoch der Akzent nicht so stark auf das „Proletariat“ als vielmehr auf die „Diktatur“ gelegt wurde. Die Errichtung der sozialistischen Gesellschaftsordnung wurde buchstäblich erzwungen. Nun, in der eintretenden höheren Phase soll alles anders werden. Die Verwaltungsorgane sollen „ihren politischen Charakter ablegen und zu Organen der gesellschaftlichen Selbstverwaltung werden“ (ebd.). Nicht der Staat als solcher soll die Bürger zur Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Aufgaben verleiten und sogar zwingen, sondern die Bürger selbst sollen entsprechende Organe schaffen, sie mit gewissen Befugnissen ausstatten und sich dann ihnen frei und aufrichtig unterwerfen. Dadurch soll die sozialistische Staatlichkeit „in die gesellschaftliche kommunistische Selbstverwaltung“ umgewandelt werden (ebd.). Der staatliche Zwang, der früher wegen der Unreife des menschlichen Bewußtseins unausweichlich war, soll nun durch die innere Überzeugung der Bürger ersetzt werden. In der kommunistischen Periode entsteht „eine hochorganisierte Gemeinschaft (sodružestvo) arbeitender Menschen“ (ebd.). Um in dieser Gemeinschaft leben und wirken zu können, müssen ihre Mitglieder „allgemein anerkannte Regeln des kommunistischen Gemeinschaftslebens“ schaffen und sie einhalten, doch nicht aus Furcht, sondern aus dem „inneren Bedürfnis“ und der „Gewohnheit aller Menschen“ (ebd.). Das, was früher mehr oder weniger administrativ geregelt wurde, soll nun der freiwilligen Initiative der Bürger überlassen werden. In der Phase des Kommunismus schrumpft die administrative Sphäre immer mehr zusammen, während die Sphäre der inneren Überzeugung und freiwilligen Handlung sich immer mehr erweitert und erstarkt.

Damit aber wächst auch die Bedeutung der ethischen Faktoren. „Beim Übergang zum Kommunismus“, lesen wir im neuesten Programm, „spielen die ethischen Prinzipien im Leben der Gesellschaft eine immer größere Rolle“, und „die Wirkungssphäre des moralischen Faktors erweitert sich“93. Denn eine Menge der rechtlichen Normen verwandeln sich nun in ethische Normen.94 Folglich wird das Bewußtsein der Pflicht zum ausschlaggebenden Faktor in der kommunistischen Periode, also ein wesentlich moralischer Faktor, der durch nichts ersetzt werden kann. Hier liegt der Grund, warum N. Chruščevs Rede auf dem 21. Parteitag so auffallend ethisch gefärbt war. „Um zum Kommunismus ... zu kommen“, sagte Chruščev, „müssen wir schon jetzt den Menschen der Zukunft erziehen“, und zwar auf Grund einer klaren sowjetischen Moral: „Man muß bei den Sowjetmenschen die kommunistische Moral entwickeln“, die ihnen „die Ergebenheit gegenüber dem Kommunismus“, „das Bewußtsein der gesellschaftlichen Pflicht, die aktive Beteiligung an der Arbeit zum Wohle der Gesellschaft, die freiwillige Achtung der Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens, die kameradschaftliche gegenseitige Hilfe, Ehrlichkeit“ und viele andere Tugenden einprägen soll. Man muß „die heranwachsenden Generationen im Geiste der kommunistischen Moral“ erziehen und „keinesfalls in Ruhe abwarten, bis die Überbleibsel des Kapitalismus von allein verschwinden“95. Der Ruf nach der Verbindung des Aufbaus des Kommunismus mit der kommunistischen Moral ist eben das, was die Rede Chruščevs, das spätere Programm der Partei, die Reformen der sowjetischen Erziehung und Bildung und im allgemeinen die ganze Tätigkeit auf dem Gebiete der Formung des neuen Menschen kennzeichnet. Die Phase des Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus ist gleichzeitig der Übergang vom Gesetz zur Ethik, wobei „das große Interesse für das sittliche Ideal“ erwacht, denn dieses Ideal soll ja nun „nicht nur das Bild der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Haltung“ darstellen, sondern zugleich sich auch als „eine überaus aktive Kraft“ erweisen, die allein die zweite Phase im Aufbau des Kommunismus durchsetzen kann.96 Die Verwirklichung des Kommunismus setzt die Entwicklung einer entsprechenden Morallehre voraus, denn die kommunistische Ordnung als Selbstverwaltung der Gemeinschaft ist eine höchst moralische Tat, die nicht „eingeführt“ und durch keinen Fünf- oder Siebenjahresplan verwirklicht werden kann.

61 K. Marx, Die Frühschriften, S. 223.

62 K. Marx, a. a. O., S. 537.

63 K. Marx, a. a. O., S. 222.

64 R. Garaudy, Humanisme marxiste, S. 53.

65 K. Marx, Die Frühschriften, S. 367—369.

66 K. Marx, a. a. O., S. 363.

67 K. Marx, a. a. O., S. 362.

68 J. Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, Stuttgart 1947, S. 61 ; vgl. auch, S. 90-91, 123-124. (Ges. Werke, Bd. III, S. 74; S. 110-111; 151-152.)

69 G. Glesermann, Das Allgemeine und Besondere in der historisdien Entwicklung, im Sammelwerk „Philosophie und Gesellschaft“, hrsg. von W. Pfoh und H. Schulze, Berlin 1958, S. 405.

70 Programma..., a a. O., S. 3; B. Meissner, a. a. O., S. 143.

71 Darüber erzählt M. Buber-Neumann: Lenin erwartete nämlich, daß „die Erhebung in Ostpreußen“ spontan zustande käme, sobald die Rote Armee „die Grenze Ostpreußens erreichen wird“, und dies teilte er der deutschen Delegation (B. Lewi, E. Meyer, W. Löwenhain) mit, die im Jahre 1920 in Moskau am 2. Weltkongreß der Komintern teilnahm. Als die deutsche Delegation „große Augen“ machte und die spontane Erhebung „ausgerechnet in Ostpreußen“ bezweifelte, antwortete Lenin verärgert: „Jedenfalls müssen Sie sich klar darüber sein, daß wir im Zentralkomitee ganz anderer Auffassung sind als Sie.“ Die Rote Armee erreichte tatsächlich die ostpreußische Grenze, betrat „den deutschen Boden“ — und wurde „prompt interniert“ (Margarete Buber-Neumann, Von Potsdam nach Moskau. Stationen eines Irrweges, Stuttgart 1957, S. 81).

72    W. I. Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. I, S. 197.

73    W. I. Lenin, a. a. O., S. 202; vgl. auch S. 274—275.

74    W. I. Lenin, a. a. O., S. 279.

75 Dieser Katechismus ist zugänglich bei M. Bakunin, Social-politischer Briefwechsel, hrsg. von B. Minzès, Stuttgart 1895, S. 572 ff. Hier wird diese Ausgabe zitiert.

76 Vgl. M. Prawdin, Netschajew — von Moskau verschwiegen, Frankfurt/M. 1961.

77 A. Sehischkin, Die Grundlagen der kommunistischen Moral, Berlin 1958, S. 12—13.

78 Darüber informieren: W. Leonhard, Die Revolution entläßt ihre Kinder, Köln 1956, S. 177—275; lg. Lepp, Von Marx zu Christus, S. 210—263.

79 W. I. Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. I, S. 197.

80 W. I. Lenin, a. a. O., Bd. II, S. 999.

81 H. Graf Keyserling, Die neuentstehende Welt, Darmstadt 1926, S. 38 ff.

82  Vgl. Voprosy filosofii, 1956, Nr. 6, S. 163-69; 1957, Nr. 2, S. 175-81.

83  Der Bericht über den indischen Philosophiekongreß 1956, in „Voprosy filosofii“, 1957, Nr. 2, S. 181.

84   W. I. Lenin, Staat und Revolution (1917), Ausgewählte Werke, Bd. II, S. 233.

85 W. I. Lenin, a. a. O., S. 230.

86 W. I. Lenin, a. a. O., S. 229.

87 W. I. Lenin, a. a. O., S. 235.

88 W. I. Lenin, a. a. O., S. 231—32.

89 W. I. Lenin, a. a. O., S. 235.

90  Zit. B. Meissner, Rußland unter Chruschtschow, München 1960, S. 248.

91 Zit. B. Meissner, a. a. O., S. 559.

92 Programma..., S. 109; vgl. B. Meissner, Das Parteiprogramm der KPdSU 1903 bis 1961, S. 220.

93 Programma . . ., S. 119; vgl. B. Meissner, a. a. O., S. 227.

94 Vgl. Voprosy filosofii, 1960, Nr. 6, S. 103.

95 Zit. B. Meissner, Rußland unter Chruschtschow, S. 585.

96 L. M. Archangelskij, O kommunističeskom nravstvennom ideale (Uber das kommunistische sittliche Ideal), in „Voprosy filosofii“, 1961, Nr. 11, S. 126.

 

4. Die Tragweite der sowjetischen Ethik

Welche Bedeutung und Tragweite hat diese bereits entstandene und nun so intensiv geförderte Ethik für den Kommunismus selbst? — Am Anfang dieses Kapitels wurde gesagt, der Marxismus erschien im Unterschied zum Christentum nicht als eine neue Ethik, sondern als eine neue Geschichtsdeutung. Das geschah jedoch nicht deshalb, weil Marx zufälligerweise kein Ethiker, sondern ein Soziologe und Geschichtsphilosoph war. Der Grund des historiosophisehen Charakters des Marxismus liegt viel tiefer, nämlich in seinem Ausgangspunkt selber: den Ausgangspunkt für die marxistische Reflexion bildet nicht der Mensch, sondern die außermenschliche Welt. Die Grundfrage jeder Weltanschauung bestehe, nach dem Marxismus, im „Verhältnis des Denkens zum Sein, des Geistes zur Natur. Was ist das Ursprüngliche, das Primäre: die Natur (das Sein, die Materie) oder der Geist (die Vernunft, das Bewußtsein, die Idee)?“97. Die marxistische Antwort auf diese Frage lautet: das Sein (die Materie, die Natur) ist das Ursprüngliche, das Bewußtsein (der Geist, die Idee) ist das Abgeleitete, oder „eine Eigenschaft der Materie“98. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als haben diese Frage und ihre Beantwortung kaum einen Zusammenhang mit der praktischen

Tätigkeit des Menschen. Die marxistischen Denker betonen dagegen, daß die Lösung dieser ziemlich abstrakten Frage „bestimmte soziale Schlußfolgerungen“ nach sich zieht: „ein bestimmtes Verhältnis der Menschen zur Wirklichkeit, eine bestimmte Auffassung vom gesellschaftlichen Leben, den historischen Aufgaben, Moralprinzipien usw.“99. Das hat schon Marx selber mit dem bekannten Satz, „nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein“100, formuliert und als Grundregel den späteren Generationen der Marxisten vermacht.

Auf das sittliche Gebiet übertragen, bedeutet das, daß Überzeugungen, Sitten, Gewohnheiten, Verhaltensregeln der Menschen von der sozial-wirtschaftlichen Ordnung abhängen und diese Ordnung in sich widerspiegeln. Das ist, nach der marxistischen Terminologie, der ideologische Überbau, der auf der materiellen Basis ruht. Wollen wir diesen Überbau verändern, so müssen wir zuallererst die Basis verändern. Denn „jede Basis hat ihren eigenen, ihr entsprechenden Überbau“101. Für den Prozeß der Befreiung des Menschen aus der Entfremdung hat das weitgehende Konsequenzen. Der neue Mensch oder „der Mensch der Zukunft“ bildet, wie schon erwähnt, das eigentliche Ziel des Kommunismus. „Der Kampf um den Kommunismus ist der Kampf um den Menschen“, sagt A. Šiškin und drückt damit die tiefste Intention der kommunistischen Bewegung aus.102 In diesem Punkt stimmt der Marxismus mit dem Christentum völlig überein. Doch dieser neue Mensch sollte ursprünglich vom Kommunismus nicht dadurch geformt werden, daß man an sein Bewußtsein appelierte, wie das eben das Christentum tat (vgl. Röm. 13, 11—14), sondern dadurch, daß man das objektive Sein oder Leben von Grund auf umgestaltete und es auf das Bewußtsein wirken ließ. Mehr noch: bei der Formung des neuen Menschen stellte sich der Marxismus dem Christentum direkt entgegen.

Die marxistischen Denker geben zu. daß das Christentum „einen tiefen Einfluß auf die Menschen ausgeübt hat“: durch den Glaubensakt verlieh es dem Menschen Kraft und Fähigkeit, „sich sittlich zu vervollkommnen und die erhabenen Vorschriften der christlichen Ethik zu befolgen“103. Geschichtlich jedoch hat sich das Christentum „in den nahezu zweitausend Jahren“ nicht bewährt, denn es hat „an den gesellschaftlichen Zuständen nichts, zum mindesten nichts Wesentliches geändert“104. Hätten die Christen ihre Ethik, derer Erhabenheit von den Marxisten durchaus anerkannt wird (das zeigt das obige Zitat), verwirklicht, so „wäre das Reich Gottes auf

Erden wie ein Dieb über Nacht gekommen“ (ebd.). Das historische Scheitern des Christentums liege jedoch nicht darin, daß es zu wenig Bemühungen um die Verwirklichung seiner Ethik gezeigt hätte. Es wollte aufrichtig „dieses Leben revolutionieren“ (ebd.). Der Grund des Scheitems der christlichen Religion in der Geschichte liege im falschen Ausgangspunkt: das Christentum erstrebte „zunächst eine innere Revolution des Menschen, die sich dann in einer Umgestaltung der Gesellschaft äußern soll“ (ebd.). Eben das war falsch, und eben an der Betonung der Priorität des subjektiven Faktors scheiterte das Christentum.

Nun schlägt der Kommunismus den entgegengesetzten Weg ein, denn „in Wahrheit ist der Weg eines radikalen Fortschritts nicht der von innen nach außen, sondern der umgekehrte“ (ebd.). Rein subjektiv betrachtet, „soll nicht in Abrede gestellt werden“, daß das Christentum „vielen Menschen verholfen hat, sich sittlich zu vervollkommnen“, aber der Mensch als solcher, objektiv betrachtet, ist „der gleiche geblieben“ (ebd.). Jetzt will der Kommunismus den Menschen selbst ändern, und zwar in seiner innersten Struktur, deshalb geht er den umgekehrten Weg als das Christentum: „Wenn man den Menschen bessern will, muß man zunächst die gesellschaftlichen Verhältnisse bessern“ (ebd.). Der Mensch ist doch, wie Marx sagt, „die Welt des Menschen“105, deshalb muß man seine Welt ändern, tun ihn selbst ändern zu können. „In Rußland hat es früher kein elektrisches Licht gegeben“, lesen wir bei dem jungen sowjetischen Schriftsteller J. Ryčëu. „Als das Volk die Leitung des Staates in seine Hände nahm, da sagte Lenin, um möglichst rasch den Kommunismus aufzubauen, . . . müsse überall elektrisches Licht sein. Bei solchem Licht, sprach Lenin, werden die Menschen schneller und besser ihre Unzulänglichkeiten sehen und danach streben, sich von ihnen zu befreien“106. Das ist allerdings ein Sinnbild, aber es will uns deutlich darauf hinweisen, daß die hellere Umwelt des Menschen auch sein Bewußtsein erhellt.

Und fürwahr bauten die Sowjets in ihrem Lande jahrzehntelang das objektive Leben auf mit der Hoffnung, daß aus diesem neuen umorganisierten Sein auch das neue Bewußtsein hervorgehen würde. Selbst A. Makarenko, der als erster die Notwendigkeit der Ethik für die Erziehung bejahte, war der Meinung, das sowjetische Leben forme von selbst den sowjetischen Menschen. „Die kommunistische Erziehung der Millionenmassen des Sowjetvolkes begann mit dem ersten Tage der Revolution“ und erfolgte dann „überall, in unmerklichen Ausdrucksformen . . . während der gesamten grandiosen Praxis des sozialistischen Aufbaus“107. Somit wurde in der Sowjetunion „nicht nur das Kind, nicht nur der Schüler erzogen, sondern jeder Bürger“, und zwar „auf Schritt und Tritt“108. Den sog. indirekten Erziehungsfaktoren wurde in der Sowjetunion die größte Bedeutung beigemessen. „Jede unserer Unternehmungen, jede Aktion und jedes Geschehen in unserem Lande ist nicht nur immer von den speziellen Aufgaben, sondern auch von Erziehungsaufgaben begleitet“ (ebd.). Die indirekten Erziehungslaktoren bekommen in der Sowjetunion eine anthropologische Aufgabe und werden dementsprechend gestaltet.

Das neueste Programm der KP Rußlands enthält auch in diesem Sinne einen aufschlußreichen Hinweis: „Der neue Mensch formt sich durch seine aktive Teilnahme am Aufbau des Kommunismus, durch die Entwicklung der kommunistischen Prinzipien im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben sowie unter dem Einfluß des gesamten Systems der Erziehungsarbeit der Partei, des Staates und der gesellschaftlichen Organisationen“109. Das heißt, das gesamte sowjetische Leben wird als ein System der Erziehungsarbeit betrachtet; als eine Arbeit, die jeder Bereich des objektiven Lebens genauso zu erfüllen hat wie auch seine spezielle Aufgabe. Wirtschaft und Politik, Kunst und Literatur, Philosophie und Wissenschaft sollen nicht nur ihre Sonderwerte — materielle, ästhetische, theoretische — erzeugen, sondern gleichzeitig auch den Menschen kommunistisch formen. Von dieser Pflicht wird kein Bereich des objektiven Lebens der Sowjetunion entbunden.

Das erklärt uns auch die Konflikte, die in den letzten Jahren zwischen der Partei und den Kulturschöpfem entstanden und immer noch nicht ausgeräumt sind. Wegen der Verpflichtung des objektiven Lebens, den neuen Menschen zu erziehen, vollzieht sich jede Schöpfung der sowjetischen Kultur auf zwei Ebenen und wird von zwei Prinzipien regiert: vom speziellen Prinzip des Faches (der Kunst, der Wissenschaft, der Wirtschaft usw.) und vom allgemeinen Prinzip der Erziehung. Daraus entsteht eine Spannung, die wir jetzt auf allen Kulturgebieten mehr oder weniger feststellen. Das Prinzip des Faches verlangt, daß die jeweilige Schöpfung nach den inneren Gesetzen dieses Faches vor sich geht und diese Gesetze im Werk objektiviert. Das Prinzip der Erziehung verlangt dagegen, daß alle Schöpfungen der sowjetischen Kultur die kommunistische Idee auf pädagogische Art und Weise ausdrücken, und zwar so, daß diese Idee eine erzieherische Wirkung auf den Menschen ausüben könnte. Nicht immer aber ist es leicht, diese beiden Forderungen in Einklang zu bringen. Wird das Prinzip der Erziehung stark betont, so leidet darunter das Prinzip des Faches, und es entstehenliterarische, künstlerische, philosophische Werke à la thèse, d. h. ohne inneren Eigenwert. Wird das Prinzip des Faches in den Vordergrund gestellt, so verkümmert der erzieherische Charakter des Werkes, und die Schöpfungen der sowjetischen Künstler, Schriftsteller, Philosophen werden des Indifferentismus, des Objektivismus, der Lebensfremdheit, ja der Unbekümmertheit um den Aufbau des Kommunismus bezichtigt. Sowjetische Kulturschöpfer, vor allem Künstler und Schriftsteller, möchten selbstverständlich dem Prinzip des Faches treu bleiben, ihm allein folgen und es möglichst vollkommen in ihren Werken zur Sprache bringen. Dabei jedoch stoßen sie auf die Wachsamkeit der Partei, die sich besonders um die Formung des neuen Menschen kümmert und allen Gebieten der Kultur eine pädagogische Note aufzwingt. Daraus entstehen die Spannungen und sogar ein offener Kampf, den wir jedoch erst dann richtig verstehen, wenn wir diesen Doppelcharakter der sowjetischen Kultur stets im Auge behalten; einen Charakter, in dem die objektive Seite (das Sein) die deutliche Priorität vor der subjektiven Seite (das Bewußtsein) hat und der deshalb sich normieren und kontrollieren läßt und lassen muß.

Sicher wird damit die Rolle der direkten Erziehungsfaktoren — die der Familie und der Schule — keineswegs verneint oder geschmälert, aber die direkte Einwirkung auf den Menschen, mit dem Ziel einer kommunistischen Erziehung, wird immerhin als Fortsetzung dessen betrachtet, was das objektive und kommunistisch gestaltete Leben von Anfang an begonnen hat. „Die beste Schule der Erziehung und der strengste Lehrmeister“, sagte Chruščev auf dem 21. Parteitag (1959), „ist das Leben, unsere sowjetische Wirklichkeit“110. Derselben Meinung waren vor einigen Jahren auch die westlichen Marxisten, die verkündeten, „die rationelle Organisation des Lebens ist die Voraussetzung jeder sittlichen Wiedergeburt“111.

Doch allmählich kamen auch die Sowjets zur Einsicht, daß das gesellschaftliche Sein allein nicht das kommunistische Bewußtsein hervorzubringen vermag. Das zeigten vor allem die Resultate der letzten Jahrzehnte. Das objektive Leben war in der Sowjetunion während dieser Jahrzehnte überall und für alle dasselbe. Die Menschen jedoch, die von diesem Leben geformt wurden, blieben sehr verschieden. Diese Tatsache mußte jeden tiefer blikkenden Denker von selbst zu der von Ažaev gestellten Frage anregen: „Warum kommen Menschen, die gleichartige Lebensläufe, gleiche Rechte in der Gesellschaft und sogar, nehmen wir an, gleichwertige Begabungen haben, zu verschiedenen Ergebnissen im Leben?“112. Besonders kraß zeigten sich diese Unterschiede in der Zeit des Krieges. Derselbe Ažaev schreibt: „Auch bei uns hier hat es Leute gegeben, darunter Kommunisten, verantwortliche Leiter, die sich nicht geschämt haben, Lebensmittel für ein Jahr und länger zu hamstern“113. Ažaev verurteilt sie selbstverständlich mit aller Schärfe; er hält sie für Feinde, niederträchtige Naturen, die in den kritischen Augenblicken des Lebens „an die Oberfläche gespült werden wie Dreck“ (ebd.). Die Verurteilung erklärt jedoch die Tatsache selbst nicht. Wieso sind diese ,niederträchtigen Naturen“ im Kommunismus nach Jahrzehnten möglich, wenn der Mensch nichts anderes ist als „die Welt des

Menschen“ (Marx)? Das Vorhandensein solcher Naturen ist zwar für den Christen, nicht aber für den Kommunisten verständlich. Indem das Christentum den Menschen als ein gefallenes und sündiges Wesen ansieht, appelliert es an seine innere Bekehrung, d. h. an die subjektive Wandlung des alten Adam, und solange diese Wandlung nicht eintritt, helfen alle Veränderungen des objektiven Lebens kaum etwas: sie verdecken zwar die Sündhaftigkeit des Menschen hie und da, aber sie beseitigen diese Sündhaftigkeit nicht. Deshalb bricht sie jedesmal hervor, wenn das Gefüge des objektiven Lebens, das sie verdeckt hatte, lockerer wird, wie dies im Falle eines Krieges, einer Revolution oder einer wirtschaftlichen Krise geschieht. Im Kommunismus jedoch, der den Menschen „durch das gesamte System umgemodelt und auf den richtigen Platz gestellt“114 zu haben glaubt, fragt man unwillkürlich mit „Gram und Entrüstung“, „woher in der Sowjetgesellschaft solche Leute kommen? Wieso sind sie nicht ausgestorben?“115 Wieso konnten sie ihre „niederträchtige Natur verborgen halten“ und „sie erst im kritischen Augenblick“ offenbaren?116 Das ist wirklich ein Rätsel innerhalb des kommunistischen Gedankensystems.

Lange Jahre konnte dieses Rätsel nicht gelöst werden, denn der Kommunismus, wie dies lg. Lepp bestätigt, wußte „faktisch und prinzipiell nichts von der Existenz einer inneren oder geistigen Größe“; die einzige Größe, die dem Kommunismus von damals verständlich war, „war die prometheische Größe, die ganz auf die gesellschaftliche Aktion ausgerichtet war“: der Kommunismus „erhoffte das Kommen des neuen Menschen als eine logische Konsequenz der Umwandlung der ökonomischen Bedingungen117“. Doch schließlich überzeugten sich die Sowjets, daß die Entstehung dieses neuen Menschen nicht so konsequent aus dem objektiven Leben hervorgeht, wie sie glaubten. In der sowjetischen Literatur erschienen immer mehr Werke, die diese Konsequenz in Frage stellen. In der Komödie „Das seidene Sjusané“ vom uzbekischen Schriftsteller A. Kachar (geb. 1907) sagt Adylov, der Parteisekretär im Kolchos: „Wir säubern die Erde von Salzflecken, aber das alte Salz der Vorurteile, das immer noch in den Menschen steckt, läßt sich nicht so leicht beseitigen.“118 Darauf antwortet Rachmidžan, der Kolchosvorsitzender, der noch die alte Überzeugung vertritt: „Wenn der Boden erneuert wird, werden sich auch die Menschen erneuern“ (ebd.). Doch diesen Optimismus Rachmidžans teilt der Parteisekretär nicht mehr; er spricht selbst mit dem Traktoristen Mavlon, der auf seine eigene Arbeit sehr stolz ist und deshalb die zur Hilfe gekommenen Komsomolzen, „diese Grünschnäbel“, verachtet. Adylov will ihn überzeugen, damit er seine Eigenwilligkeit ablegt, denn auch die von ihm eingebrachten Rekordernten seien doch nur „mit Unterstützung des ganzen Landes“ möglich gewesen (S. 92). Der Appell an das Innere des Menschen ist hier ganz deutlich. Dasselbe lesen wir auch in der Erzählung „In unserer Druckerei“ vom azerbaidžanischen Schriftsteller J. Azim-Zadé (geb. 1917), der eine handelnde Person sagen läßt: „Wir bauen schöne Städte, legen Straßen an, das Leben wird von Tag zu Tag schöner. Bloß uns selbst können wir immer noch nicht umkrempeln.“119 Denn gerade in der Abteilung der Druckerei, die „die Spitze hält“ und den „Plan übererfüllt“, herrscht Unzufriedenheit über die menschlichen Beziehungen zueinander, die „alle Lust und Freude“ nimmt und das Kollektiv seelisch zermürbt. In dieser Abteilung „leben noch Überbleibsel des Alten, Überbleibsel des Kapitalismus“; „gute Arbeit genügt nicht“; „damit ist noch nicht alles getan“; „ein Mensch, der in unserem Lande lebt, muß vor allem und in allem ein sowjetischer Mensch sein“. Deshalb fragt Usta, der Abteilungsleiter, seinen Mitarbeiter Mechti, der mit dem Kollektiv eben unzufrieden ist: „Du hast deine Arbeit umgestellt ... Und dich selbst? ... Ich möchte dich fragen, wann du dich umstellen wirst?“ (ebd.) Sehr aufschlußreiche Sätze! Der Mensch läßt sich nicht durch die schönen Städte und großzügig angelegten Straßen ohne weiteres verändern. Die nach dem Wunsch des Kollektivs umgestellte Arbeit stellt den Arbeiter selbst beileibe noch nicht um.

Nach dieser Einsicht folgte ganz von selbst die logische Schlußfolgerung: der neue kommunistische Mensch geht aus dem kommunistischen System nicht hervor, solange er selbst nicht am Prozeß seiner eigenen Umwandlung aktiv und freiwillig teilnimmt.120 Die Formung des neuen Menschen ist im Grunde die Selbstformung. Das bedeutet, daß der subjektive Faktor als gleichwertig im Prozeß der Formung des Menschen der Zukunft anerkannt werden muß. Diese Anerkennung begann in der Sowjetunion um 1956/57, als im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Kult der Persönlichkeit „die wichtige Frage von der Rolle des subjektiven Faktors im Aufbau der kommunistischen Gesellschaft“121 auftauchte und nach einer Lösung gesucht wurde. Der sowjetische Fachethiker A. Šiškin gab damals offen zu, daß „die historischen Bedingungen (d. h. der objektive Faktor, Vf.) dem Handeln des Menschen zwar bestimmte Grenzen setzen. Im Rahmen dieser Grenze jedoch steht es jedem frei, entweder im Einklang mit den herangereiften Erfordernissen der gesellschaftlichen Entwicklung zu handeln oder im Gegensatz zu diesen; er kann sich entweder den fortgeschrittenen gesellschaftlichen Kräften oder den abgelebten, reaktionären Kräften anschließen“.122 Dasselbe wiederholte auch S. M. Kovalev in seinem Vortrag auf der wissenschaftlichen Konferenz über die Fragen der kommunistischen Moral in Moskau 1957: „In der sozialistischen Gesellschaft wirken starke objektive Tendenzen, die antisoziale Meinungen im Zaum halten. Trotzdem muß die Tätigkeit dieser Tendenzen durch den subjektiven Faktor im ganzen System der kommunistischen Erziehung ergänzt und gestärkt werden.“123 Heute ist die Bedeutung des subjektiven Faktors bei der Formung des neuen Menschen völlig anerkannt, so daß sogar eine Kritik am früheren Vertrauen zu den objektiven Faktoren ausgeübt wird, wobei die Formung des Menschen durch das Leben allein als allzu mechanistisch bezeichnet und eine gewisse Parallele zu dem mechanischen Materialismus, den die Sowjets scharf ablehnen, gezogen wird.124

Allerdings behaupten die sowjetischen Denker, daß auch dieser subjektive Faktor „eine gesetzmäßige Erscheinung“ ist und daß sich die Selbstformung des Menschen ebenfalls in die Geschichte als objektiven Prozeß einordne.125 Die Selbstformung sei durchaus nicht willkürlich, sie verlaufe auch nach den mit Notwendigkeit funktionierenden Gesetzen der Gesellschaft (ebd.). Doch diese Einordnung des subjektiven Faktors in die Geschichte ist etwas anderes als der frühere Glaube an die Formung des Menschen durch die Geschichte. Der subjektive Faktor ist sicher keine Willkür, aber immerhin handelt er selbst und ist imstande, sich der Geschichte sogar zu widersetzen, mag dieser Widerstand auch abgelebt und reaktionär sein. Um jedoch den subjektiven Faktor „im Einklang mit den herangereiften Erfordernissen der gesellschaftlichen Entwicklung“, wie Šiškin sagt, handeln zu lassen, muß man an ihn, d. h. aber an den Menschen als einzelnen, appellieren, sein Bewußtsein bilden, sein Gewissen schärfen, seine Verantwortung stärken, seine Entscheidung für den Kommunismus fördern, mit einem Wort ihn als moralisch freies Wesen erziehen. Somit wird die Ethik zu einer unumgänglichen Kraft bei der Formung des neuen Menschen; zu einer Kraft jedoch, die nicht im objektiven Sein, sondern im subjektiven Bewußtsein wirkt und den Menschen von innen verwandelt, indem sie sein Bewußtsein dem Sein öffnet.

Die Entstehung der Ethik im System der marxistischen Lehre und Praxis bedeutet daher, daß der Mensch als subjektiver Faktor in den Vordergrund des Kommunismus tritt. Gewiß werden die objektiven Faktoren auch weiterhin betont und geschätzt. Die These, das gesellschaftliche Sein bestimme das gesellschaftliche Bewußtsein, hält M. B. Mitin für „die Grundvoraussetzung der marxistischen Philosophie“, die im Kampf gegen den Idealismus in der Auffassung der Gesellschaft auch für die Zukunft unumgänglich bleibt. Doch diese These stellt nur die objektive Seite des kommunistischen Systems dar, das durch die subjektive Seite — „die innere Welt des Menschen“ — vervollständigt werden soll. „In unserer Zeit“, sagt Mitin, entsteht mit aller Kraft die Aufgabe einer allseitigen Erforschung... der geistigen Welt des Menschen“; es entsteht „das Problem der umgekehrten Wirkung des gesellschaftlichen Bewußtseins auf das gesellschaftliche Sein“; ein Problem, das bisher, wie Mitin gesteht, in der sowjetischen Philosophie „unzureichend untersucht wurde“. Man muß nun diesen Mangel beheben und „die geistige Tätigkeit des Menschen, seine innere Welt, Konflikte und Gegensätze dieser Welt unter psychologischem, gnoseologischem, logischem und sozialem Aspekt“ erforschen. „Die gegenwärtige Situation verlangt eine allseitige und tiefgründige Berücksichtigung des Problems der personalen geistigen Welt im Marxismus.“126

Die Anerkennung des Menschen als subjektiven Faktors von gleichem Rang wie der objektive Faktor bedeutet eine große Wendung im Kommunismus, dadurch wird er vor einer verhängnisvollen Einseitigkeit bewahrt. Im Kommunismus geht heute ein ähnlicher Prozeß vor sich wie auch im Christentum, nur in die entgegengesetzte Richtung. Wie das Christentum (in erster Linie die Ostkirche, größtenteils aber auch die katholische Kirche) die Wandlung des objektiven Lebens allzu einseitig von der inneren Wandlung des Menschen (metanoia) erwartete und erst heute diesen Fehler einsieht, und ihn durch die Weltoffenheit zu korrigieren versucht, so bemüht sich auch der Kommunismus, seine ebenso einseitige Erwartung der Wandlung des Menschen von der äußeren Umgestaltung des Lebens durch die Offenheit für die Rolle des subjektiven Bewußtseins zu ergänzen. Die Entstehung der Kulturphilosophie oder der Kulturtheologie im Christentum und der Ethik im Kommunismus ist der konkrete Ausdruck dieser beiderseitigen Wendung. Für den Kommunismus ist diese Wendung besonders kennzeichnend, denn er hat jahrzehntelang den Ausgangspunkt des Christentums scharf kritisiert und abgelehnt; nun ist er zu dem gleichen Ausgangspunkt gekommen wie das Christentum, nämlich: zur inneren Welt des Menschen.

Das bedeutet, daß der Kommunismus mit der Entstehung der Ethik in die entscheidende Phase seiner anthropologischen Praxis eingetreten ist. Das Ziel des Kommunismus ist der neue Mensch. Doch das objektive Lebenssystem, auf das der Kommunismus seine Hoffnung setzte, hat diesen neuen Menschen nicht hervorgebracht. Der Mensch ließ sich nicht von objektiven Faktoren ohne weiteres bis in seine Tiefe formen. Um diesen Widerstand zu überwinden, wurde nun die Ethik geschaffen, die an den Menschen selbst herangebracht werden und ihn für die Wirkung der objektiven Faktoren empfänglich machen soll. Es bleibt abzuwarten, wieweit sich die sowjetische Ethik als fähig erweisen wird, den Menschen von innen anzusprechen und für kommunistische Ziele zu gewinnen. Wird ihr diese Aufgabe gelingen, so wird der neue kommunistische Mensch eine Wirklichkeit sein und die Geschichte der Erde wird dann anders aussehen. Die verwirklichte sowjetische Ethik wird nicht geringere Veränderungen in der Menschheit vollbringen als seinerzeit die christliche Ethik. Gelingt es aber der sowjetischen Ethik nicht, den Menschen von Grund auf umzuformen, so bleibt der Kommunismus auch weiterhin ein System der Gewalt, das mit der Zeit sich immer mehr abnutzt, den ursprünglichen Enthusiasmus für die Revolutionierung des Lebens verliert, immer sichtbarer eine herrschende, privilegierte Klasse hervorbringt und somit von innen, wie jede andere Diktatur, entarten wird. Es scheint also, daß das weitere Schicksal des Kommunismus von seiner eigenen Ethik bestimmt wird. Denn jede Weltanschauung verwirklicht sich im Leben nicht kraft ihrer Ontologie, sondern kraft des Zaubers ihrer Ethik. So war es mit dem Christentum in der antiken Welt, so wird es auch mit dem Kommunismus in unserer Epoche sein.

Ist aber der Kommunismus imstande, den Menschen für seine Ethik so zu begeistern, daß diese zur alltäglichen Verhaltensweise der Gesellschaft wird? Das ist die entscheidende Frage, über die das folgende Kapitel einige Auskünfte geben soll.

97 Grundlagen der marxistischen Philosophie, hrsg. von F. W. Konstantinow a. a., Berlin 1960, S. 12.

98 Grundlagen des Marxismus-Leninismus, hrsg. von O. W. Kuusinen u. a., Berlin 1960, S. 19-20

99 Grundlagen der marxistischen Philosophie, S. 15.

100 K. Marx, Die Frühschriften, S. 349.

101 J. Stalin, Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, Stuttgart 1953, S. 6; vgl. F. W. Konstantinow, Über Basis und Überbau, Berlin 1955, S. 6—12.

102 F. A. Šiškin, Voprosy etiki v trudach Leniną, a. a. O., S. 67.

103 A. Baumgarten, Bemerkungen zur Erkenntnistheorie des dialektischen und historischen Materialismus, Berlin 1957, S. 48.

104 A. Baumgarten, a. a. O., S. 49.

105 K. Marx, Die Frühschriften, S. 208.

106 J. Rytchëu, Die Zeit der Schneeschmelze, in „Sowjetliteratur“, Moskau 1959, Nr. 1, S. 23.

107 A. S. Makarenko, Werke, Bd..V, S. 406.

108 A. S. Makarenko, a. a. O., S. 111.

109 Programma..., S. 117; vgl. B. Meissner, Das Parteiprogramm der KPdSU 1903 bis 1961, S. 225-26.

110   Zit. B. Meissner, Rußland unter Chruschtschow, S. 587.

111   A. Cornu, Essai de critique marxiste, Paris 1951, S. 73; vgl. auch Voprosy filosofii, 1957, Nr. 6, S. 3—4.

112  W. Ashajew, Fern von Moskau, Berlin 1956, S. 233—34.

113  W. Ashajew, a. a. O., S. 55.

114 W. Ashajew, a. a. O., S. 221.

115    W. Ashajew, a. a. O., S. 181.

116 W. Ashajew, a. a. O., S. 55.

117   Ig. Lepp, Von Marx zu Christus, S. 209; vgl. auch S. 349.

118 A. Kachar, Das seidene Sjusané, in „Sowjetliteratur“, 1958, Nr. 8, S. 91 ff.

119 J. Asim-Sadé, In unserer Druckerei, in „Sowjetliteratur“, 1958, Nr. 9, S. 189—93.

120 Vgl. P. E. Krjažev, Kommunizm i ličnostj (Kommunismus und Persönlichkeit, in „Filosofskie nauki (Philos. Wissenschaften)“, Moskau 1962, Nr. 1, S. 35.

121 Der Leitartikel in „Voprosy filosofii“ 1956, Nr. 3, S. 15.

122 A. Šiškin, Nekatorye voprosy teorii kommunističeskoj morali (Einige Fragen der Theorie der kom. Moral) in „Voprosy filosofii“, 1956, Nr. 4, S. 6; deutsch als Beilage zu A. Schischkin, Die Grundlagen der kommunistischen Moral, S. 337—65 (vgl. S. 343).

123 Voprosy filosofii, 1957, Nr. 3, S. 204.

124    Vgl. V. V. Gromakov und A. V. Orlov, Rol subjektivnogo faktora v stroitelstve kommunizma (Die Rolle des subjektiven Faktors im Aufbau des Kommunismus), Moskau 1961.

125    Voprosy filosofii, 1960, Nr. 6, S. 100 ff.

126 M. B. Mitin, Zadači naučnoj raboty v oblasti marksistsko-leninskoj filosofii (Aufgabe der wissenschaftlichen Arbeit auf dem Gebiete der marxistisch-leninistischen Philosophie) in „Voprosy filosofii“, 1962, Nr. 4, S. 139; vgl. auch das Sammelwerk „Kommunizm i ličnostj (Kommunismus und Persönlichkeit)“, hrsg. von D. J. Česnokov, Moskau 1964.

 

II. Die Grundlagen der sowjetischen Ethik

Daß der Mensch sich Gedanken macht über sein Tun, daß er Vorstellungen hat vom Guten und vom Bösen, gehört zu den Urphänomenen des menschlichen Daseins. Sie werden von einer Ethik nicht erfunden, sondern nur entdeckt, anerkannt und begrifflich formuliert. Auch die kommunistische Ethik setzt sie voraus und beurteilt die menschlichen Handlungen nach ihrem Maßstab. Auch sie ist der Ausdruck dieser Vorstellungen, wie sie in der proletarischen Klasse zu finden sind.1 Formal betrachtet, darf man deshalb nicht im Kommunismus einen grundsätzlichen Immoralismus sehen oder seine Ethik „auf einige im Befehlston ausgesprochene Grundsätze“2 zurückführen, als ob der Kommunismus keinen Unterschied zwischen Gut und Böse kenne oder dieser Unterschied für ihn eine Willkür sei. Das Ideal des neuen Menschen, das heute sogar vom offiziellen Programm der kommunistischen Partei verkündet und inhaltlich umrissen wird, und die großangelegte Bemühung, dieses Ideal zu verwirklichen, zeigen uns eindeutig, daß der Kommunismus seine eigenen ethischen Normen besitzt und sich deshalb vom Immoralismus wesentlich unterscheidet. Mit Recht nannte Lenin die alte Beschuldigung, die Kommunisten verneinen jede Moral, „die Methode, die Begriffe zu verwirren“3.

Doch auch Lenin mußte zugeben, daß die Kommunisten die Moral in dem Sinne verneinen, „in dem die Bourgeoisie sie predigt“ (ebd.). Das heißt, der Kommunismus besitzt zwar eine Moral, doch sie ist nicht mehr die der Bourgeoisie. Die kommunistische Revolution bedeutet „einen radikalen Bruch“ nicht nur mit der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung der Vergangenheit, sondern zugleich auch „mit der Moral der alten Gesellschaft“4. Damit wird „eine neue Epoche im Verhalten des Menschen“ eingeleitet.5 Gewiß übernimmt diese Epoche das Beste der Moral der Vergangenheit. Wie überall, so will auch auf dem Gebiete der Ethik der Kommunismus als Erbe auftreten, als Vollender dessen, was in der Vergangenheit zwar verkündet, aber nicht verwirklicht worden ist. Statt die früheren ethischen Wünsche und Träume der Menschheit zu verwerfen, „nimmt der marxistische Sozialismus die großen moralischen Erkenntnisse der Propheten, Weisen und Philosophen der Vergangenheit in sich auf und gibt ihnen einen neuen Sinn. Sein einziges moralisches Ziel ist die Verwirklichung des Wunsches, daß die Menschen ein erfülltes Leben führen“6.

Bei diesem stark betonten Zusammenhang der kommunistischen Moral mit der Ethik der Vergangenheit dürfen wir jedoch nicht einen Satz H. Selsams überhören, nämlich: der Sozialismus gibt all den alten ethischen Erkenntnissen „einen neuen Sinn“ (ebd.). Wie der kommunistische Mensch an sich ein neuer Mensch ist, so soll auch sein Verhalten neu sein; so neu, daß Makarenko sogar verlangte, die kommunistische Ethik müsse „andere Entwicklungslinien, vollkommen neue Normen und eine neue Terminologie haben“; der Trennungsstrich zwischen ,gut‘ und ,schlecht' müsse bei den Kommunisten „absolut neu gezogen werden“; selbst „die gleichnamigen Tugenden“, die sowohl in der alten Gesellschaft als auch im Kommunismus gelten, seien „ihrem Wesen nach völlig verschiedene Erscheinungen“7. Die frühere Ehrlichkeit und „die kommunistische Ehrlichkeit sind grundsätzlich verschiedene Dinge“; die Persönlichkeit in der kommunistischen Gesellschaft ist „durchaus nicht das, was die Persönlichkeit in der Klassengesellschaft“ war (a. a. O., S. 429). Der französische marxistische Denker J. Kanapa ergänzt Makarenko, indem er sagt, „selbst die Liebe, selbst der Tod haben ihren Sinn (im Kommunismus, Vf.) geändert“8.

Vor allem hat sich die Motivation der Handlungen verwandelt. Der Diebstahl wird, zum Beispiel, als eine verwerfliche Handlung sowohl in der Bourgeoisie als auch im Kommunismus betrachtet und geahndet. Doch der Grund des ethischen Unwertes dieser Handlung ist ganz verschieden. Nach der bürgerlichen Morallehre wird der Diebstahl verurteilt, weil er das grundsätzlich geschützte Privateigentum verletzt, das als natürliches Recht jedem zugestanden wird und deshalb nicht angetastet werden darf. Dagegen beurteilt die kommunistische Ethik den Diebstahl als Verstoß gegen die Idee des kollektiven Eigentums, das viel strenger geschützt sein soll9: die Sowjetunion ist der einzige europäische Staat, in dem Verstöße gegen das Staatseigentum mit dem Tode bestraft werden. Und so ist es nicht nur mit Lastern und Verbrechen, sondern auch mit Tugenden und guten Taten. Sie alle haben eine neue Begründung und Deutung bekommen. Sie haben wohl dieselben Namen behalten, wie J. Kanapa bemerkt, doch ihr Inhalt ist nicht mehr derselbe.10 Das ganze menschliche Dasein wird im Kommunismus in eine andere Richtung gelenkt, deshalb muß auch die Moral von Grund auf anders sein sowohl in ihrer Stellung im Leben als auch in ihren Normen und Eigenschaften. Das sittliche Verhalten des Menschen erfährt in der kommunistischen Moral „eine neue, höhere Entwicklung“11.

1   Vgl. M. Z. Selektor, Pravo i nravstvennostj (Recht und Sittlichkeit) in „Voprosy filosofii“, 1954, Nr. 2, S. 72.

2   S. Tyzkiewics, Die sowjetische Moral, S. 75.

3 W. I. Lenin, Rede ..., S. 66

4 A. F. Schischkin, Die bürgerliche Moral — Waffe der imperialistischen Reaktion, Berlin 1952, S. 108; vgl. auch S. 84—85.

5 A. S. Makarenko, Werke, Bd. V, S. 452.

6  H. Selsam, Sozialismus und Ethik, Berlin 1955, S. 16.

7   A. S. Makarenko, a. a. O., S. 427—428.

8   J. Kanapa, Situation de l’intellectuel, Paris 1957, S. 231.

9  Dieses Beispiel analysiert M. P. Kareva, Pravo i nravstvennostj v socialističeskom obščestve (Recht und Sittlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft), Moskau 1951.

10 Vgl. J. Kanapa, a. a. O., S. 233, 235.

11  A. F. Schischkin, Die bürgerliche Moral..., S. 108; vgl. Chruščevs Rede auf dem 21. Parteitag: „Der Sozialismus setzt eine neue Moral durch“ (Zit. B. Meissner, Rußland unter Chruschtschow, S. 585).

 

1. Die Stellung der Moral im Dasein

Das erste, was sich in der kommunistischen Moral als einer Moral des neuen Typus im Sinne des sittlichen Verhaltens des Menschen geändert hat, ist ihre Stellung im Dasein. Wenn wir die Stellung der Moral im christlichen Leben betrachten, so können wir, ohne auf einen besonderen Widerspruch zu stoßen, behaupten: als die Begründung des Wertes der Person nimmt die Moral im christlichen Dasein die höchste Stellung ein. Ob der Mensch begabt oder unbegabt, ein Künstler, ein Wissenschaftler, ein Politiker, ein Handwerker ist, — diese Qualitäten bestimmen seinen Wert als Person nicht. Der ethische Maßstab ist der einzige, der diesen Wert bejaht oder verneint. Die sittlichen Werte stehen im Christentum höher als die ästhetischen und theoretischen, geschweige denn die ökonomischen oder technischen. Das Christentum läßt es nicht zu, daß der Mensch als Person anders als ethisch geschätzt wird. Der ethische Wert trägt immer einen personalen Charakter und steht somit auf der höchsten Stufe des Sollens, weil die Person auf der höchsten Stufe des Seins steht.

Nun hat diese Rangordnung im Kommunismus ihren Sinn verloren. Sie wurde nicht einfach umgestülpt, indem man die ökonomischen Werte an die erste Stelle setzte, sondern sie wurde überhaupt ausgehöhlt, indem man der Moral eine ganz andere Stellung im Dasein des Menschen zuwies.

Was ist Moral nach der kommunistischen Auffassung? — In allen marxistischen Werken, die sich mit ethischen Fragen beschäftigen, finden wir eine erstaunlich einheitliche Definition der Moral: die Moral ist eine Form des gesellschaftlichen Bewußtseins.12 Diese Definition geht auf die Auffassung Marxens zurück, die Moral sei eine der Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Bewußtseins, das vom gesellschaftlichen Sein geprägt wird. Betrachten wir aber diese Definition etwas genauer, so stellen wir mit einem gewissen Erstaunen fest, daß sie nur eines aussagt, nämlich, zu welchem Bereich die Moral gehört, und zwar zum gesellschaftlichen Bewußtsein. Zu diesem Bereich aber gehören auch eine Reihe anderer Erscheinungen. Nach der marxistischen Auffassung sind Philosophie, Kunst, Religion, Wissenschaft, Recht, Politik ebenfalls Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins.13 Das gesellschaftliche Bewußtsein bildet somit nur die nächste Gattung oder den Oberbegriff (genus proximum) für die Moral. Wodurch unterscheidet sich aber die Moral von den anderen Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins? Was bildet ihr präzisierendes Merkmal (differentia specifica)? Anders gesagt, worin besteht jene besondere Eigentümlichkeit, die eine Form des gesellschaftlichen Bewußtseins in Moral verwandelt?

Auf diese so wichtige Frage finden wir in der marxistischen ethischen Literatur keine genaue Antwort, sondern nur ziemlich vage Beschreibungen.

H. Boeck, ein deutscher kommunistischer Denker, sieht „die Eigentümlichkeit der Moral“ darin, daß sie „die Gesamtheit der Normen des Verhaltens“ umfaßt und daß die Einhaltung dieser Normen „von den einzelnen Menschen verlangt wird“14. Nach A. Cornu, einem französischen kommunistischen Denker, ist die Moral mit der Religion und dem Recht in dem Sinne verwandt, daß sie „ein gemeinsames Objekt haben“, nämlich: die Festsetzung der Regeln des Verhaltens. Während aber die Religion sich bei der Fixierung der Normen auf die jenseitige Welt beruft und das Recht sich dabei auf das Gesetz und somit auf den äußeren Zwang stützt, appelliert die Moral an das Gewissen des Menschen und an die Beurteilung durch die Gesellschaft.15 A. Šiškin, der bekannteste Ethiker der Sowjetunion, versteht „unter Moral die Sitten und Gewohnheiten“, die „bestimmte Beziehungen zwischen den Menschen in ihrem tagtäglichen Verkehr ausdrücken“. Diese Sitten und Gewohnheiten werden jedoch von der Gesellschaft als „erhobene Forderungen an das Verhalten des Individuums“ angesehen.16 Wenn wir diese Beschreibungen genauer untersuchen, finden wir in ihnen zwei Elemente: ein gewisses Verhalten des Menschen in der Gemeinschaft und eine innermenschliche Verpflichtung des Individuums zu diesem Verhalten. Das bedeutet, daß die Moral eine solche Form des gesellschaftlichen Bewußtseins darstellt, aus der das Verhalten des Menschen zum Mitmenschen hervorgeht. Das ist nicht das Verhalten des Menschen zur Naturwelt, denn der Mensch ist ja der Herr der Natur; es ist auch nicht das Verhalten des Menschen zu sich selbst, denn „der Mensch, isoliert, außerhalb der gesellschaftlichen Beziehungen betrachtet, kann keinerlei Normen des Verhaltens besitzen“17; es ist auch nicht das Verhalten des Menschen zu Gott, denn Gott existiert überhaupt nicht. Die Moral ist ausschließlich ein Verhalten zum Mitmenschen. Doch dieses Verhalten wird vom Individuum nicht durch etwas, was außerhalb der innermenschlichen Sphäre existiert, erzwungen: weder durch das jenseitige Gesetz Gottes wie in der Religion, noch durch die staatliche Gewalt wie im Recht. Die Religion und das Recht unterscheiden sich von der Moral eben dadurch, daß sie ihren Verpflichtungsgrund außerhalb der innermenschlichen Sphäre haben. Die moralische

Verpflichtung allein wurzelt in der inneren Sphäre des Menschen, nämlich: in seinem Gewissen. Wenn wir nun diese zwei Elemente logisch zusammenfügen, können wir die oben gegebene, aber unvollständige marxistische Definition der Moral folgendermaßen ergänzen: die Moral ist diejenige Form des gesellschaftlichen Bewußtseins, die das im Gewissen verpflichtende Verhalten des Menschen zum Mitmenschen widerspiegelt. Die Verpflichtung im Gewissen ist also das Spezifikum der Moral im Vergleich zu allen anderen Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins, wie Religion, Recht, Philosophie, Kunst, Politik usw.

Und doch ist es sehr aufschlußreich, daß die marxistischen Ethiker zuallererst und beinahe ausschließlich von der Moral als Form des gesellschaftlichen Bewußtseins sprechen, ohne das unterscheidende Merkmal dieser Form — die Verpflichtung im Gewissen des einzelnen — herauszuarbeiten. Das geschieht nicht zufällig: die besondere Hervorhebung des gesellschaftlichen Bestandteiles der Moral wird eben durch derer Stellung im kommunistischen Dasein verursacht.

Das gesellschaftliche Bewußtsein wird, nach der Lehre des historischen Materialismus, vom gesellschaftlichen Sein bestimmt. Das gesellschaftliche Bewußtsein ist nur die Widerspiegelung dessen, was im gesellschaftlichen Sein vor sich geht: „das Prisma der sozialen Verhältnisse“, wie A. Šiškin anschaulich sagt.18 Konsequenterweise ist auch die Moral nur eine der Formen dieser Widerspiegelung. Sie hat wohl den verpflichtenden, d. h. normativen Charakter in bezug auf das Individuum als Träger des gesellschaftlichen Bewußtseins, nicht aber in bezug auf die Gesellschaft als Ausdruck des gesellschaftlichen Seins. „Die marxistische Ethik“, sagt Šiškin, „diktiert keine Normen, sondern leitet diese aus dem gesellschaftlichen Sein des Menschen ab“ (S. 341). Das heißt: die kommunistische Ethik regelt das gesellschaftliche Sein nicht, wie dies die christliche Ethik will, sondern sie paßt nur auf, daß das gesellschaftliche Sein vom gesellschaftlichen Bewußtsein richtig wiedergespiegelt wird. Dem gesellschaftlichen Sein kann der Mensch keine Regeln vorschreiben; es entwickelt sich nach seinen immanenten Gesetzen, die der Mensch nur erkennt, um sein eigenes Verhalten dann nach dieser Erkenntnis zu richten. Dabei jedoch kann der Mensch falsch handeln: entweder aus der unvollkommenen Einsicht in die Gesetzmäßigkeit des gesellschaftlichen Seins oder aus dem mangelnden Willen, dieser Gesetzmäßigkeit in seinem subjektiven Verhalten zu folgen. In den beiden Fällen ist die Aufgabe der Ethik, darüber zu wachen, daß derartig falsche Widerspiegelung des gesellschaftlichen Seins im gesellschaftlichen Bewußtsein nicht eintritt. Die marxistische Ethik behält somit zwar den normativen Charakter, aber ihre normierende Macht erstreckt sich nur auf das Bewußtsein des Individuums, nicht aber auf das Sein der Gesellschaft. Nicht die Ethik schafft reale Verhältnisse unter den Menschen; sie findet sie vor, formuliert sie in gewissen Regeln und bemüht sich darum, daß diese Regeln als Widerspiegelung der sozialen Verhältnisse vom Einzelnen eingehalten werden.

Wovon hängen aber die Verhältnisse unter den Menschen im gesellschaftlichen Sein ab? Die Beantwortung dieser Frage ist von entscheidender Bedeutung. Denn wir werden die eigentümliche Stellung der marxistischen Moral im Dasein erst dann verstehen, wenn wir den letzten Grund der sozialen Verhältnisse, in denen die Moral wurzelt, entdecken. Die marxistische Antwort darauf ist ganz eindeutig: das gesellschaftliche Sein samt seinen Erscheinungen und Formen hängt vom ökonomischen Sein ab. Die menschliche Gesellschaft gestaltet sich so, wie sie ihr ökonomisches Leben erzeugt. Die Form der Produktion bestimmt auch die Form der Gesellschaft. Deshalb werden auch alle Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins von dem ökonomischen Sein geprägt. Philosophie, Religion, Recht, Kunst, Politik und auch Moral spiegeln nichts anderes wider als die entsprechenden Formen der Produktion einer gegebenen Epoche. A. Šiškin beteuert das in bezug auf die Moral ganz deutlich: „Die Quelle der sittlichen Anschauungen der Menschen ist die ökonomische Ordnung der Gesellschaft“ (S. 7). Man kann „die Moralerscheinungen einer Gesellschaft nicht verstehen, wenn man nicht die Ökonomie der betreffenden Gesellschaft erforscht hat“ (S. 9). Vor Marx leitete man die Moral von den verschiedenen Prinzipien ab: vom Gesetze Gottes, von der absoluten Idee, vom kategorischen Imperativ, von der ewigen Natur des Menschen usw. Marx habe aber eingesehen, daß die einzige richtige Quelle, aus der die Moral entsteht, „die Bedingungen des materiellen Lebens der Gesellschaft“ sind (S. 5). Die Moral als solche ist zwar nicht materiell: sie gehört zum geistigen Bereich. Aber sie entsteht aus der materiellen Grundlage des Lebens und wird von dieser Grundlage bestimmt. Wie die Produktion materieller Güter einer Gesellschaft ist, so ist auch ihre Moral. Da es in der Geschichte verschiedene Produktionsformen gegeben hat, so hat es auch verschiedene Moralen gegeben. Nach der marxistischen Überzeugung gibt es keine einheitliche und universale Moral. Die Moral ist jeweils kennzeichnend für die bestehende Form der Produktion. Erst dann, wenn die ganze Menschheit eine einzige, nämlich die kollektivkommunistische Produktionsform sich aneignen wird, wird auch die einheitliche, die universale Moral entstehen.19

Die Produktion wirtschaftlicher Güter nennt man im historischen Materialismus die Basis und alles andere, was auf dieser Basis errichtet wird, den Überbau. Die Basis trägt den Überbau und spiegelt sich in diesem wider. Wenn heute die marxistischen Denker auch nicht ganz darüber einig sind, was zum Überbau eigentlich gehört20, so stimmen sie jedoch in einem Punkt völlig überein, daß die Moral einen Bestandteil des Überbaus bildet. „Wie die philosophischen, politischen, künstlerischen und religiösen Anschauungen, tragen auch die sittlichen Ansichten der Menschen Überbaucharakter.“21 Das ist durchaus logisch, denn: spiegelt die Moral die Verhältnisse der Menschen untereinander wider und werden diese Verhältnisse durch die Produktion bestimmt, so ist es ganz deutlich, daß die Moral aus der Produktion erwächst und somit wesentlich zum Überbau gehört. Die Moral bildet im Kommunismus kein Fundament des Daseins. Ihre Selbständigkeit, die in der Wertphilosophie so stark betont wird (M. Scheler, N. Hartmann), sei nur ein Schein22: die Moral sei etwas Abgeleitetes und Sekundäres, denn das Ursprüngliche und Primäre ist doch die ökonomische Produktion, die die Moral erzeugt, gestaltet und trägt, solange sie selbst am Leben bleibt. Wird die ökonomische Basis geändert, so ändert sich auch die Moral. Konsequenterweise habe die Moral, wie dies H. Selsam, ein amerikanischer marxistischer Denker, hervorhebt, keine eigene Geschichte und keine eigene Entwicklung; sie sei nur die Folgeerscheinung der ökonomischen Geschichte und der ökonomischen Entwicklung (ebd.). Die Moral ist kein Grundwert mehr.

Das Sittliche, das im Christentum gerade den Maßstab der Person bildet, wird im Kommunismus an die zweite Stelle gerückt: die erste Stelle nimmt hier das ökonomische ein. Die Umkehrung der Werte liegt deutlich auf der Hand. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Moral dadurch entmachtet wird. Sie behält ihre gestaltende Kraft auch im Kommunismus. „Die Moral fördert ihre Basis aktiv, sie hilft ihr, ihre bestimmte Form anzunehmen und sich zu festigen.“23 Die bürgerliche Moral stand jahrhundertelang im Dienst der bürgerlichen Produktionsform und half ihr, den Menschen dieser Form zu unterwerfen. Nun tut das gleiche auch die kommunistische Moral. „Die Moral der Sowjetmenschen“, sagt Šiškin, „ist ein machtvoller Faktor, der die sozialistische Gesellschaft festigt und ihren Vormarsch beschleunigt" (ebd.). Die Moral wird zum Mittel im Kampf um den Kommunismus. In diesem Sinne wird sie gefördert und entwickelt. Einen Eigenwert besitzt sie jedoch nicht. Die Autonomie der Moral geht im Kommunismus vollständig verloren.

12 So definieren die Moral: H. Boeck, Zur marxistischen Ethik und sozialistischen Moral, Berlin 1959, S. 9; A. Cornu, Essai de critique marxiste, Paris 1951, S. 60; M. S. Danielan, Nekatory voprossy marksistsko—leninskoj etiki (Einige Fragen der marxistischen leninschen Ethik), Erevan 1962, S. 9; E. G. Fedorenko, Kommuni-stičeskaja nravstvennostj (Die kommunistisdie Sittlichkeit), Kiev 1958, S. 97; V. Kelle — M. Kovalzon, Formy obščestvennogo soznanija (Formen des gesell-schafüichen Bewußtseins), Moskau 1959, S. 97 ; A. F. Schischkin, Die bürgerliche Moral..., S. 9; A. Schischkin, Die Grundlagen der kommunistischen Moral, S. 6.

13  Vgl. V. Kelle — M. Kovalzon, Formy obščestvennogo soznanija (Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins), S. 28—29.

14  H. Boeck, Zur marxistischen Ethik und sozialistischen Moral, S. 9.

15  A. Comu, Essai de critique marxiste, S. 54.

16 A. Schischkin, die Grundlagen der kommunistischen Moral, S. 6—7.

17 A. Schischkin, a.a.O., S. 341; vgl. G. Plechanov: „Robinson auf seiner Insel brauchte keine Moral“ (Bd. V, S. 488) ; W. I. Lenin : „Es gibt keine Sittlichkeit außerhalb der menschlichen Gesellschaft“ (Über die Religion, S. 67).

18    A. Schischkin, a. a. O., S. 9.

19 A. F. Schischkin, Die bürgerliche Moral..., S. 21, 112, 131 ff.

20 Früher waren der Überbau und die gesamte geistige Kultur ein und dasselbe. Deshalb sagte K. Marx, die materielle Produktion bestimme jede „geistige Produktion“ (Die Frühschriften, S. 348). Im Jahre 1950 wurde diese Gleichsetzung jedoch fraglich, als Stalin die Sprache (gegen die Auffassung von N. J. Marr) aus dem Überbau löste und somit eine gewisse Zwischenschicht, die weder Basis noch Überbau ist, schuf (vgl. J. Stalin, Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, Stuttgart 1953, S. 5—13). Denn die Sprache kann doch nicht der Basis, d. h. der ökonomischen Produktion angehören. Das bedeutet, daß der Überbau und die geistige Kultur nicht ein und dasselbe ist. Es gibt geistige Schöpfungen des Menschen, die eine Basis überdauern und deshalb von der folgenden Basis geerbt werden können. Dabei jedoch entsteht sofort die Frage: Welche geistigen Schöpfungen überdauern eine Basis? Die Sprache zweifellos. Aber die Kunst, die Literatur, die Rechtsnormen, die Wissenschaft, die Religion? Die Naturwissenschaften werden heute ebenfalls aus dem Überbau gelöst (vgl. G. Klaus, Jesuiten, Gott, Materie, Berlin 1957, S. 120—129). Auch die Kunst wird langsam als Erbe in das kommunistische Lebenssystem eingegliedert (vgl. Literatumaja Gazeta, 1958, Nr. 9, S. 1). Somit wird der Begriff des Überbaus stark verunklärt und sogar erschüttert: seit Stalins Schrift herrscht in diesem Punkt des historischen Materialismus eine spürbare Verwirrung.

21    A. Schischkin, Die Grundlagen der kommunistischen Moral, S. 7; vgl. H. Boeck, a.a.O., S. 27—30; H. Selsam, Sozialismus und Ethik, S. 89; A. Cornu, a. a. O., S. 72-73.

22    Vgl. H. Selsam, a. a. O., S. 89.

23    A. Schischkin, a. a. O., S. 8.

 

 

2. Kritik der traditionellen Moral

Jede Moral — auch die kommunistische —, wenn sie als Moral gelten soll, muß verpflichtenden Charakters sein, und zwar nicht von außen in der Form des Gesetzes, hinter dem die staatliche Gewalt steht, sondern von innen als Gebot des Gewissens. Um aber den Menschen im Gewissen verpflichten zu können, muß die Moral sich auf etwas Höheres berufen, auf ein Prinzip, das mehr ist als der einzelne. Denn das Gewissen ist — auch nach der kommunistischen Auffassung — der Ausdruck oder die Stimme nicht der subjektiven Willkür des Individuums, sondern gerade jenes höheren Prinzips, das in uns spricht und uns mahnt, wenn wir gegen seine Forderungen verstoßen. Wo findet aber der Kommunismus dieses höhere Prinzip, das er in seiner Ethik verpflichtend zu uns reden läßt? Diese Frage ist deshalb wichtig, weil die kommunistische Ethik alle bisherige Begründung der Moral ablehnt. Die traditionelle Ethik, wie sie aus dem antiken Denken, dem Christentum und der neueren Philosophie erwuchs, begründete die Verpflichtung des Menschen zum sittlichen Verhalten nacheinander mit vier Prinzipien: mit Gott, mit der menschlichen Natur, dem kategorischen Imperativ und schließlich dem Reich der Werte. Keines dieser Prinzipien wird von der sowjetischen Ethik anerkannt. Ein kurzer Überblick über die sowjetische Kritik an der traditionellen Ethik kann uns als Vertiefung der marxistischen Begründung der Moral von Nutzen sein, denn in dieser Kritik spricht die Eigentümlichkeit der sowjetischen Ethik besonders deutlich.

Zu allererst und am schärfsten verwirft der Kommunismus die religiöse Begründung sittlicher Handlungen des Menschen, obwohl diese Begründung als Herleitung aus der Existenz Gottes von vorneherein einleuchtend ist. Gibt es einen Gott, der als Schöpfer und Erhalter des Seienden verstanden wird; hat sich Gott dem Menschen geoffenbart und seinen Willen kundgetan, so gelten die Schöpfungsordnung und das Offenbarungswort selbstverständlich als die höchste und endgültige Norm menschlichen Verhaltens. Deshalb ist die religiöse Begründung der Moral so alt wie die Menschheit selbst. Da es in der Geschichte kein Volk, keine soziale Gruppe, allgemein gesprochen, ohne Religion gibt, so gibt es auch keine Moral, die nicht in der Religion gründete. Im Christentum erreicht die religiöse Begründung des sittlichen Verhaltens die höchste Stufe, weil Christus mit seinem Wort „seid vollkommen wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Mt. 5, 48) Gott als Vorbild für den Menschen hingestellt hat. Die Nachfolge des menschgewordenen Gottes ist im Christentum der vollkommenste Ausdruck der Sittlichkeit, und die Offenbarung Gottes in Christus ist die Quelle des sittlichen Lebens.

All das lehnt der Kommunismus entschieden ab. Er verneint jede Moral, die ihre Normen „aus den Geboten Gottes“ ableitet. „Jede solche Sittlichkeit“, sagt Lenin, „die aus einem übernatürlichen, klassenlosen Begriff abgeleitet wird, lehnen wir ab. Wir sagen, daß das ein Betrug ist, daß das ein Schwindel ist, eine Verkleisterung der Hirne der Arbeiter und Bauern im Interesse der Gutsbesitzer und Kapitalisten.“24 Diese scharf polemische Ablehnung ist jedoch nur eine logische Konsequenz aus der gesamten marxistischen Deutung der Welt. Wenn es nach der dialektisch-materialistischen Interpretation des Seins keinen Gott gibt, wenn Gott nur eine falsche Projektion des menschlichen Wesens ist, so stellt die Religion einen Irrtum dar, und jede in diesem Irrtum verankerte Moral erweist sich dadurch als Selbstbetrug: der Mensch fühlt sich von etwas verpflichtet, was überhaupt nicht existiert. Die religiös begründete Moral ist in diesem Fall eine absolut heteronome Moral; d. h. eine solche Moral, die uns einem fremden Willen unterwirft. Wir glauben, dieser Wille sei göttlich, in Wirklichkeit aber ist er nur der Wille der Menschen, die im Gewand der Priester, der Propheten, der Magier auftreten und im Namen eines nicht existierenden Gottes reden. Indem wir unser Gewissen Gott unterwerfen, ergeben wir uns innerlich den Menschen und verlieren deswegen uns selbst. Die religiöse Moral ist der sicherste Weg zur Entfremdung des Menschen. Die Befreiung des Menschen von der Entfremdung bedeutet konkret seine Befreiung von der religiös fundierten Moral.25

Aus diesem Grunde wird der sowjetische Kampf gegen die religiöse Moral von Jahr zu Jahr immer mehr intensiviert und vertieft. Es erscheinen immer mehr Werke, die diese Moral der Kritik unterziehen und ihre Unvereinbarkeit mit der kommunistischen Moral zu beweisen suchen.26 Diese letzte Aufgabe wird im Kommunismus heute besonders aktuell, denn die Verteidiger der Religion im Ostblock bemühen sich gerade um die Aufklärung über die Übereinstimmung des sittlichen Ideals des Christentums mit dem des Kommunismus.27 Die Verneinung dieser Übereinstimmung, ja die Betonung der Gegensätzlichkeit dieser zwei ethischen Systeme bildet deshalb eine der Grundtendenzen der sowjetischen Kritik an der religiösen Moral. Auch die Methode der Kritik wird verbessert. Lange Jahre wurde die religiöse Moral in erster Linie auf die Weise angegriffen, daß man auf konkrete Verstöße gegen diese Moral im Leben der Geistlichen und Gläubigen mit aller Schärfe hinwies. Jetzt begreift man jedoch, daß die Verurteilung jener, die der christlichen Moral nicht folgen, die beste Apologie dieser Moral ist. Es gibt ja viele Verstöße auch gegen die kommunistische Moral, und zwar unter den Parteimitgliedern selbst, was die sowjetische Presse durchaus nicht leugnet, ohne daß damit die marxistische Moral als solche zu Fall gebracht würde. Warum soll es mit der christlichen Moral anders sein? Diese methodisch-logische Inkonsequenz wird heute immer mehr eingesehen und die Methode der bisherigen Kritik immer öfter als unzureichend kritisiert.28 Man geht heute immer mehr zu einer gründlicheren Kritik der Grundsätze und Ideale der religiösen Moral über, indem man den Unterschied, ja den Widerspruch von Christentum und Kommunismus klarer als bisher herausstellt.

Kurz zusammengefaßt lauten die wesentlichen Einwände der sowjetischen Kritik an der religiösen Moral folgendermaßen:29

1.    Das zentrale Objekt der Kritik an der religiösen Ethik ist ihre Auffassung vom Guten und Bösen. Während die marxistische Ethik die Begriffe des Guten und Bösen als menschlich-historische Kategorien betrachtet und sie somit für veränderlich hält, verlegt die religiöse Ethik diese Begriffe in die Beziehung des Geschöpfes zu Gott und entzieht sie dadurch dem historischen Zugriff des Menschen. Die Überwindung des Bösen wird bis zum Ende der Zeiten hinausgeschoben und auf den unmittelbaren Eingriff Gottes zurückgeführt. Daraus entsteht eine pessimistische Einstellung zum sittlichen Fortschritt der Menschheit.

2.    Die schöpferische Umgestaltung der Welt wird von der religiösen Moral nicht gefördert; mehr noch: das Materielle und das Leibliche werden gering geschätzt, ja verachtet, das irdische Glück als trügerisch bezeichnet. Das stellt man vor allem an der ostkirchlichen Christenheit fest. Die bewußte Hinwendung des heutigen westlichen Christentums zur Welt wird als Taktik im Kampf gegen den Erfolg des Kommunismus empfunden, die die grundsätzliche Weltfremdheit der religiösen Moral wohl verdeckt, aber nicht beseitigt.

3.    Die Betonung des Heils der individuellen Seele als des höchsten Zieles des Lebens, dem alles andere unterworfen sein soll, verleiht der religiösen Moral einen wesentlich subjektiven, ja auch egoistischen Charakter, und entfernt den einzelnen stark von der Gesellschaft. Die Normen der religiösen Moral sind immer nach den Interessen des Individuums und nicht nach denen der Gesellschaft zugeschnitten. Sogar das Gebot der Nächstenliebe hat als Maßstab die Selbstliebe.

4.    Lehre und Praxis der Überwindung des Bösen durch das Leiden macht aus der religiösen Moral eine passive Haltung gegenüber dem Unrecht, lähmt den sozialen Kampf der Menschheit und fördert somit die Ausbeutung der Entrechteten.

5.    Das Walten der göttlichen Vorsehung in der Natur und in der Geschichte schwächt die menschliche Verantwortung und hebt seine Freiheit auf: der Mensch fühlt sich bei seiner kulturellen und sozialen Tätigkeit vom göttlichen Plan gehindert, den er überall zu sehen glaubt. Die Unsicherheit und Ängstlichkeit gläubiger Wissenschaftler, mutige Experimente durchzuführen und somit tiefer in die Geheimnisse der Natur vorzustoßen, beweist eindrucksvoll die negative Wirkung der religiösen Moral auf die menschliche Freiheit.

6.    Dadurch, daß die religiöse Ethik die Handlungen des Menschen mit einer jenseitigen Sanktion — Belohnung und Strafe — verbindet, beraubt sie die Sittlichkeit des ethischen Idealismus. Jede gute Tat des religiösen Menschen ist gleichsam ein Wechsel, den Gott nach dem Tode einlösen muß. Die Begriffe des Himmels und der Hölle, die im sittlichen Verhalten des Menschen mit einbegriffen sind, fälschen die Entscheidung und damit auch die Moral selbst.

Diese Einwände enthalten alles Wesentliche, was die sowjetische Kritik im Kampf gegen die religiöse Moral gewöhnlich vorbringt. Es ist jedoch leicht einzusehen, daß der Grund dieser Einwände nicht das Wesen der christlichen Religion, nämlich die Beziehung des Menschen zu Gott als Liebe, sondern die historische Gestalt des Christentums und die allzu populäre kirchliche Praxis vor allem der griechisch-russischen Orthodoxie und des römischen Katholizismus ist. Dadurch büßt die sowjetische Kritik der religiösen Moral viel an Tiefe ein, gewinnt aber um so mehr an psychologischer Wirkung beim einzelnen, den die historische Gestalt des Christentums und die kirchliche Praxis gewöhnlich mit dem Wesen der Religion des menschgewordenen Gottes identifiziert.

Aber auch die menschliche Natur als Begründung der Sittlichkeit lehnt der Kommunismus ab. Im abendländischen Denken kennnen wir außer der religiösen Fundierung der Moral auch die „natürliche“ Fundierung, die wir der griechischen Philosophie verdanken, vor allem Aristoteles und der Stoa, und die darin besteht, daß die allgemeine menschliche Natur zum Prinzip der Sittlichkeit erhoben wird. Diese allgemeine menschliche Natur ist aber nicht die durchschnittliche Menschennatur als ein aus der Erfahrung abgeleiteter Begriff, sondern die ideale Menschennatur, die jedem Individuum als Ziel (telos) jeglichen Strebens iimewohnt: „An die Stelle der Ideen tritt bei Aristoteles die Natur“.30 Entspricht eine Handlung der allgemeinen Menschennatur oder dem idealen Streben des Menschen, so ist diese Handlung sittlich gut. In dieser allgemeinen Menschennatur wurde auch das Naturrecht gefunden, das jedes positive Recht begründet. Die Universalität und die Ewigkeit der allgemeinen Menschennatur und des darin wurzelnden Naturrechtes sind zugleich auch zwei Wesenseigenschaften der Moral: „Nicht heute nur gilt das oder nur gestern, sondern immer lebt es, und niemand weiß, von wannen es kam“ (Sophokles). Die auf Grund dieser allgemeinen und ewig gültigen Menschennatur von den Stoikern entwickelte Idee der Nächstenliebe — „wir alle sind Brüder und haben in gleicher Weise Gott zum Vater“ (Epiktet) — fand die Anerkennung seitens der Christen, so daß die natürliche Begründung der Moral auch in die christliche Lehre einging und in der Scholastik sogar vorherrschend wurde. Da der Mensch ein Geschöpf Gottes ist, so bedeutet seine ideale Natur den sichtbaren Willen Gottes. Folglich soll der Mensch nach seiner Natur handeln, weil Gott durch diese Natur seinen Willen eben kundtut. Die lex divina oder aeterna tritt konkret also durch die lex naturalis in Erscheinung. Die Renaissance lockerte zwar diese enge Verbindung von Menschennatur und Gotteswillen, aber auch diese Periode der europäischen Geistesgeschichte hielt an der Menschennatur als inkarnierter Menschenidee weiterhin fest und sah darin die beste Garantie für die menschliche Freiheit und Würde.

Bei der Kritik der Auffassung der menschhchen Natur als Norm der Moral weisen die marxistischen Denker darauf hin, daß die konkrete Bestimmung, was die menschliche Natur als Norm eigentlich enthält (für die Ethik ist das von entscheidender Bedeutung), völlig unklar bleibt und daß deshalb durch die menschliche Natur sogar die Widersprüche begründet und gerechtfertigt weiden können. Als eindrucksvolles Beispiel dafür erwähnt G. Plecha-nov, einer der schärfsten Kritiker der menschlichen Natur als Norm der Moral, die Sklaverei. Aristoteles begründete sie, wie bekannt, damit, daß es Menschen gibt, die „von Natur Sklaven sind“, d. h. sie befinden sich in der Hauswirtschaft als „von Natur Beherrschte“31. Die Sklaverei als eine soziale Institution sei also durch das Naturrecht selbst begründet. Nun begann die Aufklärung des 18. Jahrhunderts den Kampf gegen die Sklaverei als Institution ebenfalls im Namen der menschhchen Natur und des Naturrechtes: die Menschen seien von Natur gleich, und die Sklaverei widerspreche deshalb dem Naturrecht selbst und dürfe folglich durch kein positives Recht aufrechterhalten werden. Die Auffassung von der Sklaverei hat sich geändert. Kann man aber diese Veränderung auf die menschliche Natur zurückführen? — fragt Plechanov. Entweder ist die menschliche Natur unveränderlich, dann kann sie nicht der Grund der geschichtlichen Veränderungen sein, oder sie ist veränderlich, dann bedarf sie selbst einer Erklärung, warum sie sich verändert.32 Der Versuch, die in der Geschichte aufgetretenen Verände-rungen auf die frühere mangelnde Erkenntnis der menschlichen Natur zurückzuführen, kann hier nichts erklären, denn um zu wissen, wann die menschliche Natur konkret gut oder schlecht erkannt wird, muß man diese Natur schon gekannt haben. Derartiges Denkverfahren begeht einen logischen Fehler, der der Zirkel (circulus vitiosus) heißt: hier wird nämlich das als selbstverständlich angenommen, was noch zu beweisen ist. Die menschliche Natur liegt vor uns nicht so eindeutig, daß wir sie ohne weiteres und allgemein als evident erkennen und daher als Maßstab zur Beurteilung von Einzelerscheinungen unseres Lebens anwenden können. Bevor wir die Natur als Norm der Moral annehmen, müssen wir wissen, worin diese Natur besteht. Gerade das bleibt aber unbeantwortet. Ist dem so, dann wird der Gebrauch der Natur als Norm ein Zirkelschluß, mit dem wir alles beweisen können: Sklaverei und Freiheit, Monarchie und Demokratie, Verfolgung der Andersgläubigen und Recht des Gewissens, Aussetzung mißgebildeter Kinder und Schutz des jungen Lebens usw. Mit Recht sagt Plechanov, alle Geschichtstheorien bis zu Marx beriefen sich direkt oder indirekt auf die menschliche Natur.33 Bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts gab es kaum einen Schriftsteller, der nicht auf die menschliche Natur zurück-gegriffen hätte, wenn er etwas beweisen wollte. Die Natur war, sagt Plechanov, „ein magisches Wort, das alle historischen Schwierigkeiten behob“34. Diesem Mißbrauch setzt der Marxismus dadurch ein Ende, daß er die menschliche Natur nicht für den Grund oder die Ursache geschichtlicher Veränderungen, sondern für deren Resultat erklärt. Die Natur des Menschen sei dem allgemeinen Gesetz des Werdens genauso unterworfen wie alles andere. Denn die Veränderung umfaßt, nach dem dialektischen Materialismus, nicht nur die Eigenschaften eines Dinges, sondern auch seine Substanz oder Natur. Da jedes Ding in seiner ontologischen Struktur gegensätzlich ist, verwandelt es sich im Laufe der Zeit in seinen Gegensatz und hebt sich selbst auf.35 Wenn also der Marxismus vom Wesen oder von der Natur spricht, so hat dieser Begriff nichts Gemeinsames mit der metaphysischen Auffassung des Wesens oder der Natur, d ie n ach dieser eben unveränderlich bleibt. Im marxistischen Denken unterliegt das Wesen oder die Natur einer ständigen Veränderung und erweist sich somit als eine geschichtliche Kategorie: es gibt keine ewige, für alle Zeit gleichbleibende Menschennatur. Der Mensch besitzt jeweils eine Natur, die er selbst kraft der Veränderung der äußeren Welt hervorbringt36; er besitzt aber nie die Natur, die als Norm oder als Ideal betrachtet werden dürfte. Die menschliche Natur als Sosein oder Modus des Daseins ist das Ergebnis des historischen Lebens einer Epoche. Plechanov hält es für „ein großes wissenschaftliches Verdienst“ Marxens, daß er die Natur des Menschen „als das sich ewig verändernde Resultat der geschichtlichen Bewegung“ gedeutet hat.37 Ebensowenig befriedigt zeigen sich die marxistischen Ethiker durch den kategorischen Imperativ Kants, obwohl sie zugeben, daß das Moralsystem Kants „am erfolgreichsten gewesen“ ist und „den größten Einfluß ausgeübt“ hat.38 Um das Sittlich-Gute vor dem englischen Eudämonismus und Utilitarismus zu retten und der sittlichen Tat des Menschen die Idealität zurückzugeben, versuchte Kant, wie wir wissen, die Norm der Moral ins Formale zu verlegen und sie somit als universal verpflichtend zu begründen. Der Mensch solle so handeln, daß die Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Diese Maxime darf von keinem Wertinhalt bestimmt sein, denn erst dann kann sie als allgemeines Gesetz angesehen werden: kann der Handelnde wollen, daß seine Handlung ein allgemeines Gesetz wird? Wenn ja, dann ist seine Handlung sittlich: wenn nicht, so ist seine Handlung unsittlich, falls sie ausgeführt wird. Diese Norm erscheint sehr einfach, aber gerade in ihrer Einfachheit gibt sie dem Menschen eine allgemeine Möglichkeit, Gut und Böse zu scheiden. Das Sittlich-Gute stellt sich zwar als absolut verpflichtend dar, doch in seiner Klarheit läßt es sich leicht begreifen und verwirklichen. Indem es von keiner Bedingung und keinem Inhalt oder Wert abhängt, sondern sich in sich selbst als inneres Gesetz autonom konstitutiert, befreit es sich von der Veränderlichkeit der Geschichte und wird zur allgemeinen und ständigen Forderung für alle.

Gerade aber in dieser formalen Allgemeinheit des kategorischen Imperativs sehen die marxistischen Kritiker die wesentliche Schwäche der Kantischen Norm der Sittlichkeit. Schon Marx wies in der „Deutschen Ideologie“ auf die Unmöglichkeit hin, die Entscheidung des Willens von den materiellen Interessen des Menschen zu trennen und diese Entscheidung als Tat des reinen Willens anzusehen.39 Dieser Hinweis wurde dann von den späteren marxistischen Denkern aufgegriffen und zu einer systematischen Ablehnung der Kantischen Fundierung der Moral entwickelt. G. Plechanov macht sich die Hegelsche Kritik zu eigen und nennt das moralische Gesetz Kants eine Tautologie, die nichts aussagt, weil sie die Pflicht nicht durch etwas Konkretes, sondern eben durch die formale Verpflichtung begründet, ohne zu sagen, worin diese Verpflichtung wurzelt.40 Diesen Einwand formuliert H. Selsam sehr deutlich: „Natürlich muß Kant zugeben, daß dieses moralische Gesetz uns niemals sagt, was denn unsere Pflicht sei... Kant glaubte ein Problem gelöst zu haben, als er es zum Gebot eines mystisch moralischen Gesetzes in uns machte, aber es bleibt der Verdacht, daß er nichts weiter getan hat als bestätigt, daß eine Stimme unserer Natur uns sage, wir sollten tun, was wir tun sollten“41; d.h. ein reines Streben nach dem Tun ohne jeglichen Inhalt. Ohne Inhalt aber kann keine Handlung zum allgemeinen Gesetz werden. Denn ob eine Handlung zum allgemeinen Gesetz werden kann oder nicht, bestimmt eben ihr Inhalt, der entweder gut oder schlecht ist. Wenn Kant, zum Beispiel, die Unsittlichkeit des Selbstmordes dadurch begründet, daß der Selbstmord, zum allgemeinen Gesetz erhoben, das Leben selbst auslöschen würde, so beweist er dadurch eben, daß das Leben in sich gut ist; warum dürfte es sonst nicht ausgelöscht werden? Folglich ist der Selbstmord deshalb unsittlich, weil er etwas Gutes — nämlich das Leben — zerstört. Woher wissen wir aber, daß das Leben in sich gut ist? Diese Frage bleibt von Kant unbeantwortet, somit bleibt auch die ganze Moral ohne die eigentliche Fundierung. „Es ist ein trauriges Zeichen für die bürgerliche Welt“, faßt H. Selsam die marxistische Kritik an Kant zusammen, „daß einer ihrer großen Theoretiker, nachdem er alle Theorien von der Glückseligkeit oder dem Eigennutz als Quelle der Moral zurückgewiesen hatte, nichts Besseres zu finden wußte als dieses leere, abstrakte Prinzip“ (S. 100).

Schließlich lehnt der Marxismus auch das Reich der Werte als Begründung der Moral ab. Diese Begründung, die im abendländischen Denken wohl als die fruchtbarste angesehen werden darf, verdanken wir Hermann Lotze, dem Bahnbrecher des Wertdenkens, Max Scheler und Nicolai Hartmann, den systematischen Schöpfern der sog. materiellen Wertethik, die sich gerade im Gegensatz zur formalen Ethik Kants konstituiert. Die Kritik an Kant durch die Schöpfer der Wertethik ist der marxistischen Kritik verblüffend ähnlich: beide werfen Kant vor, er habe den Gehalt des sittlich Guten nicht berücksichtigt. Denn nicht weil eine Handlung allgemeingültiges Gesetz werden kann, ist sie sittlich, sondern weil sie sittlich ist, kann sie das allgemeingültige Gesetz werden (Max Scheler). Das sittliche Gute west im Werthaften. Das Werthafte ist eine eigene Kategorie, die weder mit dem Seinshaften noch mit dem Psychischen zusammenfällt. Man muß diese Kategorie nur in den Blick bekommen, um ihre Existenz und ihre Anziehungskraft zu erkennen. Die Werte treten allmählich mit dem Fortschritt der Kultur in den Gesichtskreis der Menschheit und werden von selbst erkannt und anerkannt. Werte haben ein Ansichsein, sie sind auto-nom. Sie sind unabhängig vom Dafürhalten des Subjekts. Das Sollen, das sich in den Werten uns darbietet, ist nicht von der Art eines kategorischen Imperativs, sondern von der der Wertschau im Sinne einer intuitiven Einsicht in den Gehalt der Werte als Qualitäten, die in jedem Fall unbedingt gelten. Deshalb werden die Werte uns nicht befohlen oder als Pflicht auferlegt: sie ziehen uns von selbst an, und nur der Wertblinde kann das nicht sehen oder fühlen. Eine Handlung ist also sittlich, wenn sie den Wert des Guten verwirklicht oder zum Ausdruck bringt. Die Sittlichkeit ist keine rein formale Entscheidung des Willens, sondern eine inhaltlich bestimmte Tätigkeit des Menschen.

Die marxistische Kritik greift nun vor allem die Vorstellung vom Ansichsein der Werte an. Jahrzehntelang existierte das Problem der Werte in der marxistischen Philosophie überhaupt nicht. Selbst heute „gibt es einige marxistische Denker, die das Problem der Werte im allgemeinen ablehnen, und zwar mit der Begründung, es sei aus dem Neokantianismus als Gegensatz zum marxistischen Verständnis der Gesellschaft entstanden“42. Doch in den letzten Jahren haben auch die marxistischen Ethiker eingesehen, daß im Kampf zweier Weltanschauungen „sich die Aufgabe, ethische Werte des Sozialismus zu klären, unumgänglich stellt“43, und zwar „als Notwendigkeit, eine allgemeine marxistische Werttheorie im Kampf mit der bourgeoisen Axiologie auszuarbeiten“44. Bezeichnenderweise haben zwei Tagungen des wissenschaftlichen Sowjets des Philosophischen Institutes in Moskau (1964 und 1965) sich mit dem Problem der Werte beschäftigt, wobei die Geschichte der Werttheorie (O. G. Drobnickij), das Problem der Werte in der Philosophie des 20. Jahrhunderts (N. V. Motrošilova), die Wertfrage in der Geschichtswissenschaft (A. N. Gulyga), die Ergänzung des Marxismus durch eine Werttheorie (K. A. Švarcman), die Kritik der bourgeoisen Axiologie (I. F. Balakinoj) angeschnitten und untersucht wurden.45 Diese Bemühung wird um so verständlicher, als der Marxismus den westlichen Existenziahsmus im Sinne der „Absage an die Werte“46 deutet und ihn eben durch die Ausarbeitung einer marxistischen Werttheorie überholen will.

Diese Theorie schlägt aber eine ganz andere Richtung ein als die der westlichen Wertphilosophie. Eine spezifische Ordnung der Werte wird von den marxistischen Kritikern ein „leeres Geschwätz“ genannt47, denn die Werte können nicht die menschliche Welt übersteigen und sich über ihr konstituieren. Die Werte sind wesentlich sozialen Charakters.48 Die menschliche Welt im Sinne der Gesellschaft ist das Höchste und Letzte, folglich kann auch die Fundierung der Sittlichkeit nur von dieser Welt abgeleitet werden. Jeder Versuch, „den Rahmen der menschlichen Welt zu sprengen“ und ein übermenschliches transhumanes Reich der Werte zu bauen, wird als eine Abart des Idealismus abgetan.49 Der von Max Scheler und Nicolai Hartmann ausgearbeitete Unterschied von Ding und Wert wird von den sowjetischen Ethikem ebenfalls abgelehnt, denn der Wert ist nichts anderes als das in die Interessensphäre des Menschen hineingenommene Ding.50 Somit bekommt das Dafürhalten des Subjektes die entscheidende Bedeutung, allerdings nicht im Sinne des Individuums, sondern im Sinne des Kollektivs: die Werte sind nicht nur sozialen, sondern zugleich auch Massenhaften Charakters; sie sind historisch bedingt und ändern sich mit der Veränderung der Interessen der Klassen; sie sind eine Widerspiegelung sozialer Verhältnisse in einer gegebenen Epoche.51 Und nur in diesem Sinne können sie Normen des Verhaltens der Menschen genannt werden. Da aber die Werte als Ableitung vom Kollektiv immer sekundär sind, so stellen sie nie die primäre Begründung der Moral dar.

Dieser kurze Überblick über die Kritik der traditionellen Fundierung der Moral zeigt uns, wie radikal sich der Marxismus zu jeder bisherigen Begründung der Sittlichkeit verhält. Jede der bisherigen Fundierungen wird von ihm als unwissenschaftlich abgelehnt. „Der Marxismus hat schon längst gezeigt“, schreibt Šiškin, „daß die Versuche der bürgerlichen Ideologen, die Moral von den Fügungen Gottes, von der ,absoluten Idee“, von der abstrakten Vernunft, von der ,ewigen Natur“ des Menschen abzuleiten und sie losgelöst von den historischen Bedingungen zu betrachten, wissenschaftlich unhaltbar und in ihrem Wesen reaktionär sind.“52 Die moralischen Normen seien „weder ewig noch unveränderlich“; als „Überbau“, der auf der „ökonomischen Basis“ ruht, „verändert sich die Moral unmittelbar nach der Basis, die sie hervorgebracht hat“ (ebd.). Es ist deshalb aussichtslos, ihre Begründung in etwas zu suchen, was außer oder über den sozialen Verhältnissen der menschlichen Welt liegt. Tun das die bürgerlichen Ethiker trotzdem, so ist das „nichts anderes als eine heuchlerische Tarnung und Rechtfertigung der Interessen der herrschenden Ausbeuterklassen“53. Konsequenterweise kann die neue kommunistische Moral sich mit keiner bisherigen Begründung der Moral zufrieden geben. Sie verwirft sie alle und versucht, die sittliche Haltung des Menschen in einem Grund zu verankern, der der menschliehen Welt völlig immanent ist und der zugleich der marxistischen Auffassung von dieser Welt entspricht. — Was ist das für ein Grund?

  24  W. I. Lenin, Über die Religion, S. 66; vgl. A. Schischkin, a. a. O., S. 61 ff.

25 Vgl. Voprosy filosofii, 1961, Nr. 1, S. 162.

26 Vgl. G. L. Andreev, Kritika moralnych principov religii (Kritik der Moralprinzipien der Religion), in „Voprosy filosofii“, 1961, Nr. 2, S. 156.

27  Vgl. E. Fuchs, Christliche und marxistische Ethik, Leipzig 1958, 2 Bde; J. L. Hromadka, Kirche und Theologie im Umbruch der Gegenwart, Prag 1956; J. L. Hromadka, An der Schwelle des Dialogs, Berlin 1964.

28  Vgl. G. L. Andreev, a. a. O., S. 158.

29   Die Einwände werden hier nach dem Sammelwerk „Nravstvennostj i religija (Sittlichkeit und Religion), hrsg. von M. P. Gapočka u. a., Moskau 1964, zusammengestellt.

30 Ing. Düring, Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966, S. 464; vgl. J. Ritter, Naturrecht bei Aristoteles. Zum Problem einer Erneuerung des Naturrechtes, Stuttgart 1961.

31  Vgl. Ing. Düring, a. a. O., S. 489—492.

32   Vgl. G. Plechanov, Izbrannye filosofskie proizvedenija, Bd. II, S. 227; H. Ley, Bemerkungen zum Wesen echter Menschlichkeit, im Sammelwerk „Beiträge zur Kritik der gegenwärtigen bürgerlichen Geschichtsphilosophie“, Berlin 1958, S. 175-191.

33    Vgl. G. Plechanov, a. a. O., Bd. I, S. 608.

34    G. V. Plechanov, a. a. O., Bd. II, S. 227.

35    Vgl. A. Kopčok, Der dialektische Widersprach und die dialektisch-materialistische Auffassung der Bewegung, im Sammelwerk „Der dialektische Gegensatz“, Bratislava 1964, S. 102-130.

36    Vgl. K. Marx, Das Kapital, Berlin 1957, Bd. I, S. 185.

37  G. V. Plechanov, a. a. O., Bd. I, S. 608.

38   H. Selsam, Sozialismus und Ethik, S. 98.

39   Vgl. K. Marx - Fr. Engels, Werke, Berlin 1958, Bd. II, S. 182-184.

40  G. V. Plechanov, a. a. O., Bd. I, S. 491—494; vgl. auch L. V. Kovalova, im Sammelwerk „Problemy etiki (Probleme der Ethik)“, hrsg. von M. G. Zurakov u. a., Moskau 1964, S. 35—36.

41 H. Selsam, Sozialismus und Ethik, S. 65—66; vgl. auch A. F. Šiškin, Voprosy etiki v trudach Lenina (Fragen der Ethik in den Schriften Lenins), S. 65—66; R. Garaudy, Problema morali v sovremennoj francuskoj filosofii (Das Problem der Moral in der gegenwärtigen französischen Philosophie), in „Voprosy filosofii“, 1960, Nr. 10, S. 69.

42 Voprosy filosofii, 1965, Nr. 9, S. 152.

43  K. I. Gulian, Marksistskaj a etika i problema cennosti (Marxistische Ethik und Problem des Wertes), in „Voprosy filosofii“, 1962, Nr. 1, S. 41.

44  K. A. Švarcman und A. F. Šiškin, O nekotorych filosofskich problemach etiki (Über einige philosophische Probleme der Ethik), in „Voprosy filosofii“, 1965, Nr. 4, S. 81; vgl. auch O. G. Drobnickij, Problema cennosti i marksistskaja filosofija, in „Voprosy filosofii“, 1966, Nr. 7, S. 33—44.

45   Vgl. Voprosy filosofii, 1965, S. 152-157.

 46 K. I. Gulian, a. a. O., S. 41.

47 A. F. Schischkin, Die bürgerliche Moral..., S. 86.

48  Vgl. Voprosy filosofii, 1965, Nr. 4, S. 83—84.

49  A. F. Schischkin, a. a. O., S. 86.

50   Vgl. Voprosy filosofii, 1965, Nr. 4, S. 82; 1965, Nr. 9, S. 40.

51   Vgl. Voprosy filosofii, 1962, Nr. 1, S. 40.

52  A. F. Schischkin, Die bürgerliche Moral..., S. 10.

53  A. F. Schischkin, a. a. O., S. 16.

 

 

3. Das Mitsein als Grundlage der sowjetischen Moral

Jede Begründung der Moral ist im Wesentlichen nichts anderes als die in der Praxis verwirklichte Zurückführung der Idee des Menschen auf ihre letzte Quelle. Das Christentum begründet seine Moral in Gott als der letzten Quelle deshalb, weil der Christ sich als nach dem Bilde Gottes geschaffen versteht (vgl. Gen. 1, 27): Gott ist das Urbild des Menschen im Sein, daher auch die Norm im Handeln. Aristoteles fundiert die Moral in der allgemeinen, als Ideal verstandenen Natur des Menschen deshalb, weil der Mensch nach der griechischen Auffassung nur eine individuelle Erscheinung des allgemeinen Wesens oder der Idee „Mensch“ ist. Das Allgemeine begründet das Einzelne im Sein, folglich bestimmt es das Einzelne auch im Handeln. In jeder Fundierung der Moral als tätigen Verhaltens des Menschen kommt dessen metaphysische Auffassung von sich selbst zum Ausdruck. Dasselbe gilt auch für den Kommunismus. Auch die kommunistische Begründung der Moral wurzelt in seiner Auffassung vom Menschen. Da aber die Moral im Kommunismus, wie gesagt, ausschließlich das Verhalten des Menschen zum Mitmenschen und nicht mehr das Verhalten zur Natur und zu Gott, wie im Christentum, bedeutet, so wird sie von selbst im Mitsein verankert und durch die Vorstellung vom Menschen als sozialem Wesen begründet. Infolgedessen müssen wir nun ein wenig die marxistischen Begriffe des Mitseins und des Sozialwesens klären, um die kommunistische Begründung der Moral zu verstehen.

Nach der westlichen Auffassung stellt das Begriffspaar „Person-Gesellschaft“ einen realen Gegensatz dar, der eine Spannung, einen Kampf, ja sogar eine Tragik bedeutet. Die Person kann nicht ohne die Gesellschaft existieren: das Mitsein bildet die Existenzweise des personalen Seins. Wird diese Existenzweise aber verwirklicht, so unterwirft sich die Person der Gesellschaft, die im Alltag als namen- und gesichtsloses Man auftritt und in der dann auch die Person ihre Eigentlichkeit verliert. Das Abendland kennt dieses Los der Person aus der Geschichte sehr gut, deshalb ist es der Meinung, der Kommunismus verneine die Person, wenn er den Menschen als Sozialwesen versteht und seine Existenz in das Mitsein verlegt. Die Entpersönlichung des Menschen sei die unbedingte Folge der Verlagerung des Akzentes von der Person auf die Gesellschaft.

Dem entgegen stellt der Marxismus seine eigene These: „Der Kommunismus ist die Blütezeit der menschlichen Person“54. Auf welche Art und Weise das geschehen kann, verdeutlicht uns sehr gut Ignace Lepp, er sagt: „Der Kapitalismus stelle das Summum der Individualisation dar. An dem Tage, an dem der Kommunismus über den Kapitalismus triumphieren würde, gäbe es hier wie auf allen anderen Gebieten keinen Schritt rückwärts, sondern immer einen Sprung nach vorne. Er würde das individuelle Bewußtsein nicht vernichten, den Herdeninstinkt nicht wieder hersteilen. Der Individualismus würde dialektisch überschritten werden durch eine höhere Form des Gattungsbewußtseins. Dieses besäße die ganze Energie, die ganze Solidarität, die dem Herdeninstinkt zugeschrieben worden war, darüber hinaus aber auch alle Errungenschaften des individuellen Bewußtseins“55. Die kommunistische Geschichtsperiode der Menschheit würde also die instinktive und daher mächtige Solidarität des Herdenmenschen mit der bewußten und daher ebenfalls mächtigen Individualität des Kulturmenschen in eine höhere Synthese bringen und somit eine unerwartete psychische Energie erzeugen, die sich dann in der Liebe zueinander, in der Selbstaufopferung für das Gemeinwohl und in der schöpferischen Tätigkeit auf den Gebieten der Kunst, der Philosophie, der Wissenschaft, der Technik konkretisieren würde. Der primitive Herdeninstinkt des Menschen ist genauso unwürdig wie der kapitalistische Individualismus, in dem „der Mensch immer mehr verflacht, der persönlichen Eigenart beraubt, geistig und moralisch verwüstet wird“56. Erst die Verbindung des Individuums mit dem Kollektiv, dieser „alma mater der Person“57, kann den Menschen zum Aufblühen aller seiner Möglichkeiten bringen. Eben das will der Kommunismus durch die Betonung des Mitseins und sozialen Charakters der menschlichen Existenz erreichen. Die Begründung dieser hohen Erwartung versucht der Marxismus in der Person selbst zu finden. Während die vormarxistische Anthropologie die Person mehr oder weniger als „individuum ineffabile“ oder als „substantia incommunicabilis“ definierte, verkündet Marx gegen Hegel, dieser vergesse, daß das Wesen der Person „nicht ihr Bart, ihr Blut, ihre abstrakte Physis, sondern ihre soziale Qualität ist“58, die aus der gesamten Stellung des Menschen in der Welt entsteht. Denn um existieren zu können, muß der Mensch über die Natur herrschen, sie bezwingen und gestalten, d. h. er muß sich ihr entgegenstellen. Die Form, in der er sich diese Entgegenstellung praktisch verwirklicht, ist die Arbeit. Im Prozeß der Arbeit packt der Mensch die Natur an, erlebt ihren Widerstand, zugleich aber auch seinen eigenen Willen und seine eigene Kraft, diesen Widerstand zu brechen und die Natur seinen Interessen zu unterwerfen. Im Prozeß der Arbeit erfährt sich der Mensch als Gegenüber der Natur. „In der Arbeit sondert sich der Mensch von der übrigen Natur ab ... Er erkennt sich als Individualität.“59

Das Ich-Bewußtsein des Menschen, diese Wesenseigenschaft der Person, wird in der Arbeit geboren. Die Arbeit ist es, die den Menschen über das einfache Individuum als Gattungsexemplar erhebt und ihm das Selbst-bewußtsein verleibt. Nun wird die Arbeit aber kollektiv verrichtet. Schon die Urfamilie war eine enge Arbeitsgemeinschaft, eine kollektive Unternehmung. Die Erschaffung einer neuen Umwelt, in der allein der Mensch existieren kann, ist immer Produkt der Gesellschaft und einer langen Reihe von Generationen; in jeder Arbeit ist die Erfahrung dieser Generationen aufgespeichert. Der Sieg des Menschen über die Natur ist keine individuelle Heldentat, sondern ein kompliziertes, vielgestaltiges und gemeinsames Unternehmen, das mit der ersten menschlichen Familie beginnt und sich langsam auf die ganze Menschheit erstreckt. Die vollkommene Bezwingung der Natur setzt auch den vollkommenen Zusammenschluß der Menschheit in eine einzige Gesellschaft voraus.

Daraus zieht der Marxismus eine für unser Problem sehr wichtige Folgerung: die Arbeit als Bezwingung der Natur entzündet das Selbstbewußtsein nur durch die Vermittlung des Mitmenschen. Das Ich begreift sich nur in bezug auf das Du. „Ich — das sind Wir“, wie S. L. Rubinštein diesen Bezug neuerdings formuliert hat.60 Der Mensch als Gegensatz zur Natur — nicht nur im ontologischen, sondern auch im anthropologischen Sinne — ist nicht der Mensch als ein isoliertes, in sich geschlossenes Individuum oder eine unzugängliche, unmitteilbare Substanz, sondern als Kollektiv- oder Gemeinwesen. Da aber das Menschliche — das Selbstbewußtsein, die Freiheit, das Glück — sich nur im Sieg über die Natur konkret äußert und da dieser Sieg nur im Kollektiv zu erringen ist, so bedeutet das, daß das Menschliche und das Kollektive ein und dasselbe ist. Jede äußere oder innere Isolierung des Menschen zieht die Schwächung seines Sieges über die Natur und damit die Schwächung seines Menschtums nach sich. Der Mensch bleibt nur Mensch, insofern er sich als Gemeinwesen fühlt und handelt. Das Mitsein ist das Primäre, das Selbstsein ist das Sekundäre. „Faktisch, empirisch, genetisch betrachtet, gehört die Priorität dem anderen Ich als Voraussetzung für die Absonderung (vydelenie) meines eigenen Ich.“61 Die Personalität des Menschen ist nichts anderes als eine Gesamtheit sozialer Beziehungen. „Welchen Charakter die Gesellschaft hat, solche soziale Struktur hat auch die Person. Anders gesagt, die Gesellschaft schafft die Person. Selbst der Begriff der Person ist historisch. Im allgemeinen Sinne stellt die Person die Gesamtheit gewisser historischer gesellschaftlicher Verhältnisse dar.“62 „Außerhalb der Gesellschaft gibt es keine Person . . . Die Person tritt immer als individuelles Seiendes auf, in der sich gegebene konkret-historische gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln.“63

Gewiß leugnet der Marxismus nicht die aktive Rolle der Person bei dieser Widerspiegelung. Im Gegenteil, es wird manchen sowjetischen Kritikern der westlichen Auffassung von der Person sogar vorgeworfen, daß sie bei der Ablehnung des bürgerlichen Individualismus und der Betonung des marxistischen Kollektivismus die aktive Tätigkeit der menschlichen Person m der Form des Selbstbewußtseins, des Wollens, des Denkens zu wenig beachten, ja unterschätzen, als ob das dem Materialismus widerspräche.64 Die Person ist keineswegs „ein passives Produkt“ sozialer Beziehungen. „Soziale Verhältnisse existieren und verwirklichen sich in der und durch die Tätigkeit der Person. Erst im Prozeß der bewußten Tätigkeit sondert sich der Mensch von der Gesellschaft ab, wird zur Person und verbindet sich als Person wieder mit der Gesellschaft.“65 Die Gesellschaft erweist sich somit gleichsam ein Boden, aus dem die Person wächst, in dem sie aber für immer verwurzelt bleibt — trotz ihrer bewußten Tätigkeit, denn „der Charakter und der Inhalt dieser Tätigkeit werden bestimmt nicht durch den Willen, nicht durch das Denken, sondern durch die historische Notwendigkeit, durch die Natur der gesellschaftlichen Schicht“ (ebd.). Konsequenterweise definiert P. E. Krjažev die Person als individuelles Sein (bytie) der sozialen Verhält-nise (vgl. S. 37), d. h. als Individualisierung des Allgemeinen, das eben die Gesellschaft ist.

Das personale Bewußtsein oder das Ich-Bewußtsein bedeutet im Kommunismus daher das Bewußtsein des Mitseins. Der Mensch wird zur Person nicht dadurch, daß er sich dem Mitsein — innerlich oder äußerlich — entzieht und sich selbst unzugänglich und undurchdringlich macht, sondern dadurch, daß er seine Verwurzelung in der Gesellschaft erkennt, sie anerkennt und sich zum Mitmenschen ganz offen verhält. Das Ideal der kommunistischen Persönlichkeit besteht nicht im Charakter, nicht im Willen, nicht in der Begabung, sondern in dem Offensein gegenüber dem Mitsein. Das Ziel der sowjetischen Erziehung und Bildung, der Ethik und der Sitten ist eben eine solche in bezug auf das Kollektiv offene Persönlichkeit. Der Bolschewismus erzieht einen Menschen, sagt A. F. Šiškin, der „sich nicht über die anderen und die Masse erhebt und sich keine Eigentümlichkeit zuschreibt“66, allerdings nicht aus der Demut, wie im Christentum, sondern aus der Richtung seiner Existenz auf das Kollektiv hin.

Die Gesellschaft bedeutet im Marxismus, wie wir nun sehen, nicht eine Gruppe von Einzelmenschen, sondern das Gemeinwesen oder die soziale Qualität des Menschen als solche. Das ist mehr als eine soziologische Kategorie. Das ist die anthropologische Kategorie schlechthin, die dem Menschen zutiefst innewohnt und ihn als Person gründet. Das Mitsein ist die letzte Quelle der Idee des Menschen im Marxismus. Folglich ist das Mitsein auch das letzte Fundament der marxistischen Moral. Die kommunistische Sittlichkeit wird nicht von Gott, nicht von der allgemeinen Menschennatur, nicht vom allgemeinen sittlichen Gesetz, nicht von den Werten, sondern einzig und allein vom Mitsein getragen. Das ist wirklich etwas Neues und sogar Revolutionäres, denn das Abendland kennt nicht den Bezug des Menschen auf seinen Mitmenschen als Begründung der Moral. Sowohl das Christentum als auch der Humanismus gründen die Moral immer auf das Selbstsein des Menschen, indem dieser in seiner Person als der höchste Wert und die unantastbare Würde angesehen und sogar rechtlich proklamiert wird. Demgegenüber bricht der Kommunismus mit dem Selbstsein und verlegt die Fundierung der Sittlichkeit in das Mitsein. Das bedeutet eine radikale Wendung im sittlichen Verhalten des Menschen. Denn im Falle einer allgemeinen Verwirklichung dieser im Mitsein fundierten Moral würde ein ganz anderer Mensch geformt werden als bisher. Das würde ein Mensch sein, der den Mitmenschen nicht mehr als den Partner im Vollzug des Daseins, sondern als den tragenden Grund dieses Vollzugs erlebt.

Was das bedeutet, kann uns ein Einwand Marxens, den er gegen die bürgerliche Beziehung unter den Menschen erhebt, ganz gut verdeutlichen. Ist die menschliche Person eine unmitteilbare Substanz (substantia incommu-nicabilis), wie dies die vormarxistische Anthropologie lehrte, so fragt sich, wie sie in Kontakt mit einer anderen unmitteilbaren, d. h. in sich verschlossenen, Substanz kommen kann. Wie entsteht eine Beziehung zwischen diesen undurchdringlichen Wesenheiten? Darauf antwortet Marx mit dem Hinweis, die äußere Sache sei es, die diese „fensterlosen Monaden“(Leibniz) miteinander verbindet. Die Sache sei der Mittler, der zwischen den bürgerlichen Personen steht und sie vereint. Das Gemeinsame befinde sich außerhalb der Person. Der bürgerliche Mensch kenne „kein andres Band zwischen Mensch und Mensch“ als „das nackte Interesse“67. Die personale Würde verwandele sich hier „in den Tauschwert“ (ebd.). Die Menschen seien nichts anderes als Handelssubjekte. Ihre Tätigkeit werde durch „die gefühllose ,bare Zahlung'“ bestimmt (ebd.). Selbst solche rein geistige Berufe wie der des Priesters oder des Dichters oder des Wissenschaftlers seien in der bürgerlichen Gesellschaft als bezahlte Lohnarbeit betrachtet und damit in die Kategorie der Sache herabgewürdigt (ebd.). Allerdings formuliert Marx seinen Vorwurf in den ökonomischen Ausdrücken, in seinem Wesen jedoch trifft dieser Vorwurf nicht die wirtschaftlichen Beziehungen der bourgeoisen Menschen, sondern ihr moralisches Verhalten zueinander, das, wie Šiškin feststellt, „einen völlig unpersönlichen Charakter angenommen“ hat.68 Die Entwicklung der Person als Selbstsein habe, nach Šiškin, „die Beziehungen zwischen den Menschen auf Beziehungen zwischen den Dingen hinauslaufen lassen“ (ebd.). Die bürgerliche Gesellschaft sei deshalb keine echt menschliche Existenzform; sie sei nur ein Interessenverband. Der bürgerliche Mensch erlebe den anderen nicht als wahres Du, d. h. als Person, sondern immer als Mittel für sein Selbstsein, d. h. als Sache. Da aber dieses Erleben beiderseitig entsteht, so gestalten sich die Beziehungen in der bürgerlichen Welt höchst unpersönlich. Die Auffassung der Person als Selbstsein mündet in die Erniedrigung derselben Person zum Sachwert und bricht somit zusammen. Das sei, nach der Lehre des Marxismus, das logische und unvermeidliche Ende der ganzen bourgeoisen Anthropologie. Indem die Moral ihre Fundierung im Selbstsein sucht, zerstört sie sich selbst, denn diese Fundierung hebt den personalen Charakter der menschlichen Beziehungen auf.

Durch die Begründung der Moral im Mitsein will nun der Marxismus den bürgerlichen Individualismus berichtigen und den menschlichen Beziehungen ihren sittlichen Charakter zurückgeben. Wenn der Mensch sich als Ich nur durch das Du konstituiert, so ist und bleibt dieses Du für ihn der Grund seines Selbstbewußtseins. Denn der Mensch kann sich als Ich nicht denken, ohne gleichzeitig auch das Du mitzudenken. Folglich braucht er, um mit dem anderen in Kontakt zu kommen, keinen Mittler in der Form einer Sache. Der Kontakt wird von selbst hergestellt: er liegt der Person selbst zugrunde, denn nur im Kontakt mit dem anderen erlebt sich der Mensch als Person. In der kommunistischen Gesellschaft bezieht sich eine Person auf die andere nicht, um diese als Mittel zu gebrauchen oder auszunützen, sondern um sie als den tragenden Grund ihrer eigenen Existenz in sich aufzunehmen. Die kommunistische Gesellschaft gründet sich deshalb nicht auf das Interesse, sondern auf die Liebe, denn eine unmittelbare, uninteressierte, den anderen in sich aufnehmende Beziehung heißt ja Liebe. Das kommunistische Mitsein ist kein Interessenverband, sondern eine innige Liebes-gemeinschaft. Der Kommunismus sei die Errichtung eines Reiches der Liebe auf der Erde; eines Reiches, in dem die Menschen sich miteinander solidarisch fühlen, Verantwortung füreinander tragen, einander aufrichtig achten, sich gegenseitig helfen, Opfer füreinander bringen, und zwar aus reiner Menschlichkeit und Freundschaft, „ohne an Vergütung im Jenseits oder an einen Lohn im Diesseits zu denken“69. Die Aufhebung der Sache als Mittler zwischen Mensch und Mensch bedeutet eine wahre Revolution in der Moral der Menschheit; es bedeutet die Befreiung des Verhaltens der Menschen von der Herrschaft der Sache, also von der Entfremdung der Moral, und die Zurückgewinnung der ursprünglichen Herrschaft der Person. Eben in diesem Sinne solle der Kommunismus die Blütezeit der menschlichen Person sein.

Das klingt selbstverständlich sehr christlich, denn die Liebe ist auch im Christentum die höchste Norm sittlichen Verhaltens. Die Schwierigkeiten beginnen jedoch, sobald wir fragen, wer dieser andere im Kommunismus ist, der meine eigene Person begründet. Bei der Beantwortung dieser Frage durch den Marxismus begreifen wir sofort, welch ein tiefer Abgrund zwischen der kommunistischen und der christlichen Moral klafft.

Sowohl das Christentum als auch der Kommunismus deuten das irdische Dasein des Menschen als Kampf. Christus selber verkündete, daß er nicht den Frieden, sondern das Schwert in die Welt gebracht und somit die Menschen entzweit habe (vgl. Mt. 10, 34—35). Die Entscheidung für Christus ist ein Akt, der den ganzen Menschen subjektiv und das ganze Leben objektiv umfaßt und von allem trennt, was diese Entscheidung irgendwie beeinträchtigt. Mit Recht sagt deshalb Romano Guardini, „der Christ ist kein einfaches Wesen, sondern, fast möchte man sagen, ein Kampf. Er ist ein Schlachtfeld und darauf zwei, die im Kampfe liegen“70. Dieser Gedanke wird im Neuen Testament in verschiedenen Bildern und Symbolen ausgedrückt: angefangen mit dem Streit zwischen dem Gesetz in unseren Gliedern und dem Gesetz der Vernunft (vgl. Röm. 7, 14—25) und abschließend mit dem offenen Ringen zwischen Lamm und Tier in der Weltgeschichte (vgl. Offb. 19, 11—21). Der Kampf im christlichen Dasein ist kein Zufall, sondern die Existenzweise unseres Unterwegseins.

Genauso deutet das menschliche Dasein auch der Kommunismus. Das Dasein ist der Kampf von Anfang bis zum Ende; es ist ein Kampf in allen seinen Akten, Prozessen und Objektivationen. llja Ehrenburg läßt in seinem Roman „Tauwetter“ (1954) den alten Bolschewiken Puchov, der auf dem Sterbebett liegt und mit sich selbst „zu Gericht geht“, sagen: „Der Mensch muß kämpfen, anders kann man nicht leben. Als ich jung war, habe ich Schulter an Schulter mit allen gekämpft. Nicht nur, als Revolution war, schon früher. Und später — bei der Arbeit. Mit mir selbst habe ich gekämpft, das weiß aber niemand. Es gab harte Schläge einzustecken, es gab Kummer und Zweifel. Ich habe gekämpft, um mir den Glauben an die Menschen zu bewahren. Ich kämpfe auch jetzt... Ich kämpfe mit dem Tode. Ich kämpfe, solange ich kann.“71 Das ist gleichsam wie eine Zusammenfassung des kommunistischen Erlebens des Daseins: der kommunistische Mensch existiert kämpfend.

Die Terminologie, mit der er seine Handlungen bezeichnet, ist militärischen Charakters: Front der Erziehung, Kampf um den Aufbau des Sozialismus, Kampf um die Formung der Gefühle, Eroberung der Massen, Kampfaktion in Sibirien bei der Legung der Ölleitung, Ingenieur als gleichwertiger Kämpfer wie Soldat, Klassenkampf als Form der Geschichte usw. — lauter Ausdrücke, die in der sowjetischen schönen und wissenschafdichen, ja philosophischen Literatur gang und gäbe sind. Alles trägt hier ein kämpferisches Mal, alles ist Waffe, Front, Taktik und Strategie. Eine Parallele mit dem Christentum ist nicht zu verkennen.

Der Grund jedoch, warum der Kommunismus das Dasein als Kampf versteht und erlebt, ist ein ganz anderer als im Christentum. Nach der christlichen Auffassung wird unser Dasein deshalb zum Kampf, weil das Böse in der Welt waltet und uns vom rechten Wege abbringt. Das Böse wohnt auch unserem Herzen inne, so daß der Kampf sich auch auf das seelische Leben erstreckt. Das christliche Dasein wird zum ununterbrochenen Ringen sowohl mit den Kräften der Natur, inbegriffen unsere subjektive Natur, als auch mit denen der Geschichte. Doch dieses Ringen hat nach der christlichen Seinsinterpretation keine ontologische Grundlage. Das Böse ist nichts Positives. Es liegt zwar als Möglichkeit in der Freiheit der vernünftigen Kreatur, aber es wird zur Wirklichkeit immer nur in der Form der Zerstörung. Das Prinzip der Schöpfung, Entstehung und Erhaltung ist das absolut Gute. Folglich kann es kein Böses als Seiendes im ontologischen Sinne geben. Das Böse hat nur einen physischen oder moralischen, nie aber einen ontologischen Charakter: Sein und Gutsein ist ein und dasselbe. Deshalb geht auch der Kampf des Christen immer nur auf dem physischen, psychischen oder moralischen Gebiete vor sich. Das Christentum glaubt unerschütterlich, daß der Kampf im Dasein sein Ende erreicht: persönlich mit dem Tode, historisch mit dem Abschluß der Geschichte. Ein universaler Friede, der alles in Einklang bringt, ist das Endziel des christlichen Ringens um die Gestaltung der Welt: „pax sine vespera — der Friede ohne Dämmerung“, wie Augustinus dieses Ziel formuliert (Conf. 13, 35).

Dagegen liegt der Grund des kommunistisch verstandenen Daseins als Kampf im Ontologischen. Das menschliche Dasein ist der Kampf nicht deshalb, weil in der Welt das Böse waltet, sondern weil der Kampf als Strukturprinzip dem Dasein selbst innewohnt. Der Kommunismus versteht das Dasein als ein dialektisches Geschehen, in dem die Gegensätze miteinander ringen und das nur auf Grund dieses Ringens vor sich geht. Die Welt und der Mensch existieren nur im Werden und als Werden. Es gibt nichts Beständiges und Ewiges; alles verändert sich bis in das Wesen der Dinge selbst. Die Gegensätze, die jedem Prozeß und jedem Ding zugrundeliegen und deren ontologische Struktur bilden, negieren nebeneinander, bekämpfen und schwächen einander und erzeugen dadurch eine ständige Veränderung von allem. Denn wo es Gegensätze gibt, dort gibt es immer auch Spannung und Bewegung. Das Dasein ist eine ontologische Unruhe. Der Kampf in der alltäglichen physischen, moralischen und sozialen Wirklichkeit ist nichts anderes als die Sichtbarkeit jener ontologisch fundierten Uruhe im Wesen der Dinge. Konsequenterweise versteht der Kommunismus den Kampf nicht als etwas Vorübergehendes und Anormales, sondern als die Daseinsweise der Welt: alles existiert dialektisch, d. h. streitend und kämpfend. Der Kampf kann nie aufhören; er kann nur seine Gestalt ändern. Der Friede ist nach dem Marxismus nicht der Endzustand, sondern die Pause im Kampf und die Vorbereitung für einen neuen Angriff. Der Sowjetmensch lernt, sein Glück nie im Feiern des Friedens, sondern „im Sieg und Kampf“ zu suchen und zu finden.72 Sein Los ist „das Sein im Zugwind“73. Das ist das Motiv, dem wir in der sowjetischen Literatur auf Schritt und Tritt begegnen.

Der Kampf setzt aber den Gegner oder den Feind voraus. Kampf und Feind sind korelative und untrennbare Begriffe. Ist der Kampf real, so ist auch der Feind real. Ist der Kampf unentrinnbar, so ist auch der Feind stets präsent. Das kommunistische Dasein vollzieht sich immer angesichts des Feindes. „Wir müssen“, sagt K. Sauerland, ein kommunistischer Denker aus den dreißiger Jahren, „immer wieder von neuem durch den Gegner hindurchgehen.“74 Dieses Durch-den-Gegner-Hindurchgehen bildet eben die eigentliche Existenzweise des kommunistischen Menschen. „Der Weg der leninschen Erziehung, der kommunistischen Erziehung ist der Weg angespannten Kampfes mit vielen Feinden. Bei jedem Schritt haben diese Feinde... uns umringt.“75 Der Begriff Feind nimmt im sowjetischen Daseinserleben eine genauso wichtige Stellung ein wie auch der Begriff Kampf. Es wird dem kommunistischen Menschen immer eingeprägt, daß er sich nicht vergißt und das Leben nicht als Frieden deutet. Er muß immer wachsam bleiben, denn er hat Feinde; er muß alle und alles scharf beobachten, denn der Feind ist allgegenwärtig. „Ein Feind ist wie Schmirgelpapier; er schärft die Gedanken.“76

Daraus entsteht ein sonderbares Verhalten des kommunistischen Menschen zu seinem Mitmenschen: das Mitsein, in dem sich der Mensch als Ich erlebt, wird in zwei Lager gespalten, deren eines als Feindlager zu erleben und zu behandeln ist. Mit den Vertretern dieses feindlichen Lagers kann und darf kein positives, auf die Liebe gegründetes Mitexistieren gepflegt werden. Dieses Lager muß vernichtet, besiegt, aufgehoben werden — vielleicht nicht immer physisch, in jedem Fall aber psychologisch und moralisch. Konsequenterweise erscheinen die Menschen dieses Lagers als hassenswerte Objekte: die moralische Einstellung des Kommunismus zum Feind ist der Haß. An diesem Punkt vollzieht sich die totale Umkehrung des christlichen Verhaltens zum Mitmenschen. Das Christentum begründet das Mitsein mit der Nächstenliebe, wobei jeder Mensch — auch der schlimmste Feind — der Nächste ist und deshalb geliebt werden soll. Der Kommunismus sagt sich dagegen grundsätzlich von der Nächstenliebe los und ersetzt sie durch den Feindeshaß. Schon Marx bezeichnete die Nächstenliebe im Sinne des Christentums als „den kleinbürgerlichen Wahn einer allgemeinen Brüderlichkeit“77. Das sei, nach der Meinung der späteren marxistischen Interpreten, die Verletzung anderer moralischer Verpflichtungen: „Was bedeutet das Gebot, seinen Nächsten zu heben, in der Realität? Unsere Nachbarn sind gut und schlecht. Sollen wir unterschiedlos alle lieben? Das scheint andere moralische Verpflichtungen zu verletzen... Offensichtlich kollidiert das Gebot, wenn es nicht bedeutend eingeschränkt wird, mit dem anderen Gebot, das Gute zu lieben und das Böse zu hassen“, denn „Übel existiert nicht im Abstrakten, sondern durch Menschen, und den Übeltäter nicht zu hassen, die menschliche Ursache von Not und Elend nicht zu hassen, heißt faktisch das moralische Prinzip überhaupt verleugnen“78. Das neueste Programm der KP der Sowjetunion spricht zwar vom humanen Verhalten und von der gegenseitigen Achtung der Menschen: „Der Mensch ist des Menschen Freund, Kamerad und Bruder“, doch im selben Atemzug verkündet es „die Unversöhnlichkeit gegenüber den Feinden des Kommunismus“79. Erst dann, wenn solche Verhältnisse geschaffen sind, daß alle Menschen einander ,Nächste“ werden“, wird es, nach Selsam, „nicht nötig sein, Liebe zu befehlen, denn dann wird sich die Liebe eben aus dem Verhältnis der Menschen zueinander ergeben“80. Solange das aber noch nicht eingetreten ist, muß man „bei den Sowjetmenschen die kommunistische Moral entwickeln, der die Ergebenheit gegenüber dem Kommunismus und die Unversöhnlichkeit gegenüber seinen Feinden... zugrundeliegen“81. Anders ausgedrückt, erst nach dem universalen Sieg des Kommunismus in der Welt wird der Mensch des Menschen Freund und Bruder.

Der andere also, der unser Ich begründet und uns zu einer Person macht, ist im Kommunismus nicht ein jeder Mensch, sondern nur der kommunistische Mensch, nur der Genosse im gemeinsamen Kampf. Nur dieser Mensch ist das wirkliche und echte Du, das in uns als Grund unseres Ich-Bewußtseins mitexistiert. Nur dieser Mensch wird geliebt, und nur das Mitsein mit diesem wird als Liebesgemeinschaft bezeichnet. Das kommunistische Mitsein, in dem die kommunistische Moral fundiert wird, bedeutet keineswegs das universal-menschliche Mitsein. Die „Sorge um andere Menschen“, die Šiškin so stark betont, daß er sogar behauptet, „ohne eine solche Sorge gibt es keine echte Moral, insbesondere keine kommunistische Moral“82, ist nicht die Sorge um jeden, der sich in unserer Nähe befindet. Das ist die Sorge eher um jenen künftigen neuen Menschen, der aus dem vollständig verwirklichten Kommunismus entstehen soll. A. F. Šiškin spricht etwas sehr Merkwürdiges, jedoch im Grunde für die sowjetische Ethik höchst Charakteristisches, ja Wesentliches aus, wenn er sagt: „Weder in der Sorge um sich, noch um den ,Nahestehenden' allein (wie zum Beispiel die alte christliche Moral lehrt), sondern um den ,Fernstehenden‘, das heißt in der Sorge um die gesellschaftlichen Interessen, besteht gerade der moralische Inhalt des sozialistischen Verhältnisses zur Arbeit, zum gemeinschaftlichen Eigentum, zur Arbeitsdisziplin usw. In einer solchen Sorge Hegt die tiefe Begründung für die ganze kommunistische Moral.“83 Das bedeutet: der Marxismus fundiert seine Moral nicht im Selbstsein (die Sorge um sich), auch nicht im Mitsein mit jedem Menschen (die Sorge um den Nächsten), sogar nicht im Mitsein mit dem konkreten Kommunisten (die Sorge um den Freund), sondern im Mitsein mit jenem künftigen Menschen, in dem die gesellschaftlichen Interessen zu seinen persönlichen Interessen werden sollen (die Sorge um den Fernstehenden).

54 N. S. Chruščev, O programme kom. Partii Sovetskogo Sojuza (Uber das Programm der KP der Sowjetunion), Moskau 1961, S. 92.

55 Ig. Lepp, Von Marx zu Christus, S. 208.

56 A. F. Schischkin, Die bürgerliche Moral..., S. 23.

57 Vgl. Voprosy filosofii, 1960, Nr. 6, S. 102.

58 K. Marx, Die Frühschriften, S. 38.

59   F. Ja. Orlovcev, Socializm i ličnostj (Sozialismus und Persönlichkeit), Moskau 1956, S. 9.

60 S. L. Rubinštein, Čelovek i mir (Der Mensch und die Welt), aus dem Nachlaß, veröffentlicht in „Voprosy filosofii“, 1966, Nr. 7, S. 169. — Den Gedanken, daß der andere Mensch das Band zwischen uns und der Welt bildet, hat schon L. Feuerbach ganz deutlich ausgesprochen (vgl. Das Wesen des Christentums, Berlin 1956, Bd. I, S. 147—148).

61 S. L. Rubinštein, a. a. O., S. 170.

62 Leitartikel „Kommunizm i vsestoronnee razvitie ličnosti“ (Kommunismus und allseitige Entwicklung der Persönlichkeit) in „Sovjetskaja Pedogogika“, Moskau 1966, Nr. 2, S. 89; vgl. auch Voprosy filosofii, 1960, Nr. 6, S. 99—103, Nr. 4, S. 63 ff.

63 P. E. Krjažev, Kommunizm i ličnostj, S. 35—36.

64 Vgl. P. E. Krjažev, a. a. O., S. 34.

65 P. E. Krjažev, a. a. O., S. 36.

66 A. F. Šiškin, Nekatorye voprosy teorii kommunističeskoj morali, S. 10—11.

67   K. Marx, Die Frühschriften, S. 528.

68   A. F. Schischkin, Die bürgerliche Moral..., S. 13.

69 M. Kolzov, Der Mensch der Zukunft, in „Sowjetliteratur“, 1957, Nr. 11, S. 174.

70   R. Guardini, Der Herr, Würzburg 1937, S. 621.

71   I. Ehrenburg, Tauwetter, Berlin 1957, S. 155.

72   A. S. Makarenko, Ausgewählte pädagogische Schriften, Berlin 1953, S. 175.

73   A. Surkow, Einem Altersgenossen, in „Sowjetliteratur“, 1957, Nr. 11, S. 136; vgl. V. Ossipow, Der Brief, der nicht abgeschickt wurde, in „Sowjetliteratur“, 1958, Nr. 3, S. 75į S. Kirsanovs Rede auf dem sowjetisch-italienischen Dichtertreffen in Moskau, in „Sowjetliteratur“, 1959, Nr. 2, S. 148—149.

74   K. Sauerland, Der dialektische Materialismus, S. 16; der Weg der Dialektik gehe, nach Sauerland, nur „im Kampf und durch den Kampf“ (S. 17).

75   A. S. Makarenko, a. a. O., S. 140.

76  G. Nikolajewa, Schlacht unterwegs, in „Sowjetliteratur“, 1958, Nr. 10, S. 56.

77 K. Marx — Fr. Engels, Briefe (1870—1886), Moskau 1933, Teil I, S. IX.

78   H. Selsam, Sozialismus und Ethik, S. 55; vgl. auch S. 57.

79   Programma..., S. 120; vgl. B. Meissner, Das Parteiprogramm der KPdSU 1903 bis 1961, S. 228.

80   H. Selsam, a. a. O., S. 55.

81   N. S. Chruščev in seiner Rede auf dem 21. Parteitag am 27. 1. 59, zit. B. Meissner, Rußland unter Chruschtschow, S. 585.

82 A. Schischkin, Die Grundlagen der kommunistischen Moral, S. 351.

83 A. Schischkin, a. a. O., S. 351—352.

 

 

4. Normen der sowjetischen Moral

Die Fundierung der Moral im Mitsein sagt noch nichts über die Norm oder den Maßstab aus, nach dem einzelne und konkrete Akte des Menschen sittlich beurteilt werden können. Das Mitsein trägt wohl die kommunistische Moral. Wie kommt das Mitsein aber konkret zum Ausdruck, um zum Maßstab dieser oder jener Handlung zu werden? Wie wird das Mitsein als Fundament der Moral zum Kriterium der Moral?

In der christlichen Moral gibt es zwei Normen, nach denen die Sittlichkeit einer Handlung bestimmt wird: das Gewissen und das Gesetz Gottes. Das Gewissen ist die subjektive Norm, das Gesetz Gottes die objektive; das Gewissen ist die nächste Norm, das Gesetz Gottes die weiteste. Der christliche Mensch soll in seinem Handeln die beiden Normen berücksichtigen, denn der volle sittliche Wert einer Handlung liegt nur in der Übereinstimmung des Gewissens mit dem Gesetz Gottes. Da jedoch das Gesetz Gottes im konkreten Leben nicht immer völlig klar vorliegt, und da wir nicht jede Situation, in die wir konkret geraten, nach dem Gesetz Gottes bestimmen können, bleibt uns unser Gewissen als die nächste Norm, nach der wir uns in unseren Handlungen orientieren sollen. Das Gewissen interpretiert das Gesetz Gottes in einer konkreten Situation und befiehlt uns so oder so zu handeln. Objektiv kann sich das Gewissen in seiner Interpretation zwar irren, subjektiv aber bleibt es in seiner Entscheidung immer verpflichtend. Der Mensch darf, nach der christlichen Auffassung, nie gegen sein Gewissen handeln, selbst dann nicht, wenn eine Handlung objektiv auch richtig wäre.

Andererseits erkennt das Christentum jede Handlung des Menschen als sittlich an, die aus einer ernsten und tiefen Gewissensentscheidung hervorgeht, mag sie im konkreten Fall auch objektiv gegen das Gesetz Gottes verstoßen. Das Gewissen spielt in der konkreten christlichen Sittlichkeit die entscheidende Rolle. Da das Gewissen eine höchst persönliche Sache ist, so kommt in der Anerkennung des Gewissens als Norm der Moral die große Ehrfurcht des Christentums vor der menschlichen Person zum Ausdruck. Ungeachtet vieler geschichtlicher Sünden gegen das Gewissen seitens der Vertreter der Kirchen, hat das Christentum als Religion diese Norm nie preisgegeben.

Die kommunistische Ethik spricht ebenfalls vom Gewissen. Doch sie deutet es ganz anders als die christliche Ethik. Das Gewissen stellt im Marxismus keine innerlich verpflichtende Macht dar, weil es selbst relativ ist. Marx lehnte das Gewissen als Garantie für eine unparteiische Entscheidung eben deshalb ab, weil das Gewissen wesentlich parteiisch ist. Im Zusammenhang mit dem Prozeß Gottschalks in Köln im Jahre 1848 schrieb er: „Das Gewissen der Geschworenen, wird man uns antworten, das Gewissen; verlangt man eine größere Garantie? Aber, mon Dieu, das Gewissen hängt mit dem Wissen und der ganzen Daseinsweise eines Menschen zusammen. Ein Republikaner hat ein anderes Gewissen als ein Royalist, ein Besitzender ein anderes Gewissen als ein Besitzloser, ein Denkender ein anderes als ein Gedankenloser . . . Das Gewissen der Privilegierten ist eben ein privilegiertes Gewissen.“84 Das Gewissen ist die Widerspiegelung der klassenbedingten Situation des Menschen. Wie jede Klasse eine andere Moral hat, so hat jede Klasse auch ein anderes Gewissen. Für die marxistische Ethik ist das Gewissen „keine von Gott stammende und dem Menschen von Gott gegebene Fähigkeit, seine Handlungen einzuschätzen und zu beurteilen. Das Gewissen ist das Bewußtsein der moralischen Verantwortlichkeit des Menschen für sein Verhalten gegenüber den anderen Menschen, gegenüber der Gesellschaft (der Klasse), ist das Bewußtsein der Verantwortlichkeit für das Schicksal der anderen Menschen, seines Volkes (seiner Klasse) und der Menschheit“85. Das Wesen des Gewissens besteht nicht in der Fähigkeit, seine Handlungen sittlich zu beurteilen, sondern im Wissen um seine Verantwortlichkeit gegenüber dem anderen im Sinne des früher dargestellten Mitseins. Es ist auf das Mitsein ausgerichtet und wird vom Kollektiv getragen. Deshalb sagt A. F. Šiškin, das Gewissen als Bewußtsein der Verantwortlichkeit gegenüber den anderen Menschen „kann sich nur im Kollektiv richtig entwickeln“; es ist das Produkt „der täglichen Arbeit, der gesellschaftlichen Tätigkeit“, und „je größer das Kollektiv ist, für dessen Schicksal der Mensch eine persönliche Verantwortung empfindet, um so entwickelter ist das Gewissen“86. Das Gewissen ist keine personale Sache: keine Stimme Gottes in uns, keine Stimme unseres Selbstseins als authentische Existenz; es ist die Stimme des Kollektivs in uns.

Daraus folgt, daß es im Kommunismus, wie Šiškin weiter erklärt, „keinen Konflikt mit dem Gesetz“ geben kann; d. h. keinen Konflikt zwischen dem Gewissen in uns und dem Gesetz außer uns ; das kommunistische Gewissen teilt sich nicht „in das Gewissen des Menschen und das Gewissen des Bürgers“: das Gewissen des Bürgers ist zugleich auch das Gewissen des Menschen, denn das Bewußtsein der Wahrheit des Kommunismus macht das Gewissen des Menschen „zu einem Bestandteil des Volksgewissens“ (im Original „obščenarodnyj“).87 Das, was das Kollektiv fordert, fordert zugleich auch das Gewissen als Stimme des Kollektivs in uns. Man darf daher nicht dem Gewissen folgen, falls seine Entscheidung sich nicht mit der Forderung des Kollektivs deckt. Der Mensch als Selbstsein besitzt in sich, wie schon gesagt, keine Normen des sittlichen Verhaltens. Will er trotzdem sein dem Kollektiv widersprechendes Gewissen als Norm ansehen und ihm folgen, so handelt er anarchistisch, im besten Fall individuahstisch und egoistisch, also grundsätzlich unsittlich. „Die logische Achse unseres Sittengesetzes“, sagt A. S. Makarenko, „kann keinesfalls das sich abkapselnde Individuum sein, das sich den sozialen Entscheidungen gegenüber gleichgültig verhält. Unser Handeln darf nur an den Interessen des Kollektivs und des Kollektivmenschen gemessen werden.“88 Dasselbe auch bei Šiškin: „Ausgangspunkt der fortschrittlichsten Moral der Menschheit (diese Moral ist eben die kommunistische Moral, Vf.) kann nicht das persönliche, sondern nur das gesellschaftliche Interesse sein . . . Moralisch im subjektiven und objektiven Sinne kann nur eine Handlung sein, die diktiert ist von der Sorge um andere Menschen, von der Sorge um die gesellschaftlichen Interessen.“89 Die Entscheidung des personalen Gewissens, die das Christentum für das Unantastbare schlechthin erklärt und derer Bespektierung die heutige freie Menschheit sogar rechtlich verwirklicht, wird im Kommunismus mit dem „persönlichen Geschmack“ gleichgesetzt und die Befolgung dieser Entscheidung „eine Moral der Tiere“ genannt.90 Ein subjektives Kriterium in der Form des Gewissens, das über den sittlichen Charakter der Handlungen zuallererst entscheidet und in jedem Fall als verpflichtend gilt, kennt die sowjetische Ethik nicht.

Die einzige Norm der Sittlichkeit konkreter Handlungen ist in der sowjetischen Ethik die objektive Forderung des Mitseins. „Diese oder jene Haltung der Person diktiert nicht die subjektive Vernunft, sondern die objektive Logik der gesellschaftlichen Beziehungen“91, behauptete schon G. Plechanov. Nach etwa sechzig Jahren schreibt Šiškin dasselbe: „Die Normen für das Verhalten der Sowjetmenschen“ liegen „in ihrer gesamten gesellschaftlichen und staatlichen Tätigkeit.“92 Es ist gut und wünschenswert, wenn das Gewissen des einzelnen dasselbe verlangt, was auch die gesellschaftliche Tätigkeit dem Menschen vorschreibt; dann wird es dem Menschen leichter, seine Pflicht zu erfüllen. Doch den sittlichen Wert seiner Handlung beeinträchtigt sein Gewissen nicht. Bei der Erfüllung objektiver Aufgaben im Kollektiv zeigt sich das Gewissen nur als psychologischer Faktor, nicht aber als moralischer Maßstab.

Das Mitsein oder, wie Plechanov es nennt, die objektive Logik der gesellschaftlichen Beziehungen wird von der sowjetischen Ethik als das proletarische Mitsein und als die Logik des Klassenkampfes interpretiert. Somit werden die Forderungen des Kommunismus zur Norm der Moral. In der oben bereits zitierten Rede an die Jungkommunisten Rußlands (1920) hat Lenin diese Norm ganz deutlich verkündet: „Wir sagen, daß unsere Sittlichkeit völlig den Interessen des proletarischen Klassenkampfes untergeordnet ist. Unsere Sittlichkeit entspringt aus den Interessen des proletarischen Klassenkampfes.“93 Und ein wenig weiter: „Die kommunistische Sittlichkeit ist jene Sittlichkeit, die diesem Kampf dient, die die Werktätigen zusammenschließt gegen jede Ausbeutung, gegen jedes Kleineigentum (S. 69) . . . Für den Kommunisten besteht die Sittlichkeit ganz und gar in dieser festen, solidarischen Disziplin und in dem bewußten Kampf der Massen gegen die Ausbeuter . . . Die Sittlichkeit dient dazu, daß die menschliche Gesellschaft höher steige und sich von der Ausbeutung der Arbeit befreie“ (S. 70). Diese Worte Lenins faßte später Šiškin in eine kurze Formel zusammen: „Sittlich ist alles, was der Sache des Kommunismus dient.“94 Die Sache des Kommunismus ist die letzte Norm der kommunistischen Moral. Diese Norm bestimmt alle Akte, alle Gedanken, alle Gefühle des kommunistischen Menschen in ihrem sittlichen Charakter. „Fördert oder schadet diese oder jene Tat der Bewegung zum Kommunismus? — das ist das Maß, welches die Sowjetgesellschaft der Bestimmung des Gesetzlichen oder Ungesetzlichen, des Sittlichen oder Unsittlichen zugrunde legt.“95

Daraus folgt, daß die sowjetische Ethik den Unterschied von Legalität und Moralität nicht oder kaum kennt. Da die Sache des Kommunismus die höchste Norm der Moral darstellt und da sowjetische Gesetze die Sache des Kommunismus fördern, so ist die Verletzung sowjetischer Gesetze nicht nur ungesetzlich, sondern zugleich auch unmoralisch. „Die Beachtung der Sowjetgesetze ist nicht nur eine juridische Verpflichtung jedes Sowjetbürgers, sondern wird von ihm auch als moralische Pflicht angesehen. Und umgekehrt, jedes Verbrechen gegen die Sowjetgesetzlichkeit zeigt sich als Verletzung der sozialistischen Sittlichkeit und wird der moralischen Verurteilung von seiten der Sowjetmenschen unterworfen.“96 Das erklärt die Empörung sowjetischer Massen, die jeden politischen Prozeß in der Sowjetunion begleitet und — wenigstens teilweise — echt ist, wie dies uns I. Lepp bezeugt: „Selbst die Empfindsamsten (unter den Kommunisten, Vf.) empfanden kein Mitleid mit denen, die als Saboteure der Errungenschaften des siegreichen Proletariates betrachtet wurden,“97 Deshalb bemühen sich die sowjetischen Gerichte, die politischen Feinde des Sowjetregimes als Feinde des Kommunismus zu überführen und somit sie auch als Menschen moralisch herabzuwürdigen: jeder, der vom Staate bestraft wird, soll als sittlich minderwertiges Individuum betrachtet werden. Denn der Sowjetstaat gilt nicht nur als „eine politische, sondern auch als eine moralische Macht“98. Er verwirklicht kraft seiner Gesetze „die echt menschliche, kommunistische Sittlichkeit“ (ebd.); jeder Verstoß gegen den Staat bedeutet daher auch einen Verstoß gegen die Sittlichkeit. Jede Ungesetzlichkeit ist zugleich auch eine Unsittlichkeit.

Das macht auch die Rolle verständlich, die das Resultat, das Ergebnis bei der sowjetischen Beurteilung des sittlichen Wertes einer Handlung spielt. A.. F. Šiškin sagt, „die marxistische Ethik anerkennt die große Bedeutung der inneren moralischen Antriebe des Menschen, sie lehrt (jedoch), die menschlichen Handlungen und die moralische Würde des Menschen nicht so sehr nach seinen inneren Antrieben einzuschätzen, ihn nach den Motiven seiner Handlungen zu beurteilen, als vielmehr nach den Ergebnissen dieser Handlungen . . . Die eine oder andere Person des öffentlichen Lebens kann subjektiv dem Volke ergeben sein und gleichzeitig zu dessen Schaden handeln“. Die Sittlichkeit dieser Personen wird dann „nach den objektiven Ergebnissen“ ihrer Tätigkeit beurteilt.99 Das heißt, „der Mensch trägt die moralische Verantwortung für eine die Gesellschaft schädigende Handlung nicht nur dann, wenn seine Handlungen der Gesellschaft zum Schaden gereichen und er die sozialen Folgen seines Verhaltens vorausgesehen und gewünscht hat, sondern auch dann, wenn er die sozialen Folgen seiner Handlungen nicht vorausgesehen hat, obwohl er sie hätte voraussehen können und müssen“100.

Auf den ersten Blick kann diese Lehre der sowjetischen Ethik als selbstverständlich erscheinen: wir alle legen ja großen Wert auf das Besultat einer Handlung. Und doch bedeutet das Resultat als Kriterium der sitt-liehen Beurteilung einen grausamen Objektivismus. Denn sehr wenige unserer Handlungen sind im Moment ihrer Entstehung bereits in der Tragweite ihrer Resultate überschaubar. Meistens entwickeln die Ergebnisse ihre volle Bedeutung erst nach einer längeren Zeit. Erst nach Jahren, ja Jahrzehnten können wir sagen, welches Resultat diese oder jene Handlung eigentlich gehabt hat. Wenn wir nun diese oder jene Person in ihrem sittlichen Charakter nach den objektiven Resultaten ihrer Handlung beurteilen, unterliegen unsere Beurteilungen und damit auch der Wert der beurteilten Person unvorhersehbaren Schwankungen und Veränderungen, die sich aus der Entwicklung der Resultate im Laufe der Zeit von selbst ergeben. Der sittliche Wert des Menschen wird dann von Umständen abhängig gemacht, die er selber weder gewollt noch hervorgerufen hat. Das bedeutet, daß der Mensch auch für das Ungewollte und Unvorhergesehene verantwortlich gemacht wird. Šiškins Prinzip, der Mensch hätte „die sozialen Folgen“ seiner Handlungen „voraussehen können und müssen“ (ebd.), erklärt nichts, denn niemand kann mit Sicherheit behaupten, diese oder jene Person hätte die Folgen seiner Handlung voraussehen können. Bei veränderten Umständen sieht man doch das Vergangene in einem ganz anderen Licht und urteilt darüber viel leichter und viel treffender als im Moment der Handlung selbst. Wird das zum Maßstab des sittlichen Wertes gemacht, so können viele Menschen moralisch disqualifiziert und sogar vors Gericht gebracht werden, die in der Vergangenheit nicht nur die besten Absichten gehabt, sondern auch für die Gesellschaft mit dem größten Erfolg gehandelt haben.

Solche Fälle weist leider die Geschichte der Sowjetunion und der anderen kommunistischen Länder in Hülle und Fülle auf. Das ist die Folge jener rein objektiven Norm, die in der Doktrin des Kommunismus verankert ist und somit der Veränderung nicht nur der Sache selbst, sondern auch der „Generallinie“ unterworfen bleibt. Wachsen die Ergebnisse bei ihrer sozialen oder politischen Entwicklung in ihrem gesellschaftlichen Wert, so wird der Handelnde zum Vorbild und Helden. Zeigen sich die Resultate im Laufe der Zeit als belanglos, so wird ihr Veranlasser vergessen. Erweisen sich die Resultate in der späteren Periode des kommunistischen Lebens als untragbar oder schädlich, so wird der, der vielleicht einmal durch seine Tat Vorbild war, zum Verbrecher und Schädling gestempelt. Und so geschieht es in der kommunistischen Ethik nicht nur mit Lebenden, sondern sogar mit Toten. Die Beurteilung des moralischen Wertes eines Sowjetmenschen wird selbst mit dem Tode nicht abgeschlossen. Die Sache des Kommunismus ist ja ein geschichtliches Phänomen, das immer im Werden ist. Wird diese Sache zur Norm der Moral gemacht, so wird auch der ethische Wert des Menschen zur geschichtlichen Größe, die damit nicht stabil bleiben kann. Der Vergleich der Charakteristiken sowjetischer Persönlichkeiten in der „Großen sowjetischen Enzyklopädie“ aus der Epoche Stalins mit den späteren Ausgaben liefert ein sehr aufschlußreiches Material in dieser Hinsicht und veranschaulicht ganz konkret jene unheimliche Wandlung.

Die Sache des Kommunismus als Norm der Moral ist trotz ihrer Geschichtlichkeit immerhin noch ein ziemlich abstraktes Kriterium. Es zeigt konkret nicht, was der Sache des Kommunismus entspricht oder ihr widerspricht. Konkrete Handlungen des Menschen verlangen immer eine Interpretation. In dieser Hinsicht befindet sich der kommunistische Mensch praktisch in der gleichen Situation wie auch der Christ angesichts des ewigen Gesetzes Gottes, das im Alltag ebenfalls interpretiert werden muß. Der Unterschied besteht jedoch darin, daß der Christ eine subjektive Norm besitzt, nämlich sein eigenes Gewissen, das das Gesetz Gottes konkret interpretiert und somit seine Handlungen in einer konkreten Situation sittlich bestimmt. Der kommunistische Mensch besitzt solche subjektive Norm nicht: das einzelne Gewissen darf nicht die Sache des Kommunismus interpretieren und konkret bestimmen, was dieser Sache entspricht und deshalb getan, oder was ihr widerspricht und deshalb unterlassen werden soll. Wo findet dann der kommunistische Mensch diese sogenannte „nächste Norm“, die seine Handlungen nach den konkreten Forderungen des Kommunismus bestimmen soll?

Die Begründung der kommunistischen Moral durch das Mitsein verlangt von selbst, daß nicht die Person als Selbstsein, sondern eine konkrete Vertretung des Mitseins oder der Gesellschaft als der nächste Interpret der Sache des Kommunismus auftritt und die Pflichten des Menschen konkret festlegt. Wer oder was bildet diese Vertretung? Die Antwort darauf ist leicht zu finden. Das Mitsein bedeutet in der sowjetischen Ethik, wie gesagt, nicht das allgemein menschliche Zusammenleben, sondern das Mitkämpfen der Kommunisten allein. Konkret äußert sich das Mitsein im Klassenkampf, der von der kommunistischen Bewegung bewußt und planmäßig geführt wird. Die kommunistische Bewegung wird aber — ebenfalls bewußt und planmäßig — von der kommunistischen Partei geleitet. Die kommunistische Partei tritt als Vertretung des Mitseins auf und wird somit auch zum konkreten Interpreten der Sache des Kommunismus. Sie allein ist es, die die raum- und zeitgebundenen Pflichten des einzelnen bestimmt und regelt. „Die marxistische Partei“, sagt Šiškin, „deckt in jeder Etappe des Kampfes die Obliegenheiten der Kämpfer für den Kommunismus und aller fortschrittlichen Menschen auf und strebt danach, daß diese Obliegenheiten als moralische Pflichten erkannt werden.“101

Die kommunistische Partei interpretiert also die konkrete Situation und formuliert Aufgaben und Pflichten für den einzelnen. Diese Interpretation wird von ganz konkreten Bedingungen der Zeit und des Baumes getragen, deshalb kann sie sehr verschieden und sogar heute der von gestern entgegengesetzt sein, was wir in der Geschichte der praktizierten sowjetischen Ethik schon oft erlebt haben. Die Stabilität der Ehe zum Beispiel wurde in den dreißiger Jahren als bürgerliches Vorurteil betrachtet. Heute ist die Stabilität der Ehe als ethischer Wert angesehen und ihre Wahrung als moralische Pflicht aller bewußten Kommunisten verkündet: wer sich über das geregelte Familienleben lustig macht, zeigt damit nur, daß er „ein rückständiger Mensch“ ist.102 Die moralischen Pflichten entstehen aus der Situation des Kampfes, deshalb ändern sie sich gerade mit dieser Situation. „An eine ewige Sittlichkeit glauben wir nicht“, hat Lenin in der oben zitierten Rede an die Jungkommunisten feierlich verkündet.103 Die kommunistische Moral bleibt immer an die jeweilige Lage des Kommunismus gebunden. Nun wird diese Lage nicht vom Gewissen des einzelnen, sondern von der Partei konkret interpretiert. Die kommunistische Partei übernimmt die Funktion des Gewissens und wendet die allgemeine Sache des Kommunismus auf den konkreten Fall des einzelnen an.

Wie jedie Moral, so hat auch die sowjetische Moral, wie wir nun sehen, zwei Normen oder Kriterien: die weiteste Norm, die in den Forderungen oder in der Sache des Kommunismus besteht, und die nächste Norm, die von den Entscheidungen der kommunistischen Partei festgelegt wird. Alles ist sittlich, was der Sache des Kommunismus dient. Was aber konkret der Sache des Kommunismus dient, bestimmt die Partei. Die beiden Normen sind rein objektiven Charakters, d. h. sie liegen außerhalb der personalen Entscheidung des Gewissens. Das ist aber keine Zufälligkeit, sondern die notwendige Folge, denn die sowjetische Moral ist nichts anderes als die in die Praxis übersetzte marxistische Welt- und Lebensanschauung, „ein Teil der marxistisch-leninistischen Weltanschauung“, wie sie Šiškin nennt.104 Die sowjetische Ethik formuliert Grundsätze der menschlichen Haltung so, wie sie den Menschen selbst deutet. Der Marxismus begründet seine Moral durch das Mitsein deshalb, weil er den Menschen als Produkt der universalen Entwicklung der Naturwelt und nicht als ein einmaliges, unwiederholbares personales Wesen versteht. Er sucht die weiteste Norm des menschlichen Verhaltens im Klassenkampf deshalb, weil der Klassenkampf die Form des geschichtlichen Daseins des Menschen ist. Er unterwirft das Gewissen des einzelnen den Verordnungen der Partei deshalb, weil das Gewissen als Stimme des Kollektivs und die Partei als Vertretung dieses Kollektivs verstanden werden sollen. Er interpretiert die Liebe als Mitkampf für den Kommunismus und predigt den Haß gegen seine Feinde deshalb, weil es mit dem Feinde keine Versöhnung geben kann, d. h. weil der Kampf selbst auf Leben und Tod vor sich geht — nach dem allgemeinen Prinzip der Unversöhnlichkeit der Gegensätze, die sowohl im Leben der Menschheit als auch im Leben der Natur walten. Die sowjetische Moral objektiviert im menschlichen Verhalten nur das, was sich, nach der marxistischen Interpretation, im Sein selbst abspielt. Die sowjetisdie Ethik beweist somit höchst eindrucksvoll, daß Moral und Weltanschauung nicht zwei Elemente im menschhchen Dasein, sondern nur zwei Ausprägungen oder Äußerungsformen ein und desselben Daseins sind.

84 K. Marx — Fr. Engels, Werke, Bd. VI, S. 129—130.

85 A. Schischkin, a. a. O., S. 357—358.

86 A. Schischkin, a. a. O., S. 358.

87   A. F. Šiškin, Nekotorye voprosy kommunističeskoj morali, S. 14.

88   A. S. Makarenko, Werke, Bd. V, S. 428.

89   A. Schischkin, Die Grundlagen der kommunistischen Moral, S. 351.

90 A. F. Schischkin, Die bürgerliche Moral . . ., S. 79.

91   G. V. Plechanov, Izbrannye filosofskie proizvedenija, Bd. II, S. 451.

92   A. F. Schischkin, Die bürgerliche Moral . . ., S. 113.

93   W. I. Lenin, Über die Religion, S. 66.

94   A. F. Schischkin, Die bürgerliche Moral . . ., S. 112. — Diese Formel finden wir in allen ethischen Werken sowjetischer Denker.

95   M. Z. Selektor, Pravo i nravstvennostj, S. 78.

96 M. Z. Selektor, a. a. O., S. 78—79.

97 I. Lepp, Von Marx zu Christus, S. 111—112. — Daraus folgt auch das Fehlen des „Mitgefühls des Verzeihens“, worauf Šiškin hinweist (vgl. Die Grundlagen der kommunistischen Moral, S. 355).

98 M. Z. Selektor, a. a. O., S. 88.

99 A. Schischkin, Die Grundlagen der kommunistischen Moral, S. 345; vgl. auch Voprosy filosofii, 1956, Nr. 4, S. 7.

100 A. Schischkin, a. a. O., S. 345.

101 A. F. Šiškin, Nekotorye voprosy kommunističeskoj morali, S. 12; vgl. auch A. Schischkin, Die Grundlagen der kommunistischen Moral, S. 356.

102   W. Ashajew, Fern von Moskau, S. 281. — Uber die Anfangsperiode der sowjetischen Ehe: P. Chaplet, La famille soviétique. Etude historique et juridique, Paris 1929; über die juridische Lage der Gegenwart: D. Lober, Das Eherecht der Sowjetunion, Marburg 1950; A. Bilinsky, Das sowjetische Eherecht, Herrenalb 1961; über die ethische Auffassung der Ehe: N. Solovjev, Semja v sovetskom obščestve (Die Familie in der sowjetischen Gesellschaft), Moskau 1962.

103   W. I. Lenin, Uber die Religion, S. 70.

104   A. F. Schischkin, Die bürgerliche Moral . . ., S. 112; vgl. auch S. 19.

 

 

III. Atheismus als Lebensform des Sowjetmenschen

Nach der Befreiung Frankeichs am Ende des 2. Weltkrieges flog Jean Paul Sartre, der damals auf dem Gipfel seines Ruhmes stand, nach Genf und wurde dort von einer Schar von Journalisten empfangen. Stolz und mutig schritt er auf die Presseleute zu und begrüßte sie mit den Worten: „Meine Herren, Gott ist tot.“ — Gabriel Marcel, der dieses Ereignis erzählt, bemerkt dazu, man könne nicht überhören, daß „der existentielle Ton hier völlig verschieden ist“ von dem Fr. Nietzsches, der die gleichen Worte etwa 60 Jahre früher (1882) ausgesprochen hat. „Das heilige Entsetzen“, das den Grundton bei Nietzsche bildet, fehlt bei Sartre völlig: an seine Stelle tritt Genugtuung, ja sogar Jubel.1 Nietzsche erzählt nämlich, daß sein ,toller Mensch', nachdem er den Tod Gottes verkündet hat, in verschiedene Kirchen geht und dort ,Requiem aeternam deo‘ anstimmt, ein Trauerlied um den verstorbenen Gott. Die Begrüßung Sartres klingt dagegen eher wie eine Hymne auf die Freiheit des Menschen ohne Gott. Sartre stand damals eindeutig auf der Seite des Kommunismus.2

Dieses, von außen betrachtet, unbedeutende Ereignis wird zum Sinnbild, wenn wir nach dem Unterschied zwischen dem bürgerlichen und dem marxistischen Atheismus fragen. Der Atheismus als psychologisches Phänomen ist sehr alt. Von ihm spricht schon der Psalmendichter des Alten Testamentes (vgl. Ps. 2, 1—3; 13, 1); ihn stellen wir auch in der griechischen Sophistik, vor allem bei Protagoras, Prodikos und Kritias fest. So gesehen, ist der kommunistische Atheismus nichts Neues. Auch der Atheismus als sozialpolitisches Phänomen ist uns schon lange bekannt. Die gesamte Entwicklung der modernen Gesellschaft verlief doch so, daß Gott aus dem öffentlichen Leben immer mehr ausgeschaltet wurde. Allerdings wurde er dabei nicht immer theoretisch verneint, aber man organisierte das Leben — die Gesetzgebung, die Schule, die Familie — so, als ob es Gott überhaupt nicht gäbe. Auch in dieser Hinsicht ist der kommunistische Atheismus nichts Originelles. Weder als psychologische Stimmung noch als objektives Gestaltungsprinzip kann also der marxistische Atheismus für etwas bisher noch nie Dagewesenes gehalten werden.

Und doch bestehen die kommunistischen Denker darauf, daß ihre Gottlosigkeit „die höchste Form des Atheismus“ darstellt.3 Damit bejahen sie zwar einen inneren Zusammenhang des marxistischen Atheismus mit der allgemeinen atheistischen Bewegung der Geschichte, gleichzeitig aber schreiben sie ihrem Atheismus eine besondere Bedeutung zu, die gerade darin bestehen soll, daß der kommunistische Atheismus den allgemeinen Atheismus zur Vollendung bringt und deshalb sich als seine höchste Form versteht. Was bedeutet aber diese Vollendung und diese höchste Form? In Sartres Begrüßungswort sehen wir eine Beantwortung dieser Frage.

Der bürgerliche Atheismus war und blieb ausgesprochen negativen Charakters: er leugnete zwar die Existenz Gottes, doch der bürgerliche Atheist lebte nicht aus dieser Leugnung, denn aus der Negation kann man nicht leben. Er lebte nämlich aus dem, was die Geschichte, als sie noch theistisch verstanden wurde, geschaffen hatte. Der bürgerliche Atheist wagte nicht, mit der aus dem Theismus hervorgegangenen Wertordnung radikal zu brechen. Ludwig Feuerbach, der Vorkämpfer des bürgerlichen Atheismus im 19. Jahrhundert, warf seinen Zeitgenossen allerdings vor, sie erschrecken „vor dem religiösen Atheismus“ ihres Herzens und seien „zu feige oder zu beschränkt“, das mit Worten einzugestehen, was das Gefühl „im stillen bejaht“, denn „das Gefühl ist atheistisch“4. Aber auch Feuerbach selbst trat in die Fußtapfen seiner Zeitgenossen, als er behauptete und sogar feierlich verkündete, daß alle Werte, die in der Epoche des Theismus für heilig gehalten wurden, auch weiterhin heilig bleiben, nur daß sie ihre Heiligkeit nicht aus dem Zusammenhang mit Gott schöpfen, sondern ihren „Heiligungsgrund in sich selbst“ tragen.5 Die Größe des atheistischen Gefühls, theoretisch anerkannt und empfohlen, wurde von Feuerbach wieder dadurch aufgehoben, daß dieses Gefühl sich in die Anbetung dessen verwandelte, was auch bisher heilig war. Feuerbach zeigte sich ebenfalls nicht imstande, den Atheismus als reine Verneinung zu übersteigen und aus ihm etwas positiv Neues zu entwickeln. Alles Positive übernahm er aus dem Theismus. Dasselbe muß man auch von Nietzsche sagen. Er erkannte zwar die Bedeutung des Todes Gottes sehr klar und verkündete deshalb den Eintritt „in eine höhere Geschichte“, der sich nach dem Mord des Heiligsten und Mächtigsten vollziehen soll. Sein toller Mensch empörte sich sogar, daß die Menge auf dem Marktplatz „die Größe dieser Tat“ nicht verstand. Er warf deshalb seine Laterne auf den Boden, so „daß sie in Stücke sprang und erlosch“. Er hielt seine Verkündigung für verfrüht: sie war „noch nicht an der Zeit“. Und doch sagte auch Nietzsche nicht, worin eigentlich die Größe des Todes Gottes besteht und warum die Geschichte ohne Gott höher ist als jede bisherige Geschichte, in der Gott noch lebte. Mehr noch: man spürt bei Nietzsche, wie gesagt, eine deutliche Trauer um den verstorbenen Gott; sein toller Mensch spricht ja von der Nacht, die sich nach dem Tode Gottes überall ausbreitet; er redet bitter von der verlorenen Richtung der Erde, die nicht mehr weiß, ob sie „rückwärts, seitwärts, vorwärts“ fliegt. „Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?“ fragt er.6 Auch bei Nietzsche bleibt der Atheismus noch rein negativ, ohne irgendwelche Lichtblicke für die Zukunft des Menschen. Wenn Nietzsche hie und da vom Wagnis des Erkennenden oder vom freien Horizont auch spricht, so bleibt all das immerhin noch sehr verschwommen.

Nun tritt der Atheismus in seiner marxistischen Form in eine völlig neue Phase ein. In der Leugnung Gottes hat der Marxismus etwas entdeckt, was für den Menschen höchst positiv sei. Der marxistische Atheismus ist nämlich eine Negation der Negation. Schon Feuerbach behauptete, „der Glaube beschränkt, borniert den Menschen; er nimmt ihm die Freiheit“7. Verneinen wir aber den Glauben, so gewinnen wir unsere Freiheit zurück — das ist der Schluß, den der Marxismus aus dem Atheismus als Verneinung Gottes gezogen hat. Infolgedessen verwandelt sich auch der Charakter des marxistischen Atheismus von Grund auf. Der marxistische Atheismus als Zurückeroberung der menschlichen Freiheit erweist sich als höchst positiv und zukunftsträchtig. Er hinterläßt keine Lücke wie bei Feuerbach; er wirft keinen Schatten auf das menschliche Dasein wie bei Nietzsche. Die Nichtexistenz Gottes erscheint im Marxismus als notwendige Voraussetzung für die wahre Existenz des Menschen, denn diese Existenz ist nur als Werdegang der Freiheit möglich. Andererseits: stellt sich der Marxismus als seine höchste Aufgabe, den Menschen zu befreien, so ist der Atheismus der primäre Weg, auf dem diese Befreiung erreicht werden kann. Kurz formuliert, die Verneinung Gottes als Negation der Negation wird zur höchsten Positivität. Das ist der Grundgedanke der marxistischen Religionsphilosophie; ein Gedanke, dessen Begründung und Entfaltung wir nun verfolgen wollen.

 1  G. Marcel, Der Mensch als Problem. Frankfurt/M. 1956, S. 40.

 2  Über Sartres Beziehung zum Kommunismus vgl. E. Salės, Sartre und der Kommunismus, in „Ostprobleme“, 1957, Nr. 12, S. 413-418.

3 A. S. Karljuk, Očerki po naučnomu ateizmu (Umrisse des wissenschaftlichen Atheismus), Minsk 1961, S. 5; vgl. auch: Osnovnye voprosy naučnogo ateizma (Grundfragen des wissenschaftlichen Atheismus), hrsg. von I. D. Pancchava, Moskau 1962, S. 7.

4   L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Bd. I, S. 48.

5   L. Feuerbach, a.a.O., Bd. II, S. 414 ff.

6   Fr. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 125.

7   L. Feuerbach, a. a. O., Bd. II, S. 378.

 

1. Die Dialektik des sowjetischen Atheismus

Als E. M. Jaroslavskij (1878—1943), der Begründer und Führer des ehemaligen Bundes kämpferischer Gottloser, im Jahre 1925 einen Kommentar zum Dekret über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche (vom 4. Dezember 1917) schrieb, fragte er: „Wodurch stört Gott die Kommunisten? Wodurch stört sie die Religion? Ist es für den Sieg des Kommunismus nicht gleichgültig, ob die Kommunisten an Gott, Götter, Göttinnen, unreine Geister glauben oder nicht glauben? Ist es unmöglich, Kommunist und gleichzeitig gläubiger Mensch zu sein?“ Diese Frage werde „von Millionen Arbeitern und Bauern“ gestellt; sie sei es gerade, die diese Menschen davon abhalte, „sich auf den Weg des Kommunismus zu begeben und in die Reihen der kommunistischen Partei einzutreten“. Mit seinem Kommentar wollte mm Jaroslavskij allen „Arbeitern, Kolchosniken und Bauern“ zum Bewußtsein bringen, „warum der Kommunist kein Bekenner einer Religion sein kann“ und „warum die Sowjetmacht die Kirche vom Staat und die Schule von der Kirche getrennt hat“.8

In unseren Tagen erhebt sich diese Frage von neuem, und zwar mit einer noch größeren Dringlichkeit. Denn zur Zeit Jaroslavskijs stellte sie sich nur für „Tausende von Schwankenden“, die „mit all ihren Gedanken bereits bei der kommunistischen Partei waren“9. Heute dagegen geht sie uns alle an. Bis zum zweiten Weltkrieg galt die These, der Kommunismus ist seiner Natur nach antireligiös, als selbstverständlich. Die Theorie des dialektischen Materialismus und die Praxis des sowjetischen Staates waren deutliche Beweise dafür. Nun versucht man, den Marxismus vom Atheismus zu lösen und diesen nicht als wesensnotwendig, sondern als situationsbedingt und daher als vorübergehend umzudeuten. Ja, man spricht sogar von einem „postatheistischen Zeitalter“ (J. B. Metz), in das der Marxismus eintritt und dem es nicht mehr um die Verneinung Gottes, sondern um die Bejahung des Menschen geht — nach der These Marxens selbst, „die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei“10.

Der erste Versuch, den marxistischen Atheismus in diesem Sinne umzudeuten und somit eine gewisse Koexistenz zwischen dem Kommunismus und der Religion zu ermöglichen, ging — und das ist gerade sehr aufschlußreich — von der orthodoxen Geistlichkeit der Sowjetunion aus. Im Jahre 1954 erschien in der sowjetischen Zeitschrift für Philosophie ein Aufsatz von F. N. Oleščuk über „Religiöse Überbleibsel und Wege zu ihrer Überwindung“11. Als Stellungnahme zu diesem Artikel schrieb V. P. Rozov, ein orthodoxer Geistlicher, einen Brief an die Schriftleitung, und dieser Brief wurde beantwortet, ohne jedoch im Wortlaut wiedergegeben zu werden. Neben dem Hinweis, daß viele Naturwissenschaftler an Gott glauben und daß also die Religion und die Wissenschaft sidi durchaus vertragen können, gibt Rozov auch eine kurze Deutung des marxistischen Atheismus: dieser sei „nur eine antikirchliche Bewegung als unausweichlicher Protest gegen die Unordnung in der Kirche selbst, nicht aber die Verneinung des Glaubens an Gott“; der Atheismus sei durch Fehler und Mißbrauche einzelner Geistlicher, „die die Religion zum Werkzeug ihrer Leidenschaften machten“, verursacht worden.12 Das ist genau dieselbe Deutung, durch die der katholische Theologe M. Reding im Westen in den letzten Jahren bekanntgeworden ist. In seinem Buch „Der politische Atheismus“ (Graz 1957)13 entwickelt Reeling die These, „Marxens Materialismus ist nicht notwendig atheistisch“ (S. 349); es sei nicht so, daß „der Atheismus die Konsequenz des Materialismus wäre, sondern der Atheismus ist das Primäre und erst in der Folge wird nach einer theoretischen Weltanschauung Ausschau gehalten, die diesen Atheismus begründen könnte“ (S. 171); der Atheismus selbst entspringe aber „dem neuzeitlichen Sozialkampf“ (S. 351). Marx habe „die herrschende Religionskritik des 19. Jahrhunderts übernommen und als Kampfmittel in sein System eingebaut“ (S. 206). Da nun die Beziehung der Kirche zum Staat und zum Sozialismus ganz anders sei als früher, so verliere auch die Marxsche Kritik ihren Grund, und der Marxismus verlange, in einem für Religion „positiven Sinne ergänzt und weiterentwickelt zu werden“ (S. 14).14

Demgegenüber beharren sowohl die sowjetische Theorie als auch die sowjetische Praxis auch weiterhin auf Lenins Behauptung, daß der dialektische Materialismus „unbedingt atheistisch und jeder Religion entschieden feind ist“15. Der Atheismus sei „ein Bestandteil der marxistisch-leninistischen Weltanschauung“; er sei „die wissenschaftlich begründete Verneinung jeder Religion, jeder Vorstellung von der Ubematur“16. Eben dadurch unterscheide sich der marxistische Atheismus von allen anderen atheistischen Strömungen, daß er radikal und konsequent ist. „Atheisten waren auch Volkstümler (narodniki), und Radikale, und Liberale, und Vertreter anderer Richtungen des sozialen Denkens, die jedoch in ihrer philosophischen Weltanschauung sehr oft dem Idealismus zuneigten. Wir dagegen (die Bolschewiken, Vf.) waren immer überzeugt, daß es in unserer Weltanschauung für das Ideale keinen, selbst nicht den geringsten Platz gibt und geben kann; daß wir uns zu jeder Erscheinung des religiösen Gedankens als zu etwas völlig Fremdem verhalten.“17

Konsequenterweise werden die Versuche V. P. Rozovs und M. Redings von den sowjetischen Kritikern entschieden abgelehnt. „Der wissenschaftliche Atheismus“, lesen wir in der Antwort auf den Brief Rozovs, „erschöpft sich nicht im Kampf gegen negative Erscheinungen unter der Geistlichkeit... Die Spitze des wissenschaftlichen Atheismus ist nicht gegen die Diener der Kirche, sondern gegen die Religion selbst gerichtet“.18 Noch klarer wird dasselbe in der sowjetischen Kritik des Buches von M. Reding herausgestellt. Es sei absurd zu behaupten, „der Materialismus und die Religion schließen einander nicht grundsätzlich aus“; Reding habe keine überzeugenden Beweise angeführt, „daß der Atheismus nicht mit dem Geist des Marxismus verbunden ist“. Gewiß sei der Marxismus nicht nur „eine rein logischtheoretische Kritik der Religion“; er habe zweifellos auch darauf hingewiesen, „daß die Religion aus der sozialen Situation versklavter Massen entsteht“ und „daß daher nicht die theoretische Kritik, sondern die revolutionäre Praxis der Religion den entscheidenden Schlag versetzt“. Daraus jedoch folgt keineswegs, daß der Marxismus überhaupt keine logischtheoretische Religionskritik sei. Derartige Versuche seien nur Zeichen der Ohnmacht der Religion, „sich mit dem Marxismus auf dem Wege einer offenen Ablehnung seiner Grundsätze auseinanderzusetzen“. Die sowjetische Auffassung des marxistischen Atheismus läßt kein Abgleiten in das rein Soziale oder Politische zu.19

Steht aber diese sowjetische Auffassung nicht im Widerspruch zu der schon seit Jahren praktizierten sowjetischen Religionspolitik? Wenn der Kampf gegen die Religion „das ABC des gesamten Materialismus und folglich auch des Marxismus“ ist20 und wenn dieser Kampf „ohne jeden Zweifel mit dem vollen Sieg des Atheismus enden soll“21, wie kann dann solch ein großer Umschwung in der Behandlung der Kirche eintreten, den wir seit den Kriegsjahren und vor allem seit dem Tode Stalins in der Sowjetunion und auch in den Satellitenstaaten beobachten? Lange Jahrzehnte wurde die Kirche doch unterdrückt und grausam verfolgt. Trotz der hartnäckigen Behauptung sowjetischer Behörden und Einzelpersonen, „im sowjetischen Lande gibt es keine religiöse Verfolgung“22, kann die rein formale Unterscheidung zwischen religiöser Neutralität des kommunistischen Staates und kämpferischer Einstellung zur Religion der kommunistischen Partei23 all jene Tatsachen, die den Weg der Kirche nach der Revolution zum wahren Martyrium machten, nicht aus der Welt schaffen. Mehr noch, diese Tatsachen stehen gerade in wesentlichem Zusammenhang mit der Beziehung der Kirche zum sowjetischen Staate.

Die sowjetische Trennung der Kirche vom Staate erfolgte nicht nach dem westlichen Muster. Das Wesen jeder Trennung der Kirche vom Staat besteht in der Erklärung der Religion zur Privatsache und in der praktischen Durchführung dieser Erklärung. Die Sowjets werfen nun der westlichen Welt vor, sie erkläre zwar die Religion zur Privatsache, aber sie verwirkliche diese Erklärung nicht, weil die Kirche auch danach viele Rechte habe und deshalb auch einen großen Einfluß auf das Leben der Bürger ausübe. Durch die Entlassung der Religion aus der offiziellen Sphäre des Staates verändere sich im Westen tatsächlich nur die Art der Rechte der Kirche, die Rechte selbst aber gehen durchaus nicht verloren. Als Privatrechte bleiben sie auch weiterhin bestehen. Sie verlieren nur die Geltung allgemeiner Gesetze, die alle Bürger verpflichten. Die Kirche macht dann ihre Ansprüche auf dem Wege des Privatrechtes geltend. Da aber das Privatrecht im Westen ein sehr weites Gebiet des Lebens umfaßt und im Grundgesetz jedes demokratischen Staates verankert ist, verbleibt die Kirche auch nach der Trennung vom Staat innerhalb der Rechtssphäre und verliert somit weder die Freiheit noch ihre Bedeutung.

Eben das empfinden die Sowjets als trügerische Trennung von Kirche und Staat und behaupten, „nur im sowjetischen Lande ist die Trennung von Kirche und Staat folgerichtig und bis zum Ende durchgeführt“24, und zwar dadurch, daß hier die Religion als Privatsache sich außerhalb der Rechtssphäre befindet. Die wahre Trennung von Kirche und Staat erfolge nach der sowjetischen Auffassung erst dann, wenn der Religion als Privatsache alle Rechte abgesprochen werden: „Der Staat soll mit der Religion überhaupt nichts zu tun haben“25, genau so, wie er mit dem persönlichen Geschmack des einzelnen in seinem alltäglichen Leben nichts zu tun hat. Denn das kommunistische Dasein als solches vollzieht sich nicht auf privater Ebene. Gewiß existiert die persönliche Sphäre auch im sowjetischen Staate, aber sie existiert hier nur als psychologische Tatsache, nicht aber als ein Rechtsanspruch, den der einzelne dem Staat gegenüber stellen darf und praktisch stellt. Der Staat kümmert sich um diese Sphäre überhaupt nicht. In der Epoche des verwirklichten Kommunismus sollen Gesellschaftsinteressen zu persönlichen Interessen werden und somit die persönliche Sphäre, insofern sie sich gegen die gemeinschaftliche Sphäre zu behaupten versucht, aufheben oder wenigstens bis auf das Minimum einengen. Der kommunistische Mensch als Sozialwesen soll im Mitsein existieren und keine Ansprüche an den Staat stehen, wenn diese Ansprüche nicht im Namen des Mitseins erhoben werden. Indem der Kommunismus die Religion zur Privatsache erklärt, versetzt er sie also in eine Sphäre, die mit der Zeit verschwinden soll. Die sowjetische Trennung der Kirche vom Staat bedeutet daher nicht die Veränderung des Charakters der religiösen Rechte, sondern die Aufhebung aller Rechte. Das ist das Todesurteil über die Zukunft der Religion.

Wenn also die sowjetische Gesetzgebung der Kirche „das Recht auf Besitz“ and die Rechte einer juridischen Person absprach (Dekret vom 23. 1. 1918), wenn sie den Geistlichen das aktive und passive Wahlrecht nahm (1923), ihnen Lebensmittelkarten entzog, das Wohnen in verstaatlichten Häusern verbot, kein Heizmaterial bewilligte und sie mit hohen Steuern belastete (1929), so entsprach all das gerade der Auffassung, daß die Religion eine Privatsache sei und daß jeder, der sich dieser Privatsache hauptsächlich, d. h. hauptberuflich, widmet, kein Recht auf staatlichen Schutz oder staatliche Hilfe hat. Der sowjetische Staat verhält sich zur Religion als Privatsache wirklich vollständig neutral: weder unterstützt, noch verbietet er sie. Er wacht nur, daß die Vertreter der Religion die Grenzen der Privatsphäre nicht überschreiten. Tun sie das, so geraten sie sofort in Konflikt mit sowjetischen Gesetzen und werden bestraft — nicht als Geistliche oder Gläubige, sondern als Verbrecher. Es gab zwar viele Prozesse gegen die Geistlichkeit in der Sowjetunion, doch „zur Verantwortung sind diese oder jene Vertreter der Kirche gezogen worden nicht für ihre religiöse, sondern für ihre volksfeindliche politische Tätigkeit“26 — so lautet die Formel, mit der jene Prozesse gedeutet werden. Das Leben in der Sowjetunion ist so organisiert, daß jeder, der nur in der Privatsphäre existieren will, unbedingt gegen die Gesetze handeln muß, weil diese Gesetze eben gegen die Privatsphäre als Überbleibsel aus der Epoche des Kapitalismus gerichtet sind. Somit läuft er Gefahr, zu jeder Zeit als Staats- und Volksfeind entlarvt und verurteilt zu werden. Unter diesem Titel wurden sehr viele Bischöfe, Priester, Mönche und Gläubige verhaftet, verurteilt, verbannt und hingerichtet. Das dauert heute noch an, wenn auch nicht so auffällig; man geht heute nicht mehr so ungeschickt vor wie in den ersten Jahrzehnten nach der Revolution.27 Aus diesem Grund waren viele überzeugt, daß die Verfolgung der Religion in der Sowjetunion „nicht eine vorübergehende krampfhafte Ausschreitung, sondern das erste und notwendige Glied im System der bolschewistischen Weltanschauung und Welteroberung“ sei; sie gehöre „in das bolschewistischmarxistische System des Denkens, des Wollens und der Politik“28. Da aber kam der Krieg, und die Situation änderte sich schlagartig: die antireligiöse Propaganda wurde eingestellt, die antireligiösen Museen wurden entweder in Museen für Kirchengeschichte um gewandelt oder geschlossen, die allgemeine Kirchenversammlung und die Wahl des Patriarchen wurden gestattet, das Herausgeben einer religiösen Zeitschrift („Zumal moskovskoj patriarchii — Journal des Moskauer Patriarchates“) genehmigt, geistliche Akademien und Priesterseminare errichtet, die religiöse Unterweisung der Jugend weitgehend erleichtert, viele geschlossene Gotteshäuser wieder geöffnet, die stark lückenhaft gewordene Hierarchie durch neue Bischöfe vervollständigt.29 Am merkwürdigsten ist jedoch die Tatsache, daß kein früheres Gesetz, das die Religion auf die Privatsphäre zurückdrängte, aufgehoben wurde. Sie galten auch weiterhin, nur wurden sie nicht angewandt. Die Aussöhnung des sowjetischen Staates mit der orthodoxen Kirche war also rein pragmatischen Charakters, was der sowjetischen Regierung eben ermöglichte, diese Aussöhnung je nach der Situation zu manipulieren und teilweise auch wieder rückgängig zu machen.

Wieweit die Aussöhnung tatsächlich schon rückgängig gemacht worden ist, erfahren wir aus einem Brief (vom 13. Dezember 1965) von zwei russischorthodoxen Priestern, Nikolaj Echliman und Gleb Jakunin (beide aus der Diözese Moskau), an den Patriarchen Alexij. Dieser Brief ist für uns nicht nur in dem Sinne sehr aufschlußreich, daß seine Verfasser den russischen Episkopat einer zu nachgiebigen und zu passiven Haltung gegenüber der sowjetischen Regierung zeihen, sondern vor allem in dem Sinne, daß er uns die Lage der Kirche in der Sowjetunion ganz konkret schildert.30 Dieser Schilderung entnehmen wir folgendes:

1.    die Tätigkeit des Patriarchates, der Bischöfe, der Priester und der Pfarrkomitees wird auf inoffizielle Art und Weise — „durch telefonische Mitteilungen, mündliche Anweisungen, nie registrierte Versprechungen“ — von den atheistischen Funktionären geleitet (vgl. S. 402) ;

2.    alle religiösen Akte — Taufe, letzte Ölung, Spenden der Kommunion zu Hause, Trauung, Beerdigung — dürfen erst nach der Registrierung dei danach verlangenden Personen beim Vertreter des Pfarrkomitees unter Vorlegung des Personalausweises und der Ausfüllung eines Formulars vollzogen werden; diese Formulare werden dann von örtlichen Behörden abgeholt und von Propagandisten des Atheismus gegen die Gläubigen verwendet (vgl. S. 403) ;

5. in den Jahren 1961—1964 wurden Tausende von Gotteshäusern geschlossen, und zwar gegen den Willen der Gläubigen und unter Mißachtung geltender sowjetischer Gesetze und vorgeschriebener Prozeduren (vgl. S. 406);

4.    viele Klöster, berühmte Heiligtümer (die Einsiedelei von Glinsk, die Lavra von Kievo-Pečerskij, die St. Andrej-Kathedrale, die Kathedrale in Novgorod, die Einsiedelei von Počaev u. a.) und Priesterseminare (z. B. in Kiev, Luck, Minsk, Saratov, Stavropol, Zirovic) wurden ebenfalls geschlossen (vgl. S. 406) ;

5.    bei der Registrierung der Geistlichen im Jahre 1961/62 mußten diese ein mündliches Versprechen abgeben, daß sie keinen Gottesdienst im Hause der Gläubigen und keine kirchliche Beerdigung unternehmen werden, ohne vorherige Einholung einer staatlichen Genehmigung; diese Genehmigung wird praktisch nie erteilt (vgl. S. 408) ;

6.    es besteht ein den Bischöfen, den Priestern und den Pfarrkomitees mündlich erteiltes Verbot, das jede Teilnahme von Kindern und Jugendlichen bis zu 18 Jahren am Gottesdienst untersagt; an größeren Feiertagen verwehrt die Polizei den Jugendlichen das Betreten der Kirche (vgl. S. 409);

7.    die kommunistischen Funktionäre wählen die Kandidaten für die Priesterseminare, behindern die Zulassung würdiger Kandidaten zur Priesterweihe und fördern moralisch unzuverlässige Personen, die „im günstigen Moment“ Christus öffentlich verleugnen (vgl. S. 412) ;

8.    die Folgen dieser Maßnahmen sind Zerrüttung des geistigen Lebens in der Mehrzahl der Pfarreien, Zerstörung der Einheit der Gläubigen, Ärgernis, Mißtrauen und Streitigkeiten (vgl. S. 419).

Die Verfasser dieses Briefes beschwören den russischen Episkopat, sein Schweigen endlich zu brechen, sonst reiße „eine sehr rührige Gruppe schlechter Priester“ die Initiative an sich: das sei „die größte Gefahr für die russische Kirche“ (S. 422). Es sei ein Fehler zu denken, mit dem Schweigen könne man die russische Kirche retten (vgl. S. 423). Dadurch könne man höchstens sich selbst retten, indem man seine Registrierungskarte behält (vgl. S. 423—24), deren Entzug jetzt als Vergeltungsmaßnahme gegen ungehorsame Priester benutzt wird (vgl. S. 449).

Wir befinden uns demnach vor einer schwer verständlichen Dialektik: einerseits lehnt der Kommunismus jede Religion entschieden ab und glaubt an den vollständigen Sieg des Atheismus, andererseits erlaubt er religiöse Institutionen und unterstützt sie sogar; einerseits bekämpft er die Kirche mit politisch-juridischen Mitteln, andererseits widerspricht er energisch der sozialen Auslegung seines atheistischen Charakters; einerseits erklärt er die Religion zur Privatsache und verlangt eine völlige Neutralität des Staates gegenüber der Religion, andererseits verkündet er mit Marx, „der Staat kann und muß bis zur Aufhebung der Religion, bis zur Vernichtung der Religion fortschreiten“31; einerseits führt er diese Vernichtung konsequent durch, andererseits versucht er, den Schein der religiösen Freiheit zu wahren, und verlegt deshalb die Bekämpfung der Religion und vor allem der Kirche auf eine inoffizielle, urkundlich kaum erfaßbare Ebene, was der zitierte Brief eindrucksvoll belegt und als illegitime Tätigkeit der Funktionäre bezeichnet (vgl. S. 450—51). Es scheint mithin, die marxistische Religionsphilosophie und die sowjetische Religionspolitik seien voll von Widersprüchen und Inkonsequenzen.

Das wußte schon Lenin, als er im Jahre 1909 für die Zulassung der christlichen Arbeiter zur sozialdemokratischen Partei eintrat. Er erklärte damals: „Marxismus ist Materialismus“ und „als solcher steht er der Religion in ebenso schonungsloser Feindschaft gegenüber wie der Materialismus der Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts oder der Materialismus Feuerbachs.“32 Doch die ganze „atheistische Propaganda der Sozialdemokratie“ muß „ihrer Hauptaufgabe“ untergeordnet sein, nämlich „der Entfaltung des Klassenkampfes“ (S. 24). Dort also, wo es um den Klassenkampf geht, muß dieser und nicht die Religion berücksichtigt werden. Im Klassenkampf darf man nicht die Arbeiter „in Atheisten und Christen“ scheiden. Ja, „der Marxist ist verpflichtet . . . gegen eine solche Scheidung entschieden zu kämpfen“. Unter diesen Umständen kann die atheistische Propaganda „sowohl überflüssig als auch schädlich sein“ — doch nicht „vom Standpunkt spießbürgerlicher Erwägungen über die Abschreckung der rückständigen Schichten“, d. h. nicht aus taktischen Gründen, sondern „vom Standpunkt eines wirklichen Fortschrittes des Klassenkampfes“. Der Marxist muß Materialist sein, „das heißt, ein Feind der Religion“, aber er muß „ein dialektischer Materialist“ sein.

Ist das ein Widerspruch? „Für Leute“, antwortet Lenin, „die sich dem Marxismus gegenüber nicht gewissenhaft verhalten, für Leute, die nicht denken können oder wollen, ist diese Geschichte ein Knäuel sinnloser Wider-

sprüche und Schwankungen des Marxismus“. Wer jedoch „sich ernsthaft zum Marxismus“ verhält und „sich in seine philosophischen Grundlagen“ hineindenkt, „der wird leicht einsehen, daß die Taktik des Marxismus gegenüber der Religion zutiefst konsequent und von Marx und Engels gründlich durchdacht ist; daß das, was Dilettanten oder Ignoranten für Schwankungen halten, eine direkte und unumgängliche Schlußfolgerung aus dem dialektischen Materialismus ist“ (S. 25—26). Die Dialektik, die wir im marxistischen Atheismus feststellen, ist nach Lenin weder eine Zufälligkeit noch eine Inkonsequenz, sondern vielmehr der Ausdruck der marxistischen Auffassung von der Religion und ihrer Stellung im Leben. Wie bekannt, hat der Marxismus die Deutung Gottes der Religionsphilosophie Ludwig Feuerbachs entnommen. Gott ist nach Feuerbach kein transzendentes Wesen, das über dem Menschen waltet. Er ist „das subjektivste, eigenste Wesen des Menschen“ selbst33, nur „abgesondert von den Schranken des individuellen, d. h. wirklichen, leiblichen Menschen“ (S. 59). In der Religion verhält sich der Mensch nicht zu einem realen Du, sondern „zu seinem eigenen Wesen“ (S. 69), denn der Mensch ist „sich selbst zugleich Ich und Du; er kann sich selbst an die Stelle des anderen setzen (S. 36). Folglich hat die Religion „keinen eigenen, besonderen Inhalt“ (S. 65). Ihre Aussagen drücken nicht die Eigenschaften eines jenseitigen Seins, sondern die des Menschen selbst aus. Logischerweise definiert Feuerbach die Religion als „Verhalten des Menschen zu sich selbst“ (S. 53). Der Irrtum bestehe nicht darin, daß der Mensch sich zu sich selbst verhält, sondern daß er sich zu sich selbst als zu einem anderen verhält. Er projiziert sein eigenes Wesen ins Jenseits, nennt es Gott, betet es an, ohne zu wissen, daß das Wort „Gott“ sein eigener Name ist: in seinen Gebeten habe der Mensch sich selbst angerufen und in seinem Kult „sein eigenes Wesen angebetet“ (S. 52). Dieser Irrtum soll aber verschwinden. Das, was früher „als Gott angeschaut und angebetet wurde“, soll „jetzt als etwas Menschliches“ erkannt und anerkannt werden. Das Geheimnis der Theologie liegt in der Anthropologie: „homo homini deus est“ (S. 409). Das soll der Mensch freimütig eingestehen, und „dieses offene Bekenntnis und Eingeständnis“ wird dann „der notwendige Wendepunkt der Geschichte“ sein (S. 408).

Die Feuerbachsche Deutung Gottes ist zur Grundlage des modernen, vor allem des marxistischen Atheismus geworden. Der frühere Atheismus, der schon in der Zeit der Aufklärung zahlreiche Vertreter hatte, konnte nämlich nicht erklären, warum die Religion ein universalgeschichtliches Phänomen sei und was die Ablehnung Gottes als transzendenten Wesens bedeute. Die in jener Epoche „herrschende Ansicht“, wie auch Friedrich Engels zugab, „daß alle Religionen und somit auch das Christentum das Werk von Betrügern seien, war nicht mehr genügend“34. Eine andere Erklärung gab es aber nicht. Die Deutung Feuerbachs, Gott sei das ideale Wesen des Menschen, wirkte deshalb wie eine Offenbarung. Der Atheismus erschien plötzlich in einem ganz anderen Licht: er war nicht mehr eine reine Negation Gottes, sondern er wurde zum höchsten Selbstbewußtsein des Menschen. Indem der Mensch erkennt, daß seine Beziehung zu dem vermeintlich transzendenten Gott nichts anderes ist als die Beziehung zu seinem eigenen tiefsten Selbst, erlangt er einen höheren Reifegrad seiner Selbsterkenntnis. Der Atheismus erweist sich deshalb als Epoche der endgültigen Reife in der Entwicklung des menschlichen Selbstbewußtseins. Im Atheismus erreicht der Mensch solchen Grad des Bewußtwerdens, daß er Gottes Bild im Dasein als sein eigenes Bild erkennt und sich somit von der Illusion befreit, dieses Bild sei das eines anderen Wesens. Es versteht sich von selbst, daß dieser sich der neuen Situation bewußt gewordene Mensch auch sein Leben — sowohl das individuelle wie auch das gesellschaftliche — völlig anders gestaltet als vorher, da er Gott als das andere erlebte und sich zu ihm als dem anderen verhielt. Der Atheismus ändert das menschliche Dasein von Grund auf, weil er das Selbstbewußtsein des Menschen ändert: er löst im Menschen das hohe Gefühl der Befreiung aus.35

Feuerbachs Deutung Gottes und der Religion wurde vom Marxismus im allgemeinen und von der späteren sowjetischen Philosophie ohne weiteres übernommen. Marx spricht von der Religion mit den gleichen Worten wie auch Feuerbach. „In der phantastischen Wirklichkeit des Himmels“ suchte der Mensch „einen Übermenschen“ und hat „nur den Widerschein seiner selbst“ gefunden.36 Die Religion sei deshalb „die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens“ (S. 208). Der Mensch müsse sich selbst in der Geschichte erschaffen, „weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt“ (ebd.). Die Religion erschafft es nur in der Phantasie und erzeugt damit eine „illusorische Wirklichkeit“ (S. 108). Die Religion sei eine rein menschliche Einbildung, daher unfähig, eine Realität hervorzubringen. „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen“ (S. 207). Umsonst erwarten wir von ihr die Durchstrahlung unseres dunklen Daseins: „Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt“ (S. 208), d. h. solange der Mensch sein eigenes Wesen nicht tief genug erkennt. Die Religion ist „das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat“ (ebd.).37

Feuerbach und mit ihm der Marxismus haben also Gott aus der objektiven Seinsordnung in die reine Subjektivität des Menschen verlegt. Man fragt hier nicht, ob Gott als objektives und transzendentes Wesen existiert oder nicht: diese Frage sei durch die materialistisch-dialektische Interpretation der Welt ein für allemal gelöst: Gott als objektiv existierendes Wesen sei eine logisch überflüssige Hypothese. Man fragt im Marxismus nur, wie die Idee Gottes im menschhchen Bewußtsein entstehen konnte, was diese Idee bedeutet und wie man sie beseitigen kann. Der Marxismus erkennt wohl Gott als Inhalt des menschlichen Bewußtseins an, aber er leugnet ihn als Wirklichkeit, die außerhalb des Bewußtseins existiere. „Es gibt ihn nicht, aber er ist da“, wie Dostoevskij durch den Mund Kirilovs diese Auffassung treffend formuliert38: es gibt keinen Gott im Sein, aber er ist da im Bewußtsein.

Gerade in dieser Verlegung Gottes aus dem Ontologischen ins Anthropologische und Historische liegt für den Marxismus die Möglichkeit, die Religion zu dulden, ja sogar zu fördern. Die innere Einstellung des kommunistischen Menschen zur Religion ist völlige Gleichgültigkeit. Ob an Gott geglaubt oder nicht geglaubt wird, ist dem kommunistischen Menschen kein Problem seiner eigenen Existenz. Er deutet Gott nur als Inhalt eines fremden Bewußtseins, das ihn selbst nichts angeht. Die kommunistischen Menschen können, nach der Ansicht von D. Bonč-Bruevič, „religiöse Fragen, religiöse Werke und religiöse Bewegungen genau so ruhig und allseitig studieren und untersuchen, wie ein Naturwissenschaftler das Leben der Natur samt all ihren Erscheinungen, wie ein Oekonomist oder ein Soziologe die Gesellschaft der Menschen in allen Stufen ihrer Entwicklung studieren“39. Das ist das Studium eines Überbleibsels aus der Vergangenheit, eines Vorurteils aus der Epoche der Entfremdung des Menschen von sich selbst. Allerdings kämpft der Kommunismus gegen dieses Vorurteil, weil er will, das jedes Mitglied der kommunistischen Gesellschaft die geistige Reife, die der Atheis-mus allein gewährt, erreiche: die kommunistische Gesellschaft soll eine auch in dieser Hinsicht höchst bewußte Gemeinschaft werden. Findet jedoch die kommunistische Partei, die ja jede historische Situation interpretiert, daß die Religion manchen Bürgern immer noch teuer ist und daß diese Bürger sich von ihrem alten Vorurteil nicht ohne große Schwierigkeiten trennen können, so läßt die Partei zu, daß die Religion weiter existiert, bis die Gläubigen selbst ihren Unwert einsehen und sich von ihr lossagen. Zwar bleibt die Religion in jedem Fall „das Opium des Volkes“ (Marx)40, „eine Art geistigen Fusels“ (Lenin), „eine himmlische Schnapsbude“ (Bakunin), d. h. ein berauschendes Mittel, das das irdische schwere Schicksal subjektiv zwar erleichtert, das zugleich aber auch schadet, weil es den Geist benebelt und somit die Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit erschwert. Sind aber die Bürger eines kommunistischen Staates diesem trügerischen Rauschgift seit alters so stark verfallen, daß sie von dessen Genuß nicht, ohne an sich selbst und am Kommunismus irre zu werden, lassen können, so ist es vernünftiger, sie dieser Gewohnheit nachgehen und sie in gewissem Maße befriedigen zu lassen, als sie streng zu verbieten und dadurch viele Menschen von der Teilnahme am Klassenkampf und am Aufbau des Kommunismus abzuschrecken. Nur muß der Gebrauch dieses berauschenden Mittels staatlich geregelt werden: die Verteiler dieses Rauschgiftes müssen eine staatliche Genehmigung haben, sich zum kommunistischen Staat loyal verhalten, dürfen die kommunistische Weltanschauung nicht bekämpfen und vor allem sich der Aufklärung über den Unwert und die Schädlichkeit der Religion nicht widersetzen. Der Kommunismus selbst nimmt die Befriedigung des religiösen Interesses in die Hand, indem er diese Befriedigung dosiert. Das gerade kennzeichnet die heutige Religionspolitik des sowjetischen Staates und erklärt zugleich auch ihre Schwankungen.

Die dialektische Natur des sowjetischen Atheismus wurzelt, wie wir sehen, im dialektischen Begriff Gottes: es gibt ihn nicht in der objektiven Seinsordnung, aber er ist da in der subjektiven Sphäre des menschlichen Bewußtseins. Dementsprechend gestaltet sich auch die praktische Haltung des Kommunismus gegenüber der Religion. Die philosophische Feindschaft gegen die Religion im Sinne der Weltdeutung und Weltgestaltung und die politische Duldung des Glaubens im Sinne einer subjektiven Erscheinung des Bewußtseins — das ist die Formel, die die Dialektik des sowjetischen Atheismus ausdrückt. Es wäre jedoch falsch, wenn wir diese Dialektik umkehren wollten, was in der westlichen Interpretation des sowjetischen Atheismus ziemlich oft geschieht. Die kommunistische Feindschaft gegen die

Religion ist nie bloß politisch; sie entsteht letzten Grundes nicht aus der Sozialkritik an der Kirche als Partnerin des Kapitalismus. Die marxistische Feindschaft gegen die Religion ist ontologischen Charakters als Folge einer wesentlich gottlosen oder gottfreien Seinsinterpretation. Die politische Gestalt, die diese Feindschaft hie und da annimmt, ist nur ein Gewand, das abgelegt werden kann und oft abgelegt wird, während der ontologische Grund dieser Feinschaft immer bleibt. Andererseits: die sowjetische Duldung des Glaubens ist nie ontologisch; d. h. der sowjetische Atheismus zeigt sich gegenüber der Religion nur im Bereich des Politischen, nicht aber im Bereich des Weltanschaulichen tolerant. Die Religion als Seinsdeutung wird immer und überall bekämpft. Die sowjetische Toleranz trägt einen rein politischen Charakter und ist deshalb wesentlich situationsgebunden. Im Lichte dieser Dialektik erscheinen die Duldung, ja Förderung der orthodoxen Kirche einerseits und die großangelegte Propagierung des Atheismus andererseits nicht als Widerspruch oder Inkonsequenz, sondern als eine durchaus logische Objektivation der inneren dialektischen Auffassung des Phänomens Religion; eines Phänomens, dessen Rolle in der Geschichte und die damit verbundene Ablehnung seitens des Kommunismus wir nun ans Licht bringen wollen. Wir möchten erklären, warum nämlich der kommunistische Mensch „den Respekt gegen das Heilige“, wie Marx selbst diese Haltung kennzeichnet, aufkündigt.41

8 E. M. Jaroslavskij, O religii (Uber die Religion), Moskau 1957, S. 181—182.

9 E. M. Jaroslavskij, a. a. O., S. 181.

10 K. Marx, Die Frühschriften, S. 216.

11    F. N. Oleščuk, Religioznye perežitki i puti ich preodolenija (Religiöse Überbleibsel und Wege zu ihrer Überwindung), in „Voprosy filosofii“, 1954, Nr. 6, S. 76-88.

12    Zit. N. I. Gubanov, Otvet čitatelju (Antwort an den Leser), in „Voprosy filosofii“, 1957, Nr. 2, S. 212-215.

13 Vgl. auch M. Reding, Der Sinn des Marxschen Atheismus, München 1957 (Antrittsvorlesung an der Freien Universität in Berlin).

14    Historisch betrachtet muß der erste Versuch, den Kommunismus vom Atheismus zu trennen, dem Löwener kath. Theologen Jacques Leclercq zugeschrieben werden. In seinem Artikel „Rencontre des chrétiens et des communistes“ („La vie intellectuelle“, Februar 1950, S. 131—141) entwickelt Leclercq den Gedanken, das einzige Ziel des Kommunismus sei die Vernichtung des Kapitalismus: „er will nur das; alles andere ist diesem Ziel untergeordnet“ (S. 134). Folglich „beschäftigt sich der Kommunist mit der Kirche und bekämpft sie nur, insofern sie die Helfershelferin des Kapitalismus ist. Damit jedoch will er den Kapitalismus, der in seinen Augen eine furchtbare Wirklichkeit ist, treffen und nicht die Religion, die ihm nur eine Seifenblase bedeutet“ (S. 136). Jedesmal also, „wenn die Kommunisten die Kirche angreifen, werfen sie ihr vor, sie stehe im Dienst des Kapitalismus“ (S. 134). Leclercq meint, „die populärsten Einwände gegen die Kirche berühren nicht die Göttlichkeit Christi oder die Stiftung der Kirche durch Christus und noch weniger die Lehre von der Dreifaltigkeit und der Gnade. Das, was man besonders der Kirche vorwirft, ist der Lärm des Geldes am Altar“ (S. 14). Würde es uns gelingen, „die Kirche zu säubern und sie von den geschichtlichen Formen, an die sich die Christen zu viel binden, befreien“ (S. 141), so wären die kommunistischen Einwände entkräftigt und der Grund des kommunistischen Kampfes gegen die Religion beseitigt; dann würden die Kommunisten einsehen, daß die Hauptsorge der Christen religiös, die der Kommunisten aber politisch sei (vgl. S. 136). — Ähnliche Gedanken, wenn auch nicht so konkret, finden wir bei dem Jesuitenpater Pierre Bigo in seinem Buch „Marxisme et Humanisme“ (Paris 1954, S. 248—261), in dem er ebenfalls von der Zusammenarbeit des Christentums mit dem Kommunismus als „zweier großer Mächte, die gegenwärtig in der Welt am Werk sind“, spricht und „eine neue Ära“ von dieser Zusammenarbeit erwartet (S. 261).

15    W. I. Lenin, Über die Religion, S. 19.

16 N. I. Gubanov, a. a. O., S. 215

17 V. D. Bonč - Bruevič, Izbrannye sočinenija (Ausgewählte Schriften), Moskau 1959, Bd. I, S. 51.

18 N. I. Gubanov, a.a.O., S. 215.

19 Vgl. Voprosy filosofii, 1959, Nr. 9, S. 161—164; Filosofskie nauki, 1959, Nr. 3, S. 32; Sammelwerk „Revizionizm — glavnaja opasnostj (Der Revisionismus als Hauptgefahr)“, Moskau 1958, S. 147.

20  W. I. Lenin, Uber die Religion, S. 23.

21   Voprosy filosofii, 1957, Nr. 2, S. 215.

22 Voprosy istorii religii i ateizma (Fragen der Geschichte der Religion und des Atheismus), ein Jahrbuch; Moskau 1954, Bd. II, S. 18; zu dieser Auffassung von den religiösen Verfolgungen bekennt sich auch der gegenwärtige Moskauer Patriarch Alexij, der die Prozesse gegen die Geistlichkeit „politische Prozesse“ nennt, „die nichts Gemeinsames mit dem rein kirchlichen Leben haben“ (Russkaja pravoslavnaja Cerkovj / Die russische orthodoxe Kirche / Moskau 1959, S. 24—25; eine offizielle Ausgabe des Moskauer Patriarchates).

23  Diese Unterscheidung machte schon Lenin in seinem Artikel „Sozialismus und Religion“ (1905): „Wir verlangen, daß die Religion Privatsache sei, soweit es den Staat angeht; wir können jedoch die Religion keinesfalls als Privatsache ansehen, soweit es sich um unsere eigene Partei handelt“ (Uber die Religion, S. 7).

24 Voprosy istorii religii i ateizma, Bd. II, S. 18.

25 W. I. Lenin, Uber die Religion, S. 7.

26 Voprosy istorii religii i ateizma, Bd. II, S. 215.

27   Die Literatur über die Verfolgungen der Kirche in der Sowjetunion ist sehr zahlreich; aus den neuesten Veröffentlichungen sind zu erwähnen: B. Feron, Gott in Sowjetrußland, Essen 1965; W. Kolarz, Die Religionen in der Sowjetunion, Freiburg/Br. 1963; N. Struve, Die Christen in der UdSSR, Mainz 1965.

28   J. Iljin, Der Angriff auf die christliche Ostkirche, Berlin 1938, S. 9—10.

29   Vgl. J. S. Curtiss, Die Kirche in der Sowjetunion (1917—1956), München 1957, S. 274—286; W. de Vries, Zur neuesten Entwicklung der Ostkirchen, in „Ostkirchlichen Studien“, 1953, Nr. 4; A. A. Bogolepov, Cerkovj pod vlastju kommunizma (Die Kirche unter der Macht des Kommunismus), München 1958, S. 32—56.

30 Dieser Brief, dessen Abschrift an alle russischen orthodoxen Bischöfe und dessen Zusammenfassung an N. V. Podgorny als Vorsitzenden des Höchsten Sowjets, an A. P. Kosygin als Ministerpräsidenten und R. A. Rudenko als Generalstaatsanwalt geschickt wurden, ist nun im Original in „Russkaja mysl (Der russische Gedanke)“, Paris, vom 25. August 1966 und in der französischen Übersetzung in „Istina (Die Wahrheit)“, Boulogne-sur-Seine, 1966, Nr. 4, S. 298—468, zugänglich; eine deutsche Übersetzung (nur auszugsweise) in „Ost-Probleme“ 1966, Nr. 13, S. 391-398).

31   K. Marx, Die Frühschriften, S. 184.

32   W. I. Lenin, Über die Religion, S. 22.

33 L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Bd. I, S. 77.

34   Fr. Engels, Bruno Bauer und das Urchristentum; K. Marx — F. Engels, Werke, Bd. XIX, S. 297.

35 Das war der Grund, warum das Buch Feuerbachs „Das Wesen des Christentums“ (1841) als eine frohe Botschaft nicht nur im Westen, sondern zugleich auch in Rußland aufgenommen wurde. Al. Gercen erzählt, wie zu ihm nach Novgorod, wo er seine Verbannung (1841—1842) verbüßte, N. P. Ogarev kam und ihm Feuerbachs neu erschienenes Buch brachte. Gercen las die ersten Kapitel und hüpfte vor Freude: „Weg mit den Masken“, rief er aus, „weg mit dem Stammeln und den Allegorien! Wir sind freie Menschen und nicht Sklaven! Wir brauchen die Wahrheit nicht in Mythen einzukleiden“ (Alexander Herzen, Erinnerungen, Berlin 1907, Bd. I, S. 277). Dasselbe bezeugt Friedrich Engels für die westliche Welt: „Man muß die befreiende Wirkung dieses Buchs selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen. Die Begeisterung war allgemein: wir waren alle momentan Feuerbachianer“ (Fr. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1955, S. 15).

36 K. Marx, Die Frühschriften, S. 207.

37   Die Feuerbachsche Auffassung von Gott und der Religion teilen auch Fr. Engels (die Religion sei „das phantastische Spiegelbild der menschlichen Dinge im menschlichen Kopf“: Dialektik der Natur, S. 187), G. Plechanov (Gott sei „ein jenseitiges Phantom“: Izbrannye filosofskie proizvedenija, Bd. III, S. 431), W. I. Lenin (die Religion sei „die Verdummung der Menschheit“: Über die Religion, S. 11 und 45; vgl. auch: Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1956, S. 331-332).

38   F. M. Dostojewski, Die Dämonen, München 1949, S. 148.

39   V. D. Bonč-Bruevič, Izbrannye sočinenija, Bd. I, S. 31—32.

40 Der bekannte Ausdruck, die Religion sei das Opium des Volkes, stammt seiner wörtlichen Formulierung nach sicher von Marx. Seinem Sinn nach hat ihn Marx von H. Heine übernommen. In seinem Buch „Ludwig Börne“ (1840) spricht Heine über die Religion, die in den Becher des Leidens einige Tropfen „geistigen Opiums“ gieße (vgl. F. Stoessinger, Heine oublié, in „Preuves“, Paris 1953, Nr. 25, S 62-66).

41   K. Marx, Die Frühschriften, S. 452.

 

2. Religion als Urform der Entfremdung

In seiner Abhandlung „Mensch und Geschichte“ (1926) unterscheidet Max Scheler mehrere Typen der Auffassung vom Menschen und bezeichnet diese Typen als „homo creatura“ (der biblisch-christliche Typus), „homo sapiens“ (der griechische Typus), „homo faber“ (der naturalistisch-positivistische Typus), „homo morbus“ (der dekadente Typus) und schließlich „homo atheista“, den Scheler den Typus des postulatorischen Atheismus nennt.42 Der bekamiteste Vertreter dieses Typus ist Nicolai Hartmann (1882—1950). Der postulatorische Atheismus steht, wie der Name schon sagt, im direkten Gegensatz zum postulatorischen Theismus Kants. Aus erkenntnistheoretischen Gründen („die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten“) lehnte Kant die Beweiskraft der traditionellen Argumente für die Existenz Gottes ab, ohne jedoch an der Existenz eines transzendenten Wesens zu zweifeln. Unser Denken sei zwar nicht imstande, solche Beweise zu erbringen, die uns logisch zwingen, auf die Existenz Gottes zu schließen, denn alle Kategorien, durch welche wir uns einen Begriff von Gott zu machen versuchten, könnten nur auf die Sinnenwelt angewendet werden, so daß wir mit diesen Kategorien nie ein von der Welt unterschiedenes Wesen erfassen könnten. Und doch müssen wir die Existenz eines solchen

Wesens postulieren, sonst würde die gesamte moralische Ordnung unbegründet bleiben, und der Mensch als sittliches und verantwortungsbewußtes Geschöpf wäre unmöglich. Gott müsse existieren, damit der Mensch sittlich frei leben und handeln könne. Die Existenz Gottes ist also bei Kant ein moralisches Postulat. Aus diesem Grund wird der Theismus von Kant eben der postulatorische Theismus genannt.

Nicolai Hartmann kehrt nun diesen Gedankengang radikal um. Es sei nicht absolut ausgeschlossen, daß wir logisch die Existenz Gottes erschließen könnten. Aber Gott darf nicht existieren, denn in diesem Fall würde der Mensch seine Freiheit und somit auch seine sittliche Qualität verlieren. Hartmann argumentiert folgendermaßen: Gibt es einen Gott als Schöpfer und Lenker des Alls, so gibt es auch eine Teleologie der Welt — sowohl in der Natur als auch in der Geschichte. Existiert Gott wirklich, so erhebt sich über der blinden Kausalordnung eine im voraus bestimmte Finalordnung, die die mit Notwendigkeit wirkenden Ursachen überwölbt und durch verschiedene natürliche und historische Prozesse verwirklicht wird. Bildet aber die Welt, in der der Mensch existiert, eine Zweckordnung, so sind die Konsequenzen für den Menschen, nach Hartmann, „geradezu katastrophal“43. Denn „in einer durchgehend teleologisch determinierten Welt ist ein sittliches Wesen ein Ding der Unmöglichkeit“ (ebd.). Der Mensch muß dann den von Gott gesetzten Zielen folgen und sie in seinem Wirken realisieren; er kann die von Gott gesetzte Teleologie „nicht umlenken auf andere Ziele“ (S. 637), wie er dies mit der kausal wirkenden Notwendigkeit tut, indem er die Naturgesetze umorganisiert, gegeneinander ausspielt und so gerade durch diese Gesetze seine eigenen Wünsche erreicht. Der Finalordnung kann er sich nur unterwerfen. Mag sein, daß er diese göttliche Teleologie nicht kennt und deshalb meint, er handele frei aus seinem eigenen Ermessen. In Wirklichkeit jedoch handelt er wie eine Marionette, deren Fäden in der Hand Gottes liegen. In einer final bestimmten Welt wird die Selbstbestimmung des Menschen „zum Schein herabgesetzt, sein Ethos vernichtet, sein Wille gelähmt“ (S. 815). Die finale Determination der Welt hebt „die ethische Freiheit auf“ (ebd.).

Und der Gegensatz: „Läßt man die Freiheit der Person gelten“, so hebt diese die Teleologie der Welt auf. Die Existenz Gottes und die Freiheit der Person „stehen zueinander kontradiktorisch — als These und Antithese“ (ebd.). Folglich müssen wir die Nichtexistenz Gottes postulieren, um die Freiheit des Menschen und somit auch die sittliche Ordnung zu ermöglichen. Das ist das Wesen des postulatorischen Atheismus, den Scheler keineswegs „als Entlastung von der Verantwortung und als Minderung der Selbständigkeit und Freiheit des Menschen“ deutet, sondern, im Gegenteil, als „die denkbar äußerste Steigerung der Verantwortung und Souveränität“ charakterisiert.44

Zu welchem Typus der von Scheler untersuchten Auffassungen vom Menschen gehört nun die marxistische Anthropologie? Wie schon im zweiten Kapitel erwähnt, bestimmt sich der marxistische Mensch in bezug auf die Natur, indem er im Prozeß der Arbeit sich selbt als Person begreift und sich seine Lebensform durch die Umgestaltung der Welt schafft. Doch diese Selbstbestimmung des Menschen im Kosmos wird erst dann praktisch möglich, wenn der Mensch die Existenz Gottes leugnet. Die Beweisführung dafür ist bei Marx genau die gleiche wie bei Hartmann, nämlich: die Nichtexistenz Gottes bildet die Voraussetzung für die Freiheit des Menschen. In seiner Schrift „Über den Zusammenhang der Nationalökonomie mit Staat, Becht, Moral und bürgerlichem Leben“ (1844) sagt Marx: „Ein Wesen gibt sich erst als selbständiges, sobald es auf eigenen Füßen steht, und es steht erst auf eigenen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines anderen lebt, betrachtet sich als ein abhängiges Wesen. Ich lebe aber vollständig von der Gnade eines anderen, wenn ich ihm nicht nur die Unterhaltung meines Lebens verdanke, sondern wenn er noch außerdem mein Leben geschaffen hat; wenn er der Quell meines Lebens ist, und mein Leben hat notwendig einen solchen Grund außer sich, wenn es nicht meine eigene Schöpfung ist.“45 Der Sinn dieser Worte ist eindeutig: der Mensch kann kein selbständiges oder freies Wesen sein, wenn Gott, der Schöpfer, existiert, denn in diesem Fall verdankt er Gott nicht nur die Unterhaltung seines Lebens, wie dies bei der Abhängigkeit von den Menschen gewöhnlich ist, sondern auch das Leben selbst, was eben die völlige Abhängigkeit des Menschen bedeutet und somit seine Freiheit vollständig aufhebt. Daraus folgt, daß erst in einer ontologisch gott-losen Welt der Mensch wirklich frei sein und handeln kann, denn erst in einer derartigen Welt trägt der Mensch die Quelle seines Daseins in sich selbst, indem er aus dem bloßen Faktum des Daseins sein Sosein schafft, und zwar so, wie er selbst es will.46 Die Argumentation von Marx ist, wie wir sehen, ganz und gar die gleiche wie die von Hartmann. Ja, Marx argumentiert sogar tiefer als Hartmann, denn dieser beschränkt seinen postulatorischen Atheismus auf das bloß sittliche Gebiet, dagegen untersucht Marx das Dasein selbst und weist uns auf die ontologische Unfreiheit des Menschen im Falle der Existenz Gottes des Schöpfers hin.47

Auf die Frage also, zu welchem Typus der marxistische Mensch gehört, müssen wir ohne weiteres antworten: das kommunistische Menschenbild ordnet sich von seihst dem Typus des „homo atheista“ zu. Der Atheismus bildet ein konstitutives Element der marxistischen Anthropologie, und zwar im Sinne der Voraussetzung für die menschliche Freiheit. Die kommunistische Gottlosigkeit ist keine reine Negation Gottes als Wirklichkeit; dadurch zielt sie auf etwas höchst Positives hin, nämlich auf die volle Entfaltung der menschlichen Existenz in der Welt, die aber nichts anderes ist als Entfaltung der Freiheit. Gibt es einen Gott, so wird unsere Freiheit und somit unsere menschenwürdige Existenz zum bloßen Schein. Die Gründung und Wahrung einer freien Existenz ist nur in einem gottlosen Kosmos möglich. — Wie kommt aber der Marxismus darauf, im Glauben an Gott und in der Religion als Objektivation des Glaubens die Verneinung der menschlichen Freiheit zu sehen? Warum sind die Begriffe „Gott“ und „Freiheit“ derartig, daß sie „einmal getrennt“, wie Bakunin sagt, „sich nur wieder treffen können, um sich gegegenseitig zu zerstören“?48 Eine Antwort auf diese entscheidende Frage gibt uns der Marxismus mit der Deutung der Religion als Urform der Entfremdung des Menschen von sich selbst.

Die marxistische Geschichtsphilosophie (der historische Materialismus) begreift den Prozeß der Geschichte im Sinne einer stets fortschreitenden Verwirklichung der Freiheit. Als Gegensatz der naturhaften Notwendigkeit, baut der Mensch sein eigenes Reich und erweitert dessen Herrschaft immer mehr auf der Erde. Nicht nur als ein neues Wesen bildet der Mensch den Gegensatz zur Natur, sondern auch sein Dasein als Prozeß vollzieht sich im scharfen Gegensatz zur Naturwelt. Die eiserne Gesetzmäßigkeit, die in der Natur herrscht, verwandelt der Mensch in eine Freiheit, dadurch nämlich, daß er die Natur zwingt, seine Wünsche zu erfüllen. Die Geschichte als Werdegang der Freiheit konstituiert sich in der und durch die Herrschaft des Menschen über die Natur. Je größer diese Herrschaft ist, um so freier wird der Mensch. Im Fortschritt der Zivilisation, in der die Bezwingung der Naturkräfte konkret zum Ausdruck kommt, äußert sich auch der Fortschritt der Freiheit.49 Einer tiefgreifenden Umgestaltung der äußeren Welt mächtig, schreitet der Mensch durch Baum und Zeit als „Schöpfer des neuen irdischen Lebens“ (V. Majakovskij) und baut sein eigenes Reich, nämlich: das Reich der Kultur, das dem Reich der Natur weit überlegen ist.50 Dadurch schafft er auch sich selbst, indem er an Stärke der Macht, an Maß der Bildung, an Einsicht in die Dinge zunimmt. Der marxistische Mensch ist fest überzeugt, daß er Unwissenheit, Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Krankheiten, Verbrechertum und schließlich auch den Tod überwinden wird, denn der Fortschritt der Produktion ist unzweifelbar; „die Stufe der Entwicklung der Produktionskräfte bestimmt ja das Maß der menschlichen Macht über die Natur“51, und die Macht über die Natur bestimmt dann auch das Maß der Freiheit. Das Bild des künftigen geschichtlichen Daseins der Menschheit erscheint im Marxismus wirklich großartig. Das goldene Zeitalter oder, christlich gesprochen, das Paradies ist auch im Marxismus ein Traum, der jedoch erst durch die eigene Tätigkeit der Menschheit verwirklicht werden soll und deshalb nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft liegt. Das goldene Zeitalter ist das vollendete Reich der Freiheit im Sinne der vollendeten Herrschaft über die Natur.

Wenn wir aber den tatsächlichen Gang der Geschichte betrachten, stellen wir mit Erstaunen fest, daß die Größe und Macht des Menschen nicht so gewaltig in Erscheinung treten, wie dies zu erwarten wäre. Anstelle des menschlichen Triumphes hat sich die bisherige Geschichte eher als Zeugnis des menschlichen Elends erwiesen. Marx spricht von der Zivilisation als einem anorganischen Leib des Menschen, d. h. als von etwas, das dem Menschen vollkommen eigen ist und in dem er sich genauso wohl fühlt wie in seinem organischen Leib. Nun zeigt es sich aber, daß die Kulturwerke ihm fremd geworden sind: „die Kultur hat auf gehört, der organische Leib des Menschen zu sein.“52 Der Mensch erlebt sie als belastend, ja erdrückend. Die Zivilisation bringt Sachen hervor, die ihn versklaven, anstatt ihn frei und immer freier zu machen. Die Arbeit als Entstehungsakt des Menschen verwandelt sich in einen Vemichtungsakt, und die Beherrschung der Natur führt zur Schwächung des Lebens selbst. Der stolze „Herr der Erde“ und „Herr der Zukunft“ ist im Laufe der Zeit zum Sklaven seiner eigenen Produktion geworden. Der faktische Gang der Geschichte gestaltete sich wirklich als „eine tragische Umkehrung des Sinnes der Geschichte“53.

Diese Umkehrung heißt im Marxismus die Entfremdung. Das ist ein Begriff, der sowohl in der marxistischen Lehre als auch im Marxismus als Bewegung eine große Bolle spielt. Die Entfremdung ist ja die verkehrte Stellung des Menschen in der Welt. Wer also dem Menschen seine wahre Stellung zurückgeben will, muß alles von Grund auf umbauen, was jene verkehrte Stellung herbeigeführt hat. Der totale Anspruch des Marxismus wurzelt darin, daß er den Menschen als entfremdetes Wesen deutet, genau so wie der totale Anspruch des Christentums in der Deutung des Menschen als des gefallenen Wesens wurzelt.54 Der Begriff der Entfremdung ist deshalb die Seele der marxistischen Geschichtstheorie und -praxis.55 Der Terminus selbst bedeutet nichts anderes als die Übersetzung des alten lateinischen Wortes „alienatio“ und bezeichnet die Übertragung der Verfügungsgewalt über eine Person oder eine Sache. Schon dieser juridische Sinn des Terminus weist uns auf eine Situation hin, in die ein Objekt im Hinblick auf seinen Inhaber gerät: es wird diesem fremd oder uneigen; es entzieht sich seiner Gewalt. Auf den Menschen angewandt, bedeutet es, daß der Mensch, wenn er in der Entfremdung existiert, nicht mehr sich selbst gehört; er ist sich selbst fremd oder uneigen, er verfügt über sich selbst nicht mehr. Seine Existenz verläuft außerhalb seiner selbst — „foras eram — ich war draußen“, wie Augustinus den Zustand eines sich von Gott entfernten Menschen bezeichnet. Der entfremdete Mensch existiert gleichsam draußen, nämlich in der Welt der Sachen, deren Leben er nun führt und deren Gesetze er sich zu eigen macht.56

Wie bekannt, hat Marx den Terminus und Begriff „Entfremdung“ von Hegel übernommen. Doch er hat ihm einen ganz anderen Sinn verliehen. Die Entfremdung bedeutet bei Marx einen geschichtlichen Zustand des Menschen; das ist „kein fataler Fluch über die Arbeit und die menschliche Tätigkeit“; sie ist auch nicht „eine Art metaphysischer Status der ewigen ,Menschlichkeit“; sie ist „eine historische Erscheinung“57. Ihr Grund liegt nicht im Menschen selbst als dessen Ursünde oder ontologische Bestimmung, sondern außerhalb des Menschen, und zwar in der vom Menschen selbst hervorgebrachten historischen Existenzweise. Das ist ein geschichtlicher Irrweg der Menschheit, folglich ein vorübergehendes Phänomen, das, geschichtlich entstanden, auch geschichtlich überwunden werden soll, ohne daß man sich auf Gott den Erlöser beruft, wie dies das Christentum in bezug auf die Ursünde tut, oder zur reinen Existenz zurückkehren muß, wie dies der Existenzialismus in bezug auf das Verlorensein des Menschen in der Welt verkündet.

Dagegen bedeutet die Entfremdung bei Hegel einen Wesensmoment in der Entwicklung des absoluten Geistes, nämlich die Selbstvemeinung, in der der Weltgeist in seinem Anderssein, nämlich als Natur, existiert. Der absolute Geist entäußert sich bei der Selbstverneinung dadurch, daß er zur gegenständlichen Welt wird. Die sichtbare Welt oder die Natur ist derselbe Weltgeist, nur nicht im Selbstsein, sondern im Anderssein als Gegenstand oder Objektivation. Konsequenterweise ist bei Hegel die Entfremdung und die Objektivation ein und dasselbe. Überall, wo sich der Geist objektiviert, entfremdet er sich von sich selbst, weil er sich vergegenständlicht, d. h. sich in einem Gegenstand entäußert und somit sich selbst uneigen wird. Das ist aber kein Irrweg, sondern ein Stück des inneren Prozesses im Geiste selbst. Der absolute Geist muß sich selbst verneinen, d. h. zum Gegenstand werden, um zu sich selbst kommen zu können. Die Entfremdung als Objektivation ist deshalb ein unabdingbares Glied in der Kette der Selbstentfaltung des Geistes oder in der dialektischen Triade Hegels — These, Antithese, Synthese —, wobei die Entfremdung eben die Antithese bildet. Daraus folgt, daß die Entfremdung bei Hegel keine ethische Qualität besitzt. Die Entfremdung ist bei Hegel nicht ein ethischer, sondern ein rein ontologischer Begriff, und die Bezeichnung des Geistes als entfremdet bedeutet hier kein Werturteil.58 Die Entfremdung bei Hegel ist keine historische Erscheinung, sondern der ontologische Modus des Geistes; ein Modus, der in der Identität von Denken und Sein liegt und somit das Zwiegespräch des Geistes mit sich selbst bildet; ein Zwiegespräch, in dem die Negation die Triebfeder des Fortschreitens ist. Würde die Negation aufgehoben, so würde das Denken und somit auch das Sein (sie sind ja identisch) aufgehoben.

Auch Marx leugnet nicht, daß der Mensch sich in seinen Werken objektiviert, d. h. daß der Geist sich entäußert. Er nennt die Kultur „zum Werk herausgeborene Wesenskräfte“ des Menschen.59 Die Umgestaltung der Naturwelt bedeutet nichts anderes als ihre Vermenschlichung oder ihre Prägung nach menschlichen Interessen: der Mensch formt die Natur nach sich selbst. Ein jedes Kulturwerk ist die Objektivation dieser oder jener menschlichen Idee, und die Kultur einer Epoche ist die Objektivation des gesellschaftlichen Geistes dieser Epoche. „Alle Gegenstände“, sagt Marx, sind dem Menschen „die Vergegenständlichung seiner selbst“ oder „die Wirldichkeit seiner eigenen Wesenskräfte“ (S. 241). Marx nennt die Industrie „das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte“, das wir unter der Form „nützlicher Gegenstände“ lesen und verstehen können (S. 244). Ohne die Entäußerung seiner selbst in seinem Werk könnte der Mensch die Natur nicht vermenschlichen, ohne die Vermenschlichung der Natur aber könnte er sich selbst nicht schaffen, d. h. nicht frei bestimmen, wie er in der Geschichte existiert. Denn nur die vermenschlichten Gegenstände machen den Menschen menschlich. Die Objektivation des Geistes im Gegenstand ist daher die Voraussetzung für die Selbstschöpfung des Menschen und somit für seine Freiheit in der Welt.

Gerade aber deshalb kann die Objektivation als solche nicht die Entfremdung bedeuten. Die Objekivation ist ein Moment der Naturgestaltung und somit auch ein Moment des Freiwerdens des Menschen. In der Objektivation wird der Sinn der Geschichte verwirklicht. Dagegen ist die Entfremdung, wie schon gesagt, die Umkehrung des Sinnes der Geschichte. Die Objektivation ist die normale Situation des Menschen in der Welt, während die Entfremdung die verkehrte Stellung bedeutet. Folglich kann die Entfremdung ihren Grund nicht in der Objektivation als solcher haben. Als Wesen der Entfremdung gilt für Marx nicht die Tatsache, „daß der Mensch im Gegensatz zu sich selbst vergegenständlicht“ (S. 261—62). Denn ist der Mensch das gegenständliche Wesen, wie Marx oft behauptet, so bildet die Vergegenständlichung seiner selbst nichts anderes als seine eigene Existenzweise. Das gegenständliche Wesen, sagt Marx, „schafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist“ (S. 273). Die Vergegenständlichung oder die Setzung der Gegenstände ist „die Tätigkeit eines gegenständlichen natürlichen Wesens“ (ebd.). Die Hegelsche Gleichsetzung der Objektivation mit der Entfremdung erfährt bei Marx eine deutliche Absage. Da die Entfremdung im Marxismus eine höchst negative Qualität trägt und deshalb beseitigt werden muß, kann sie nicht aus der Objektivation als solcher hervorgehen. Die Objektivation des Geistes ist der die Freiheit stif-tende Modus der menschlichen Existenz in der Welt, während die Entfremdung einen Irrweg dieses Modus bedeutet.

Wenn die Entfremdung nicht durch die Objektivation des Geistes in Kulturwerken verursacht wird, worin liegt denn der Grund dieses so verhängnisvollen Phänomens der Weltgeschichte? Darauf antwortet Marx folgendermaßen: „Der Mensch verliert sich nur dann nicht in seinem Gegenstand, wenn dieser ihm als menschlicher Gegenstand oder gegenständlicher Mensch wird“ (S. 241). Das heißt: die Objektivation des menschlichen Geistes im Gegenstand wird von selbst nicht zur Entfremdung, doch nur unter einer Bedingung — die Produkte dieser Objektivation dürfen den Charakter der Menschlichkeit nicht verlieren. In seinen eigenen Schöpfungen soll der Mensch immer „die Wirklichkeit seiner eigenen Kräfte“ fühlen (ebd.). Das Werk des Menschen soll ihm gegenüber „als gegenständlicher Mensch“ stehen (ebd.), d. h. als er selber, nur in der Gestalt eines objektivierten, vergegenständlichten Gebildes. Anders ausgedrückt, die Menschlichkeit des Menschen muß in jedem Werk gewahrt werden. Nur dann entfremdet sich der Mensch nicht durch sein Werk von sich selbst. Andernfalls befindet sich der Mensch vor seinem Werk als vor einer Sache und nicht mehr als vor sich selbst als gegenständlichem Menschen.

Das wäre nicht so schlimm, wenn er sich zu seinen Werken neutral verhalten könnte wie zu den Natur gegenständen: Steinen, Bäumen, Tieren. Doch menschliche Werke sind für den Menschen nie neutral, weil der Mensch nur in einer kulturellen, von ihm selbst hervorgebrachten Umwelt existieren kann. Diese kulturelle Umwelt bestimmt aber den Menschen und formt ihn grundtief. Darin liegt das Geheimnis der Selbstschöpfung des Menschen. Sind aber kulturelle Werke zu Sachen geworden, denen die Menschlichkeit verlorengegangen ist, so formen sie den Menschen eben durch ihre reine Sachlichkeit. Mit ihrer Aneignung eignet sich der Mensch dann nicht die Mensdilichkeit, sondern die Sachlichkeit an. Er wird von Kräften und Gesetzen bestimmt und geprägt, die seinem Wesen nicht mehr adäquat sind, weil sie nicht ihm selbst, sondern der Welt der Sachen entstammen. Somit wird der Mensch nicht zum Menschen, sondern zur Sache gebildet. Die Selbstschöpfung des Menschen als freien Wesens hört auf, und seine Bückbildung beginnt. Der Mensch sinkt auf die Ebene der sachlichen Notwendigkeit zurück. In der kulturellen Umwelt, die sein Wesensbild trägt und ihm ein Heim sein soll, existiert nun der Mensch als Fremdling. Das Produkt seiner Arbeit erscheint ihm, wie Marx bemerkt, als „eine selbständige Macht“, und das Leben, das er „dem Gegenstand verliehen hat“, tritt „ihm feindlich und fremd“ gegenüber.60 Das ist der Zustand der Entfremdung. Das Wesen der Entfremdung liegt also nicht in der Objektivation, sondern in der Trennung der Objektivation vom Menschen. Diese Trennung kann auf die doppelte Art und Weise zustande kommen. Der Mensch trennt sich von seiner Objektivation im Werk dadurch, daß dieses in das ausschließliche Eigentum des anderen übergeht; daß, wie Marx sagt, „mein Lebensmittel (das Eigentum,Vf.) eines anderen“ und „mein Wunsch der unzugängliche Besitz eines anderen“ werden (S. 266). Ein Werk, das der Mensch erzeugt und das einen Bestandteil seiner Existenz bildet und trotzdem als unzugänglicher Besitz eines anderen gilt, stellt die größte Erniedrigung des Menschen dar, denn der Mensch bedarf seiner Werke, um sich formen zu können. Sind diese Werke aber in das ausschließliche Besitztum eines anderen übergegangen, so kann er sie sich erst dadurch aneignen, daß er sich dem Willen ihres Besitzers unterwirft. Die Aneignung eines entfremdeten Gegenstandes bedeutet daher auch die Aneignung eines fremden Lebensgesetzes. Damit gerät der Mensch in die Situation jener armseligen Kreaturen, die sich, wie Dostojevskij in seiner Legende vom Großinquisitor schildert, darüber freuen, daß sie ihr eigenes, mit ihren eigenen Händen erworbenes Brot von der Hand des Inquisitors bekommen. Die Freude des Menschen, seine eigenen Existenzmittel aus den Händen des anderen bekommen zu dürfen, ist der Ausdruck der radikalen Entfremdung.

Aber der Mensch trennt sich von seinen Werken auch dann, wenn diese eine von ihm unabhängige Entwicklungsrichtung einschlagen oder, wie Marx sagt, „wenn die Sache selbst ein anderes“ wird, „als sie selbst“ an sich ist (S 266). Die ökonomischen Erzeugnisse werden, zum Beispiel, ihrem Wesen nach zur Erhaltung des menschlichen Lebens hervorgebracht. Solange sie den Charakter der Existenzmittel behalten, bleiben sie im Bereich des Menschen und bestimmen ihn als menschliche Gegenstände. Sobald aber die Produktion sich so entwickelt, daß sie ihren eigenen Weg geht und sich als vom Menschen unabhängig behauptet, verwandelt sie sich in etwas anderes, als was sie ursprünglich war, und der Mensch, anstatt über sie zu herrschen, wird zu ihrem Diener: er gehorcht den Gesetzen der Sache und wird selbst versachlicht.61 In diesem Fall spielt der Unterschied zwischen Armen und Beichen keine Bolle, denn die beiden Schichten werden von derselben fremden Macht umfaßt. In dieser Hinsicht, sagt Marx, stellen „die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar“ (S. 317).

Die Entfremdung ist also die Formung des Menschen durch eine ihm fremde Macht. Diese Macht kann alles sein: Ideen, Vorstellungen, Einrichtungen, Werke, dennalles kann sich dem Menschen entgegenstellen und ihm eine uneigene Existenz aufzwingen. In jedem Fall verliert sich der Mensch als Mensch. In jeder Art der Entfremdung wird der Mensch „ärmer als Mensch“, wie Marx den Zustand der Entfremdung kennzeichnet, womit er die wahre Natur dieses merkwürdigen Phänomens aufdeckt. Die Entfremdung ist nicht ein Merkmal nur eines Bereiches im Leben der Menschheit.

Der mögliche Raum der Entfremdung ist das ganze historische Dasein des Menschen.

In der westlichen Literatur über den Marxismus spricht man gewöhnlich nur von der ökonomischen Entfremdung62, die ihren Grund im Privateigentum und in der aus diesem entstandenen Arbeitsteilung hat. Nach der marxistischen Auffassung aber erschöpft sich die Entfremdung durchaus nicht in der ökonomischen Versklavung allein. Die ökonomische Entfremdung ist sogar nicht die Urform dieses Phänomens. Bevor das Privateigentum entstand und die Arbeitsteilung begann, befand sich der Mensch schon in der Situation der Entfremdung. Die ökonomische Entfremdung war lediglich die Fortsetzung und Vollendung dieser ursprünglichen Entfremdungsart, die im Marxismus Religion heißt. Die Religion ist die älteste Form der Entfremdung und somit auch Trägerin und Begründerin aller anderen Entfremdungsformen und -arten. Wenn der Prozeß der Geschichte seinen Sinn verfehlte und aus dem Werdegang der Freiheit ein Werdegang der Knechtschaft wurde, so sei die Religion daran zuallererst schuld, denn sie war die erste, die diesen Prozeß durch die Unterwerfung des Menschen unter eine ihm fremde Macht einleitete und später intensiv förderte.

42 M. Scheler, Philosophische Weltanschauung, München 1954, S. 65—88.

43 N. Hartmann, Ethik, Berlin 1949, S. 204; vgl. auch N. Hartmann, Teleologisches Denken, Berlin 1952.

44 M. Scheler, Philosophische Weltanschauung, S. 87

45 K. Marx, Die Frühschriften, S. 246.

46 In der Selbstschöpfung des Menschen sieht der Marxismus auch den Sinn des Lebens; darüber ausführlicher im 4. Kapitel.

47 Geistesgeschichtlich ist es interessant, daß die Ablehnung der Existenz Gottes im Namen der menschlichen Freiheit schon bei dem russischen Anarchisten Michael Bakunin (1814—1876) ganz deutlich zu finden ist. In seinem Buch „Dieu et l’Etat“ (verfaßt 1871, veröffentlicht in Paris 1882) schreibt er: „Die Gottesidee enthält in sich die Abdankung der menschlichen Vernunft und Gerechtigkeit; sie ist die entschiedenste Negation der menschlichen Freiheit und führt notwendigerweise zur Versklavung der Menschen in Theorie und Praxis. Wenn wir also nicht die Versklavung und Herabwürdigung der Menschen wollen, können und dürfen wir dem Gott der Theologie und dem Gott der Metaphysik nicht die geringste Konzession machen“ (S. 28). „Denn wenn Gott existiert, ist er notwendigerweise der ewige, höchste, absolute Herr, und wenn ein solcher Herr existiert, ist der Mensch Sklave; wenn er aber Sklave ist, sind für ihn weder Gerechtigkeit, noch Gleichheit, Brüderlichkeit, Prosperität möglich“ (S. 30). „Ein Herr, was er immer tun und wie liberal er sich zeigen mag, bleibt nichtsdestoweniger ein Herr, und seine Existenz schließt notwendigerweise die Sklaverei von allem, was unter ihm ist, ein. Wenn Gott existierte, gäbe es für ihn nur ein einziges Mittel, der menschlichen Freiheit zu dienen: zu existieren aufzuhören“ (S. 31). „Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein; also existiert Gott nicht“ (S. 28). (M. Bakunin, Gott und der Staat, übersetzt von M. Nettlau, Leipzig 1919, S. 28, 30, 31). Der postulatorische Atheismus ist wahrscheinlich bei Bakunin zum ersten Mal in der Geschichte des abendländischen Denkens formuliert worden. Inhaltlich stimmen mit ihm Marx und Hartmann völlig überein; ob sie auch formell von Bakunin abhängig sind, ist nicht zu belegen; für Marx ist, da er mit Bakunin einige Jahre in der 1. Internationale eng zusammenarbeitete, eine Abhängigkeit von Bakunin doch als wahrscheinlich anzunehmen.

48 M. Bakunin, a. a. O., S. 30.

49 Vgl. R. Garaudy, La Liberté, Paris 1955, S. 142.

50 Vgl. Voprosy filosofii, 1956, Nr. 1, S. 74.

51 G. V. Plechanov, Izbrannye filos. proizvedenij a, Bd. I, S. 688—689.

52 R. Garaudy, Humanisme marxiste, S. 21—22.

53 R. Garaudy, a. a. O., S. 44.

54 Wegen dieser Ähnlichkeit deuten manche Interpreten die marxistische Entfremdung als Verweltlichung der christlichen Lehre von der Ursünde (vgl. N. Berdjajew, Wahrheit und Lüge des Kommunismus, Baden-Baden 1957, S. 20—24; K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1953, S. 46—48; Th. Steinbüchel, Sozialismus, Tübingen 1950, S. 119).

55 In seinen Frühschriften gebraucht Marx den Terminus „Entfremdung“ sehr oft und will mit ihm die Situation des Menschen in der bisherigen Geschichte wiedergeben (vgl. R. Garaudy, Humanisme marxiste, S. 14,27). Später im „Kapital“ läßt Marx diesen Terminus fallen, ersetzt ihn durch den Ausdruck „der Fetischismus der Ware“ und beschränkt sich auf die ökonomische Entfremdung allein, ohne jedoch auf den Begriff der Entfremdung im allgemeinen zu verzichten (vgl. R. Garaudy, a. a. O., S. 30—31; H. Denis u. a., Les marxistes répondent à leurs critiques catholiques, S. 12—17, 20).

56 Die uneigentliche Existenz des Menschen in der Entfremdung macht diese dem Begriff „Uneigentlichkeit“ der heutigen Existenzphilosophie ähnlich und veranlaßt deshalb einige westliche Interpreten, die marxistische Entfremdung als einen metaphysischen Status zu deuten (vgl. J. Hommes, Der technische Eros, Freiburg/Br. 1955, S. 4; G. Marcel, Der Mensch als Problem, S. 22—23), was jedoch der marxistischen Auffassung der Entfremdung völlig fremd ist.

57    R. Garaudy, in „Les marxistes répondent à leurs critiques catholiques“, S. 34; vgl. auch R. Garaudy, Humanisme marxiste, S. 53, 63—65; H. Ley, Zum Wesen echter Menschlichkeit, S. 169,190.

58    Es ist deshalb völlig verfehlt zu behaupten, Hegel habe einen Fehler begangen, als er die Selbstobjektivierung des Geistes in Kulturwerken und die Selbstentfremdung des Menschen gleichsetzte (vgl. G. Lukacs, Der junge Hegel, Berlin 1954, S. 625—628; H. Lefèbvre, Le matérialisme dialectique, Paris 1957, S. 42—45). Denn im Denksystem Hegels ist diese Gleichsetzung durchaus konsequent: die Objektivation des Geistes und die Selbstentfremdung sind hier nur zwei Aspekte ein und desselben Prozesses des absoluten Geistes.

59 K. Marx, Die Frühschriften, S. 262; vgl. auch S. 281.

60 K. Marx, a. a. O., S. 254, 266; vgl. G. Mende, Karl Marx’ Entwicklung vom revolutionären Demokraten zum Kommunisten, Berlin 1960, S. 148—149.

61 Uber diese zweite Art der Trennung der menschlichen Werke vom Menschen, vor allem auf dem ökonomischen Bereich, vgl. R. Garaudy, Humanisme marxiste, S. 21—22; G. Plechanov, Izbrannye filos. proizvedenija, Bd. , S. 688—693.

62 Eine positive Ausnahme in der westlichen Interpretation der Entfremdung bildet das Buch von J. Y. Calvez, La pensée de Karl Marx (Paris 1956; deutsch: Karl Marx. Darstellung und Kritik seines Denkens, übersetzt von Th. Sapper, Freiburg/Br. 1964), in dem der Verfasser die religiöse Entfremdung als grundlegend ansieht und von ihr her auch die anderen Entfremdungsarten, ja das Wesen des Marxismus zu verstehen und zu erörtern versucht.

 

3. Die Religion als entfremdetes Dasein

Nach der marxistischen Auffassung ist die Religion „dem Menschen bei seiner Entwicklung aus dem Tierreich nicht mitgegeben worden“; sie ist erst „auf einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe entstanden“63. Die Religion ist „eine historische Kategorie“64. Darunter verstehen die marxistischen Religionstheoretiker jedoch nicht den wesenhaften Ursprung, sondern den zeitlichen Anfang, nach dem in der westlichen Forschung nie gefragt worden sei. Das veranlaßt die sowjetischen Forscher zu behaupten, das Problem der Entstehung der Religion sei im Westen überhaupt nicht begriffen worden. Man forsche hier zwar nach der Form dieser oder jener Religion, nicht aber nach dem zeitlichen Beginn der Religion als solcher; man frage, ob der Monotheismus oder der Polytheismus die Urreligion gewesen sei, aber man gebe nicht zu, daß eine Zeit möglich gewesen wäre, in der die Menschheit überhaupt keine Religion gehabt hätte65 Man glaube in der westlichen Welt, die Religion sei so eng mit der menschlichen Natur verbunden, daß man nach ihrem zeitlichen Anfang wirklich nicht fragte. Die Religion ist zwar entstanden, doch gleichzeitig mit dem Menschen selbst — genauso wie die Sprache, die Moral, die Familie usw. Wie es keine Epoche gab, in der die Menschheit ohne Sprache, ohne Sitten, ohne Familie existierte, so gab es auch keine areligiöse, keine vorreligiöse Epoche.66 Der Ursprung der Religion bedeutet auch den Ursprung des Menschen.

Dieser Gleichsetzung stellen die marxistischen Religionsforscher ihre eigene These entgegen: die Religion sei eine sehr junge Erscheinung im Vergleich mit der Entstehung des Menschen. „Viele hunderttausend Jahre lang besaßen die Menschen keinerlei religiösen Glauben.“67 Das beweise die Tatsache, daß die Hinterlassenschaften des ältesten Menschen, des Pithecan-thropus „keinerlei Spuren“ religiösen Lebens zeigten: sie wiesen nicht „auf irgendeinen religiösen Glauben oder auf religiöse Kulte dieser Wesen“ hin (ebd.). Das gleiche Bild ergebe sich auch bei der Erforschung von Denkmälern der materiellen Kultur des Sinanthropus“ (ebd.). Die sowjetischen Religionshistoriker leugnen sogar, daß der Neandertaler Mensch eine Religion gehabt habe, obwohl die Funde auf Bestattung der Toten schließen lassen, was von vielen westlichen Forschem (Bardon, Buissoni, Hauser, Klatsch) als Zeugnis für das Vorhandensein von Religion gedeutet wird. Die sowjetischen Wissenschaftler bestreiten nämlich, daß der Neandertaler Mensch die Form der Totenbestattung aus religiösen Motiven gewählt habe.68 Sie geben nur zu, daß „erst bei Menschen des heutigen Typus — bei den Cromagnon-Menschen“ eine religiös „vorbedachte Bestattung der Toten“ zu finden sei; dieser Typus erschien aber erst „gegen Ende der älteren Steinzeit, d. h. vor 40000 bis 50000 Jahren“69. Daraus folge, daß die Religion im Vergleich mil dem Alter der Menschheit eine sehr späte Erscheinung sei und daß eine ungewöhnlich lange Epoche die Menschen völlig areligiös gewesen seien.

Ob die marxistischen Argumente wissenschaftlich ausreichen, um eine so lange areligiöse oder vorreligiöse Epoche in der Geschichte der Menschheit anzunehmen, lassen wir hier dahingestellt sein, denn das eigentliche Problem liegt nicht darin, ob die Religion in der Epoche des Neandertalers oder erst in der des Cromagnon-Menschen entstanden ist, sondern darin, ob sie überhaupt einen historischen Beginn, gesondert vom Ursprung des Menschen selbst, hat. Eben auf diese Frage legen die marxistischen Denker einen besonderen Wert, und mit vollem Recht, denn ist die Religion später entstanden als der Mensch, so bedeutet das, daß sie dem Menschen nicht wesensnotwendig ist; in diesem Fall kann der Mensch auch ohne die Religion existieren. Konnte er das in der Urepoche seines Daseins, so kann er das auch in der Zukunft. Ein vollständiger Atheismus erscheint dann nicht als eine Utopie, weil er schon einmal in der Geschichte der Menschheit dagewesen ist, und der kommunistische Kampf gegen die Religion wird damit nicht so aussichtslos, wie man oft denkt. Eine vorreligiöse Epoche des primitiven Menschen erneuert sich in der areligiösen Epoche des hochkultivierten Menschen und das, was der Urmensch unbewußt tat, nämlich ohne Gott leben, vollendet der kommunistische Mensch mit voller Bewußtheit: dieses Eingeständnis würde, wie das Feuerbach schon verkündete, die gegenwärtige religiöse Epoche beenden und die Wende zu einer neuen Geschichtsepoche sein; zu einer Geschichte ohne Gott, die neu nur in bezug auf die Gegenwart, uralt aber in bezug auf die Urzeit der Menschheit wäre. In dieser Hinsicht ist der durch den Marxismus verursachte Streit um die Entstehung der Religion von großer Wichtigkeit und Tragweite.

Noch wichtiger ist die Frage, aus welchem Grund die Religion entstanden ist, wenn sie nicht eine Erscheinung gleichzeitig mit dem Ursprung des Menschen sein soll. Eine Antwort darauf gibt der Marxismus mit dem Hinweis, daß die Religion „eine Form des gesellschaftlichen Bewußtseins“ sei70; d. h. sie stelle die Situation des Menschen in der Welt dar. Nun erlangte der Mensch in der Epoche der älteren Steinzeit gerade das Bewußtsein seiner Ohnmacht gegenüber der Naturwelt. Er war allerdings seit dem Beginn seiner Existenz auf der Erde den Gewalten der äußeren Welt machtlos preisgegeben, weil er diese Gewalten nicht kannte und deshalb nicht beherrschen konnte. Aber solange sein Bewußtsein noch nicht eine entsprechende Stufe der Entwicklung erreicht hatte, erlebte er diese seine Ohnmacht nicht: er war sich ihrer nicht bewußt; er nahm sie als eine Selbstverständlichkeit hin, ohne sich Gedanken über sie zu machen. Die Kluft zwischen Wollen und Können war beim Urmenschen nicht die Sache der Reflexion. Als aber sein Bewußtsein reif genug wurde — und das geschah eben beim Cromagnon-Menschen —, sah er ein, daß er mit seinen kargen

Mitteln, die er sich inzwischen geschaffen hatte, die Natur nicht so bezwingen könnte, wie er es möchte, ja müßte, um seinen Vorstellungen entsprechend zu existieren. Die ganze Unheimlichkeit seiner Umwelt trat ihm deutlich vor Augen. Die elementaren Gewalten bedrohten ihn ständig; er existierte in der Welt angesichts der größten Gefahr. Wenn der Mensch von der heutigen Existenzphilosophie als ungesichertes Wesen (ens insecurum, Peter Wust) bezeichnet wird, so trifft diese Bezeichnung den Urmenschen noch genauer, und zwar nicht nur in seiner objektiven Lage, sondern zugleich auch in seinem subjektiven Erleben dieser Lage. Das Bewußtsein der Bedrohung durch die Natur und der Ohnmacht seines eigenen Wesens war der Zustand, in dem der Mensch der Steinzeit lebte.

Es ist deshalb durchaus verständlich, daß dieser bedrohte und sich seiner Ohnmacht bewußte Mensch nach einer Hilfe suchte, die er jedoch nicht bei seinem Mitmenschen finden konnte, weil dieser sich genauso gefährdet fühlte und so bedroht war wie jeder andere. Die Welt, in der der primitive Mensch existierte, bot ihm keinen Ort, wohin er flüchten und wo er Geborgenheit finden konnte. Er sehnte sich aber nach dieser Geborgenheit. Aus diesem Grund projizierte er sein Suchen nach Hilfe in die Überwelt. Er stellte sich eine andere Welt vor, eine friedliche, sichere, glückliche Welt, in die er nach dem Tode eingehen sollte und deren Mächte ihn bereits in diesem Leben schützen konnten, wenn er sie darum bat. Die Verdoppelung der Existenz war die Lösung des primitiven Menschen, die er angesichts seiner eigenen Ohnmacht gegenüber der Naturwelt fand. So entstand die Religion als die Beziehung des Menschen zu dieser von ihm selbst erdachten jenseitigen Welt. Denn in jeder Religion gibt es wesensnotwendig zwei Elemente: das Bewußtsein der menschlichen Ohnmacht und den Glauben an die Macht jenseitiger Wesenheiten. Diese zwei Elemente sind notwendigerweise miteinander verbunden und werden voneinander getragen. Verliert eines von ihnen die Bedeutung, so kann auch das andere sich nicht halten. Erlebt sich der Mensch gegenüber der Natur als mächtig, so braucht er keine Hilfe von oben und keine Zufluchtsstätte im Jenseits; erweisen sich die überweltlichen Wesenheiten oder Götter als machtlos, so braucht der Mensch sie nicht anzubeten und um ihre Hilfe zu flehen. Die Religion steht und fällt mit dem Verhalten des Menschen zur Natur. Sie ist aus erfahrener Ohnmacht entstanden und lebt nur, solange diese Ohnmacht psychologisch oder real existiert. Die Religion wurzelt in der „Niedergedrücktheit des Menschen“71; sie ist „das Seufzen der bedrängten Kreatur“72.

Als Widerspiegelung der ursprünglichen Machtlosigkeit des Menschen ist die Religion ein wahres Abbild der Urzeit: „Der Mensch begreift sich nicht als Herr der Natur, weil er noch nicht Herr über die Natur ist; er begreift sich als ihr Knecht, weil er faktisch noch ihr Knecht ist.“73 In dieser Hinsicht sagt die Religion die Wahrheit, indem sie die Ohnmacht des Menschen hervorhebt. Der Irrtum der Religion besteht nicht in der Deutung des primitiven Menschen als machtlos, sondern im Versuch, diese Machtlosigkeit durch die Verdoppelung der Welt und des Lebens zu überwinden. Um der drohenden realen Welt zu entkommen, läßt die Religion den Urmenschen in seine eigene Wunschvorstellung von der Welt flüchten, diese Wunschvorstellung als ein real existierendes Jenseits begreifen und somit eine andere Lehre, eine andere Tätigkeit und eine andere Gemeinschaft hervorbringen als diejenige, die schon konkret vorhanden sind. Doch diese „andere Welt“ ist „die phantastische Widerspiegelung“, wie sie Friedrich Engels nennt74; d. h. eine Widerspiegelung, die nicht das reale Jenseits wiedergibt, sondern das sichtbare Diesseits zur Phantasie erhebt und somit verdoppelt, ober eben nur in der Phantasie. Wohl wird diese phantastische Widerspiegelung auch konkretisiert: es entstehen der Glaube mit dem Dogma neben dem Wissen und der Forschung, der Kult mit der Magie neben der Arbeit und der Technik, die Kirche neben dem Staat. Doch dieser phantastische Doppelgänger samt all seinen Formen erweist sich als vollständig kraftlos in bezug auf die reale Welt — wie jedes andere Phantasiegebilde. Der Glaube mit dem Dogma bringt keine neuen Erkenntnisse, der Kult mit der Magie bezwingt die Naturkräfte nicht im geringsten, die Kirche verbessert die Gesellschaft kaum. Der Marxismus gibt zwar zu, daß die Religion in der Geschichte „eine besonders hervorragende Rolle gespielt hat“; sie hat „eine breitere Wirkung gehabt als Philosophie, Wissenschaft und Kunst“; sie war „eine Ideologie, die es weit eher verstanden hat, die Massen zu ergreifen, als es bei der Philosophie, Wissenschaft und Kunst der Fall war“; ja, die Religion vermochte sogar, „die Philosophie, Wissenschaft und Kunst in ihren Dienst zu spannen“75. Anders gesagt, die Religion war in der Geschichte wirklich ein großer Faktor der Menschenformung.

Doch welcher Art war diese Formung? Bei der Beantwortung dieser Frage zeigt sich eben die entfremdende Macht der Religion, die ihre Rolle in der Geschichte in eine durchaus negative Wirkung verwandelt. Anstatt die Natur zu erforschen und ihre Gesetzmäßigkeit kennenzulernen, lenkte die Religion den Geistesblick des Menschen auf die Überwelt. Diese Überwelt ist aber „eine Widerspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von überirdischen annehmen“76. Das ist „ein verkehrtes Weltbewußtsein“77, das auch das Verhalten des Menschen zu sich selbst oder das Selbstbewußtsein verkehrt. Der Mensch verlegt sein eigenes Wesen in das Jenseits, objektiviert es als etwas anderes und läßt sich von diesem anderen formen. Das ist die tiefste Entzweiung des Menschen in sich selbst. Der religiöse Mensch, indem er an Gott glaubt und ihm folgt, existiert nicht mehr bei und in sich selbst. „Und je mehr der Mensch auf Gott vertraut, um so weniger besitzt er sich selbst.“78 Seine edelsten Gattungseigenschaften legt er in die Hände jenes überweltlichen anderen und glaubt dann, diese Eigenschaften in der Gestalt übernatürlicher Gebote, Räte, Ideale aus den fremden Händen wieder zurückempfangen zu können. Damit verzichtet er auf seine Selbständigkeit und Freiheit, weil er sich als ein Wesen empfindet, das „von der Gnade eines anderen lebt“79, ohne zu wissen, daß dieses andere in Wirklichkeit der Mensch selbst als Gattungswesen ist. Darin eben besteht jene verkehrte Stellung des Menschen zu sich selbst, die aus der Religion hervorgeht und von ihr gestärkt wird. Die Verlegung seines Wesens in das andere bringt wohl dem niedergedrückten Menschen eine psychologisch-subjektive Erleichterung, aber sie ändert nicht seine objektiv-reale Situation in der Welt. Einem Rauschgift gleich betäubt die Religion den Menschen, indem sie ihn mit ihren überirdischen Hoffnungen von seiner wahren Lage auf der Erde ablenkt.

Hier liegt der Grund, warum der Marxismus einen positiven Wert der Religion entschieden verneint. In dieser Hinsicht folgt der Marxismus Feuerbach nicht; ja, er stellt sich ihm sogar entgegen. Der Marxismus übernimmt von Feuerbach nur die Auffassung, Gott sei das irrtümlicherweise ins Jenseits projizierte Gattungswesen des Menschen selbst. Die Feuerbachsche Deutung der Religion lehnt er aber ab. Feuerbach wollte nämlich die Religion als Beziehung des Menschen zu seinem eigenen Wesen durchaus nicht abschaffen. Er wollte nur ihr Objekt ändern, nämlich Gott aus der Transzendenz in die menschliche, innerweltliche Immanenz verlegen, die Theologie in die Anthropologie verwandeln und so eine neue Religion, die Religion des Menschen stiften. Die Menschen sollten begreifen, daß nicht ein überweltlicher Gott ihr Dasein heiligt, sondern daß das Dasein selbst „in seinen wesentlichen Verhältnissen durchaus göttlicher Natur ist“: es empfängt „seine religiöse Weihe“ nicht erst „durch den Segen des Priesters“, sondern aus sich selbst (S. 410); „die tiefsten Geheimnisse“ liegen nicht in der Überwelt, sondern „in dem Gemeinen, dem Alltäglichen“80. Deshalb spricht Feuerbach von dieser neuen rein menschlichen Religion in den alten liturgischen und sakralen Worten: heilig, göttlich, Weihe, Segen, Geheimnisse; er nennt heilig „an und für sich“ (S. 410) nicht nur die Freundschaft, das Eigentum, die Ehe (vgl. ebd.), sondern auch das Wasser, das Brot, den Wein, deren Genießen als „ein religiöser Akt“ empfunden werden solle (S. 418). Man brauche nur „den gewöhnlichen Lauf der Dinge zu unterbrechen, um dem Gemeinen ungemeine Bedeutung, dem Leben als solchem überhaupt religiöse Bedeutung abzugewinnen“ (S. 419).

Eben diese Sakralisierung des Daseins, diese religiöse Weihe natürlicher Vorgänge des Lebens lehnt aber der Marxismus leidenschaftlich ab. Feuerbachs Bemühung, eine neue rein menschliche Religion zu schaffen und in ihr das alte religiöse Verhalten des Menschen zu bewahren, nennt Engels „etymologische Kunststücke“; das Wort ,Religion' kommt nämlich her von rehgare, „also ist jede Verbindung zweier Menschen eine Religion“, und die menschlichen Beziehungen gelten erst dann, „wenn sie religiös abgestempelt sind“. Das sei aber nach Engels „das letzte Auskunftsmittel der idealistischen Philosophie“. Eine Religion erhalten oder von neuem stiften wollen, nachdem der Mensch begriffen hat, daß Gott nur sein eigenes Wesen ist, heißt „die moderne Chemie als die wahre Alchimie auffassen. Wenn die Religion ohne ihren Gott bestehen kann, dann auch die Alchimie ohne ihren Stein der Weisen“81. Das ist aber ein Unsinn. Wenn es keinen Stein der Weisen gibt, so kann es auch keine Alchimie geben. Die Chemie hat die Alchimie für immer überwunden und abgeschafft. So ist es auch mit der Religion. Hat sie ihr Objekt, nämlich den objektiv existierenden Gott verloren, so ist es völlig unmöglich und widersinnig, noch ihre Eigenschaften zu erhalten und sie dem Menschen als etwas Weihevolles zu empfehlen. Marx hat recht, wenn er sagt, indem der Mensch „sich gegen das Dasein Gottes kehrt, kehrt er sich gegen seine eigene Religiosität“82. Der Glaube an Gott als übernatürliches Wesen bildet, nach der marxistischen Auffassung, das Wesen der Religion und unterscheidet sie von allen anderen Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins.83 Neuere Auffassungen vom Wesen der Religion als sittlicher Verpflichtung (Kant), als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit (Schleiermacher), als Erleben des Tremendum (Rudolf Otto) seien nach den marxistischen Denkern nur Folgeerscheinungen der Religion als Glaube an das Überweltliche. Wo es einen solchen Glauben nicht gibt, dort gibt es auch die genannten Erscheinungen nicht. Den Glauben an das Überweltliche kann es aber nicht geben, wenn es keinen Gott gibt. Deshalb sagt G. Plechanov: „Es gibt keine Religion ohne Gott; wo die Religion ist, dort soll auch Gott sein.“84 Wenn Feuerbach Gott als objektiv existierend verneint und die Religion bejaht, so handelt er inkonsequent und verleitet den Menschen zum Selbstbetrug.

Feuerbach wollte die Religion ohne Gott dehalb erhalten, weil er in ihr einen Wert sah: die Religion mache den Menschen edel, sittlich, liebend, gerecht. Mag sein, daß die Begründung dieser Werte falsch ist: diese Werte schöpfen ihren Wertcharakter nicht aus Gott, sondern sie enthalten ihn in sich selbst. Immerhin sollen die religiösen Werte — auch des objektiven Grundes im Sinne eines Gottes beraubt — weiterhin existieren und gepflegt werden. Dagegen entdeckt der Marxismus in der Religion als Urform der Entfremdung einen grundsätzlichen Unwert, den keine sekundären Werte wettmachen können. Feuerbach nannte alle Religionen heilig, „weil sie die Überlieferungen des ersten Bewußtseins sind“85. Dieses erste Bewußtsein sei zwar kindlich, es unterscheide noch nicht zwischen dem Menschen als Subjekt und demselben Menschen als Objekt, so daß der Mensch sich selbst als Du ansprechen und dieses Du als etwas anderes erleben kann, woraus eben das Bild Gottes entsteht. Das ist gewiß ein unreifes Bewußtsein, das überwunden werden soll. Immerhin ist es schön, die Erinnerungen an diese kindliche Epoche der Menschheit zu bewahren. Die Religionen haben uns dieses kindliche Bewußtsein überliefert, sie hüten dieses Bewußtsein, deshalb sind sie uns heilig und werthaft. Man hört hier deutlich einen Romantiker, der mit der Vergangenheit nicht brechen will, weil er sie liebt als Urheimat der Gegenwart. Der Marxismus ist aber von solcher Romantik frei. Die Vergangenheit der Menschheit betrachtet er als einen primitiven, beschwerlichen, falschen Zustand, als einen Irrweg, der in jedem Fall verlassen werden muß. Jedes Überbleibsel dieser Vergangenheit bedeutet deshalb das Mitschleppen der Lasten jener als falsch entlarvten Epoche und hindert uns, sie zu überwinden. Es ist wohl möglich, daß die Religion für den einzelnen vom subjektiven Wert war: sie verlieh ihm Ausdauer und seelische Kraft beim Tragen der irdischen Last. Objektiv jedoch richtete die Religion in der Geschichte einen unübersehbaren Schaden an, weil sie den Menschen mit sich selbst entzweite und sein Dasein als entfremdetes gestaltete. Damit hemmte sie den Fortschritt in der Beherrschung der Natur und in der Umgestaltung der Gesellschaft.

Solange der Mensch einem vermeintlich im Jenseits existierenden Wesen unterworfen bleibt, kann er, nach der marxistischen Auffassung, der wirkliche Herr der Natur nicht werden. Die Natur erlebe der glaubende Mensch als Gottes Werk, das ihm zwar zur Verfügung steht, über das er jedoch nicht derartig herrschen darf wie über seine eigenen Schöpfungen. Die Natur ist dem religiösen Menschen nie das reine Material für seine Tätigkeit, weil sie zugleich auch die primäre Offenbarungsstätte Gottes ist, durch die sich Gott kundgibt und dem Menschen Weisungen erteilt. Daher behandelt der glaubende Mensch die Natur immer mit einer gewissen Scheu und Zurückhaltung; er fragt stets, wie weit er in das Werk Gottes eingreifen darf. Die Entheiligung der Natur ist die unbedingte Voraussetzung für ihre Beherrschung durch den Menschen. Wie kann aber die Natur entheiligt werden, wenn man sie als Gottes Werk erlebt? Darin liegt eben nach der Meinung des Marxismus der tiefste Grund dafür, daß die Religion ein Hemmschuh der naturwissenschaftlichen und technischen Entwicklung gewesen sei. Denn solange man den Blitz als Ausbruch des göttlichen Zornes empfindet, baut man keinen Blitzableiter.

Dasselbe gilt auch für die Gesellschaft. Da der Glaube an Gott sich notwendigerweise in einer Gemeinschaft objektiviert, bildet sich dadurch von selbst eine Schicht von Menschen heraus, die über ihre Mitmenschen herrschen — nicht wegen ihrer persönlichen Fähigkeiten oder Leistungen, und auch nicht kraft der Beauftragung durch ihre Mitmenschen selbst, sondern einzig und allein auf Grund einer vermeintlich göttlichen Berufung, Weihe, Salbung, Einsetzung. Somit entstehen in der Gesellschaft Ränge, die sich voneinander durch religiöse Qualität unterscheiden und nie als gleiche erlebt werden können. Denn ein Mensch, den Gott berufen hat, ein Amt in der religiösen Gemeinschaft auszuüben, der dazu geweiht und eingesetzt wird, kann nicht auf derselben Ebene stehen wie diejenigen, für die er eingesetzt ist. Somit spaltet die Religion die Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte, in Höhere und Niedrigere. Diese Spaltung kann nicht überwunden werden, solange die Religion existiert. Und je mehr Macht die Religion im Verlauf der Geschichte in der Gesellschaft bekommt, um so mehr vertieft sie diese Spaltung und um so spürbarer wird die Ungleichheit unter den Menschen. Die mittelalterliche hierarchische Ordnung der Gesellschaft ist ein eindrucksvoller Beweis dafür. Deshalb sagte schon Feuerbach, er gäbe keinen Pfifferling für die politische Freiheit, wenn er Sklave seiner religiösen Einbildungen und Vorurteile bleibe. Die politische Freiheit geht Hand in Hand mit der Entmachtung der Religion als gesellschaftlichen Faktors. Solange also die Religion nicht aufgehoben wird, kann weder die Herrschaft des Menschen über die Natur erreicht noch die Herrschaft des Menschen über den Menschen abgeschafft werden. Eben deshalb verkündete Marx: „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“86

63    J. H. Horn, Religion und Gesellschaft, im Sammelwerk „Beiträge zur Kritik der gegenwärtigen bürgerlichen Geschichtsphilosophie“, S. 58.

64    G. A. Gurev, Hat es immer einen Glauben an Gott gegeben?, im Sammelwerk „Philosophie und Gesellschaft“, hrsg. von W. Pfoh und H. Schulze, Berlin 1958, S. 476.

65   Das Übersehen des eigentlichen Problems beim Ursprung der Religion in der westlichen Religionsforschung betont besonders V. F. Zybkovec, Doreligioznaja epocha (Die vorreligiöse Epoche), Moskau 1959, S. 3 ff.

66   Die These von dem gleichzeitigen Ursprung des Menschen und der Religion hat vor allem die ethnologische Wiener Schule vertreten, deren Gründer und Anhänger sich der Erforschung primitiver Religion besonders intensiv widmen und viel aufschlußreiches Material gesammelt und veröffentlicht haben: vgl. W. Schmidt, Ursprung der Gottesidee, Münster 1912—55, 12 Bde.; W. Köppers, Der Urmensch und sein Weltbild, Wien 1949; P. Schebesta u. a., Ursprung der Religion, Berlin 1961. Das letzte Werk enthält auch eine Auseinandersetzung mit der marxistischen Theorie einer vorreligiösen Epoche (S. 161—72), was dieses Buch besonders wertvoll macht.

67 G. A. Gurev, a. a. O., S. 475.

68 Vgl. V. F. Zybkovec, a. a. O., S. 220.

69 G. A. Gurev, a. a. O., S. 475. — Als Antwort auf diese marxistische Behauptung weist K. Klostermeier darauf hin, daß „bis in die Zeit von etwa 150000 v. Chr. sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit die Religion zurückverfolgen läßt; über frühere Zeiten können wir keine wissenschaftlich-historischen Aussagen machen“ (zit. P. Schebesta, Ursprung der Religion, S. 165).

70 J. H. Hom, Religion und Gesellschaft, S. 57.

71   W. I. Lenin, Über die Religion, S. 49.

72   K. Marx, Die Frühschriften, S. 208.

73 J. H. Horn, a. a. O., S. 64.

74   Fr. Engels, Anti-Dühring, in: K. Marx -- F. Engels, Werke, Bd. XX, S. 294; genauso qualifiziert auch Marx die Religion, indem er sie „die illusorische Wirklichkeit“, „die illusorische Sonne“, „das illusorische Glück“, „die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens“ nennt (vgl. Die Frühschriften, S. 207-208).

75   J. H. Horn, a. a. O., S. 57.

76 Fr. Engels, a. a. O., S. 294.

77 K. Marx, Die Frühschriften, S. 208.

78 R. Garaudy, Humanisme marxiste, S. 38.

79 K. Marx, a. a. O., S. 246.

80 L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Bd. II, S. 417.

81   Fr. Engels, a. a. O., Bd. XXI, S. 284.

82   K. Marx, a. a. O., S. 321.

83 Vgl. Voprosy filosofii, 1956, Nr. 2, S. 183; Voprosy istorii religii i ateizma, Bd. 4, S. 26-27.

84 G. V. Plechanov, Izbrannye filos. proizvedenija, Bd. III, S. 377.

85 L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Bd. II, S. 409.

86 K. Marx, Die Frühschriften, S. 207.

 

 

4. Der Atheismus als Befreiung

Es ist deshalb leicht einzusehen, warum der Marxismus als Bewegung, deren Ziel es ist, den Menschen aus dem Zustand der Entfremdung zu befreien, sich gegen die Religion richtet. Denn „die Aufhebung der Entfremdung“, wie Marx sagt, „hängt immer von der Form der Entfremdung“ ab.87 Da die Religion die erste und älteste Form der Entfremdung ist, wird die Aufhebung der Religion zur Voraussetzung für jede andere Befreiung des Menschen. „Wenn der Mensch nicht mehr bloß denkt, sondern auch lenkt, dann erst verschwindet die letzte fremde Macht, die sich jetzt noch in der Religion widerspiegelt.“88 Die Aufhebung der anderen Entfremdungsformen, wie das Privateigentum etwa, würde kaum von Bedeutung sein, solange die Urform, nämlich die Religion, bestehen bleibt. Konsequenterweise zieht Marx selber eine enge Parallele zwischen Atheismus und Kommunismus: die beiden stellen „das wirkliche Werden“ des Menschen dar.89 Der Atheismus „als Aufhebung Gottes“ ist nichts anderes als „das Werden des theoretischen Humanismus“, d. h. das Zurückkommen des Menschen zu sich selbst im Bewußtsein. Im Atheismus wird der Mensch sich seiner selbst als Grund der eigenen Existenz in der Welt bewußt und somit selbständig. Der Kommunismus „als Aufhebung des Privateigentums“ ist nichts anderes als „das Werden des praktischen Humanismus“, d. h. das Zurückkommen des Menschen zu sich selbst im Handeln. Im Kommunismus befreit sich der Mensch von der fremden Macht in der Gestalt des Privatbesitzes und wird somit ebenfalls selbständig. In beiden Fällen vollzieht sich „die Verwirklichung seines Wesens ... als eines wirklichen“ (ebd.), d. h. nicht als phantastischen wie in der Religion oder als entstellten und verkümmerten wie im Privateigentum. Obwohl der Marxismus vom Atheismus und Kommunismus in negativen Termini spricht, begreift er diese zwei Erscheinungen durchaus nicht nur negativ, denn sie sind eben, wie schon gesagt, die Negation der Negation, die Negation der Entfremdung als höchste Negativität. Deshalb werden sowohl der Atheismus als auch der Kommunismus zur höchsten Bejahung des Menschen. Sie bedeuten, wie Marx beteuert, „keine zur unnatürlichen, unentwickelten Einfachheit zurückkehrende Armut“, sondern „erst das wirkliche Werden“ (ebd.) des Menschen im Sinne einer vollständigen Entfaltung seiner Freiheit.

Der Atheismus und der Kommunismus beziehen sich, wie diese enge Parallele zeigt, notwendigerweise aufeinander, und zwar wie zwei Seiten oder zwei Aspekte ein und derselben Sache, nämlich der Befreiung des Menschen aus dem Zustand der Entfremdung. Man kann diese zwei Seiten nicht trennen oder nacheinander verwirklichen, denn sie setzen einander voraus und bedingen einander. Es wäre doch sinnlos, Gott als fremde Macht abzulehnen und zugleich sich vom Eigentumsbesitzer bestimmen zu lassen, d. h. in seinem Bewußtsein frei, in seinem Handeln aber unfrei zu sein. Die Befreiung des Menschen im Bewußtsein zieht nach sich unbedingt auch seine Befreiung im Handeln. Der Atheismus geht notwendigerweise in den Kommunismus über. Andererseits wäre es ebenfalls sinnlos, das Privateigentum als fremde Macht abzuschaffen und zugleich Gott über sich herrschen zu lassen, d. h. im Handeln frei zu werden, im Bewußtsein dagegen auch weiterhin sich als abhängig zu fühlen. Die Befreiung des Menschen im Handeln verlangt auch seine Befreiung im Bewußtsein. Der Kommunismus geht von selbst in den Atheismus über. Im vollendeten Atheismus entsteht notwendigerweise der Kommunismus, und der vollendete Kommunismus ist unmöglich ohne den Atheismus. Denn diese zwei Lebensformen sind im Wesen ein und dasselbe: sie sind die Lebensformen des aus der Entfremdung befreiten Menschen. Sie widerspiegeln die Befreiung nur von zwei Seiten aus: der Atheismus stellt die Befreiung im Bewußtsein, der Kommunismus die gleiche Befreiung im Handeln dar. Da aber die volle Befreiung sowohl das Bewußtsein als auch das Handeln umfaßt und in sich vereinigt, so vereinigen sich auch der Atheismus und der Kommunismus zu einer einzigen Lebensform des Sowjetmenschen, der sich als bereits befreit erlebt.

All das widerspricht eindeutig der kühnen Hypothese mancher westlichen Interpreten des Marxismus, die den Atheismus vom Kommunismus theoretisch zu trennen versuchen. Eine theoretische Trennung dieser zwei Lebensformen ist jedoch absolut unmöglich, wenn der Marxismus sich nicht auflösen will. Möglich ist nur eine praktische Tolerierung sowohl der Religion als auch des Privateigentums, was wir in der Geschichte der Sowjetunion hie und da tatsächlich feststellen können. Doch Tolerierung ist keine Anerkennung. Die Toleranz entspringt eher einem Gefühl der Überlegenheit oder einer Einsicht in die Notwendigkeit der Entspannung bei der Verwirklichung des Kommunismus. Lenins neue ökonomische Politik (NEP) im Jahre 1921 und Chruščevs neue religiöse Politik sind derselben Situation entwachsen, nämlich der Entspannung im Kampf, um zum nächsten Schlag auszuholen oder nach einer neuen Taktik Ausschau zu halten. Wer das nicht versteht oder übersieht, verkennt das Wesen des marxistischen Atheismus. Er ist keine aus dem bösen Herzen oder schlechten Gewissen entstandene Gottlosigkeit, auch keine rein soziale Bekämpfung der Kirche als historischer Erscheinung, sondern die grundsätzliche Befreiungsform des Menschen, genau so wie die Religion die grundsätzliche Entfremdungsform des Menschen ist. Dem Marxismus zuzumuten, daß er diese Form nicht nur praktisch toleriert, sondern auch theoretisch anerkennt und seine Interpretation des Seins dadurch ergänzt, wie dies, zum Beispiel, M. Beding anregt90, hieße die marxistische Gesamtkonzeption des Menschen und der Geschichte zum Einsturz bringen. Das ändern auch nicht die neuesten Diskussionen zwischen Christen und Marxisten (darüber ausführlicher im 1. Exkurs am Ende des Buches).

Warum bedeutet aber der Atheismus die vollendete Freiheit des Menschen? Das ist die Frage, die wir mm in den weiteren Überlegungen klären wollen.

Der atheistische Mensch allein ist es, der sich dessen bewußt wird, daß das, was man Gott nennt, nichts anderes sei als unser eigenes menschliches Gattungswesen. Begreift er das und verneint somit die objektive Realität des Jenseits, so nimmt er das eigene in dieses Jenseits irrtümlicherweise projizierte Selbst zurück. Die Bedrängung des Menschen durch irdische Nöte bleibt zwar auch im Atheismus bestehen. Doch sie hört hier auf, das „Seufzen der Kreatur“ (Marx mit dem NT) nach dem Himmel zu sein, und verwandelt sich in den Appell an menschliche Kräfte, dieser Bedrängung mutig entgegenzuwirken und sie im Prozeß der Geschichte allmählich zu überwinden. Die transzendente Allmacht, an die der religiöse

Mensch glaubt, erweist sich im Atheismus als die Macht des Menschen. Die Verdoppelung des Daseins verschwindet, und das Diesseits wird zum einzigen Existenzraum, den der Mensch mit seinen eigenen Händen ausbaut. Kein göttlicher Wille hindert ihn an diesem Auf- und Ausbau, denn im Atheismus ist „aller Wille mein“ (F. Dostoevskij). Im Atheismus erfährt der Mensch eindrucksvoll, daß er allein das höchste Wesen im All ist, denn „außer der Natur und den Menschen existiert nichts, und die höheren Wesen, die unsere religiöse Phantasie erschuf, sind nur die phantastische Widerspiegelung unseres eigenen Wesens“91. Das verleiht dem Menschen ein gewaltiges Selbstvertrauen, das sich im Gefühl der Souveränität und der Macht äußert und objektiviert.

Wie das Gefühl der Souveränität konkret zum Ausdruck kommt, zeigt uns sehr aufschlußreich der grusinische sowjetische Dichter G. Tabidze in seinen Versen „Das Volk“ (1957). Dort finden wir die folgende Strophe: „Schau auf die Wälder, auf die Wiesen und die Felder! Schau auf die Berge im rosigen Dunst! Du bist der glückliche Herrscher von allem! Du bist in der Welt wie in deinem eigenen Haus (Ty v mire kak v svoem domu). Dein Eigentum ist der Schatz des Berginneren, der Glanz der beschneiten Gipfel, die unermeßliche Weite des Himmels. Du bist überall der alleinige Hausherr (vsemu chozjain ty odin)“.92 Die Welt das eigene Haus und den Menschen den alleinigen Hausherrn zu nennen, gibt das Gefühl der Souveränität sehr anschaulich wieder. Gewiß betrachtet sich auch der christliche Mensch als Herrscher der Welt; er fühlt sich ebenfalls berufen und beauftragt, „über des Meeres Fische, über des Himmels Vögel und über alle Lebewesen, die auf Erden wimmeln“ (Gen. 1, 28), zu herrschen und die Erde sich untertan zu machen. Eine Parallele zu Tabidzes Versen läßt sich in der Bibel ohne Schwierigkeiten finden: „Du hast... alles zu seinen Füßen gelegt: die Schafe und Binder alle, dazu das Getier im Wald und Feld, die Vögel des Himmels, die Fische der See, und was auf den Straßen der Meere zieht“ (Ps. 8, 7—9). Doch die Offenbarung, die dem Menschen den Auftrag des Herrschern und Verfügens erteilt, ermahnt ihn sofort: „Des Herrn ist die Erde und was sie erfüllt“ (Ps. 25, 1), deshalb herrscht und verfügt er über ein fremdes Werk: „Du hast ihm Macht über das Werk deiner Hand gegeben“ (Ps. 8, 7). Die Macht des Menschen über die Welt ist nicht eine primäre, sondern nur eine abgeleitete oder anvertraute Macht. Der christliche Mensch fühlt sich nie als Hausherr der Welt, sondern nur als Verwalter; der eigentliche Hausherr ist Gott allein.

Dagegen wird beim marxistisch-atheistischen Betrachten der Welt alles umgestülpt. Indem der kommunistische Mensch mit seinem Blick das All umfaßt, verschwindet er nicht in den Weltdingen wie ein Staubkömchen, sondern erhebt sich über sie und fühlt sich als Hausherr, denn die Dinge der Natur sind kein Geschenk: sie sind herrenlos; sie gehören dem Menschen, denn er gestaltet sie um und nimmt sie somit in sein Eigentum mit hinein. Der menschliche Anbhck allein bedeutet schon die Herrschaft über die Natur. Im Gedicht „Der Stern“ sagt V. Lugovskoj, im Vergleich mit der Stemenwelt erscheint der Mensch zwar „nur wie ein Sandkorn auf der Rinde der Erdkugel“, sogar „nur als Schatten des Sandkorns“, und dennoch herrscht er auch über die Sterne: „Dadurch, daß ich dich (den Stern, Vf.) sehe, daß ich dich erkenne; dadurch, daß ich dich denke, herrsche ich über dich“93 — schreibt der Dichter mit unverborgenem Stolz. Der Akt des Erkennens, der in der westlichen Philosophie als das empfangende Betrachten der Wirklichkeit gedeutet wird, wird vom kommunistischen Menschen als Akt des Herrschens erlebt. Körperlich kann der Mensch nicht alles erreichen und in seinen Machtbereich mit hineinziehen. Dadurch aber, daß er auch die entferntesten Objekte erkennt und sie denkt, übt er schon seine Herrschaft über sie aus. Die Herrschaft des Menschen erstreckt sich also so weit, wie sein Erkennen reicht, d. h. grenzenlos.

Es versteht sich von selbst, daß der atheistische Mensch, der nichts Höheres über sich hat, sich wirklich als groß und erhaben erlebt. Es ist deshalb keine Ironie, wenn Dostoevskij den Ingenieur Kirilov, einen radikalen und konsequenten Atheisten, sagen läßt: „Wenn es Gott nicht gibt, so bin ich Gott (S. 891) ... Erkennen, daß es Gott nicht gibt und nicht im selben Augenblick erkennen, daß man dadurch Gott geworden ist, ist eine Ungereimtheit.“94 Und das ist völlig konsequent. Gibt es keinen Gott, so rückt der Menschen von selbst auf die höchste Stufe der Seinsordnung empor und wird zum Höchsten in der Hierarchie der Seienden. Er wird zum einzigen wertsetzenden und wertbestimmenden Wesen. Allerdings findet er in der Naturwelt Gesetze, die ihn physisch beschränken, aber er findet dort keine Normen, die die Verfügung über diese Gesetze und ihre Handhabung regeln. Die Naturwelt wird zum reinen Material für die Tätigkeit des Menschen und bietet keine Schranken für seine Souveränität. Somit entdeckt der atheistische Mensch in sich die Unendlichkeit, denn Gott ist die einzige Grenze, die der Mensch nicht überschreiten kann und darf. Wenn es aber keinen Gott gibt, so fällt auch diese letzte Grenze weg. Die Unendlichkeit tut sich auf, das unbegrenzte Meer, um den Ausdruck Nietzsches anzuführen, liegt vor dem Menschen offen, und er kann mit allen seinen Schiffen ungehindert auslaufen. Wir müßten uns in dieses Erleben vertiefen, ja es in uns sogar nach vollziehen, tun den Stolz und Hochmut des atheistischen Menschen zu verstehen. Der marxistische Atheismus heißt viel mehr als nur aufhören, an die Predigt des Pfarrers zu glauben.95 Das ist die Entdeckung der Souveränität und der Größe des Menschen.

Aus dem Gefühl der Souveränität im Sein entsteht im atheistischen Menschen auch das Gefühl der Macht im Dasein; ein Gefühl, das vor allem in bezug auf die äußere Naturwelt gepflegt wird. Die Revolution als Prozeß der Befreiung des Menschen gilt, nach marxistischer Ansicht, nicht nur für das soziale Leben, sondern auch für das Leben des Menschen in der Naturwelt. Auch hier soll der Mensch sich als Empörer fühlen und dementsprechend handeln, denn die Natur zeigt sich auch als Feind und muß deshalb bekämpft und besiegt werden. Die Umgestaltung der äußeren Naturwelt deutet der Marxismus ebenfalls als einen Teilprozeß der Befreiung und folglich auch als Aufstand gegen die gesamte Naturordnung, die keineswegs sakral und unantastbar ist, wie dies nicht nur der mittelalterliche Christ empfand; auch in unserer Zeit gibt es Zeugnisse dafür.96 Die Naturordnung ist, nach dem Marxismus, das Ergebnis einer blinden Notwendigkeit, die dem Wesen und der Würde des Menschen widerspricht und deshalb geändert werden muß, indem man sie in eine gelenkte Notwendigkeit verwandelt; d. h. in eine solche Notwendigkeit, die schon nach dem Willen des Menschen wirkt und diesen Willen verwirklicht. Marxens Gedanke, ein Wesen werde erst dann selbständig, wenn es auf seinen eigenen Füßen stehe, wendet der Marxismus nicht nur auf die Beziehung des Menschen zu Gott an, sondern auch auf seine Beziehung zur Naturwelt. Gott und die Natur sind zwei Hauptgegner der menschlichen Freiheit. Denn solange der Mensch glaubt, er habe sein Dasein aus der Hand Gottes des Schöpfers empfangen und werde im Leben von Gott erhalten, bleibt er ein unselbständiges, unfreies Wesen, genauso wie er unfrei bleibt, solange er die Naturwelt magisch beschwört und ihre Kräfte sich durch Zauberworte unterwerfen will: die Natur gehorcht dem Stammeln des Magiers nicht im geringsten. An die Stelle des Glaubens an Gott soll deshalb der Atheismus und an die Stelle der Magie soll die Technik treten. Erst dann wird der Mensch tatsächlich frei. Folglich kann nur der atheistische und technisierte Mensch seine Freiheit sowohl begründen als auch konkret verwirklichen, denn nur dieser Mensch steht auf seinen eigenen Füßen, d. h. er verdankt „sein Dasein sich selbst“ (Marx).

Die Parallele zwischen Atheismus und Technik ist keineswegs zufällig. Der Atheismus ist der Ausdruck der Souveränität des Menschen Gott gegenüber, die Technik ist der Ausdruck der Macht des Menschen über die Naturwelt. Nirgendwo kann der Mensch seine Übermacht gegenüber der Natur so anschaulich und so überzeugend beweisen wie durch seine technischen Werke. Nirgendwo erweist er sich als Sieger über die Naturgewalten so eindrucksvoll wie in der von ihm selbst erzeugten Umwelt der Maschinen. Aus diesem Grund ist die sowjetische Technik nicht ein Gebiet der Zivilisation neben vielen anderen Gebieten, sondern eher ein Prinzip, nach dem alle Gebiete gestaltet werden oder mindestens gestaltet werden sollten. In diesem Zusammenhang ist ein Gedanke Gabriel Marcels aufschlußreich, den er in seinen Aberdeener Vorlesungen (1949—1950) geäußert hat. In der Vorlesung über „das betende Bewußtsein“ spricht Marcel über „die Unvereinbarkeit von Demut und Technik“; gewiß kann auch ein Ingenieur demütig sein, aber erst dann, wenn er „in der Welt des Bechenstiftes ... eine freie Stelle ausspart“; nämlich eine freie Stelle — für Gott.97 Eben diese freie Stelle gibt es im technischen Denken und Handeln des Sowjetmenschen nicht. Die Technik ist hier zum allgemeinen Prinzip geworden, das nicht nur das objektive Leben, sondern auch das subjektive Erleben erfaßt und prägt.

Somit verliert die sowjetische Technik ihren werkzeuglich-pragmatischen Charakter und verwandelt sich in eine geistige Größe. In seiner Beziehung zur Maschine besteht, nach Makarenko, „die Ethik des neuen Menschen“98. Fabriken und Maschinen, „Kräne und Bagger... gelten bei uns“, sagt Makarenko, „als Heiligtümer, die von der frohen Sympathie des neuen Menschen umfächelt werden; bei uns entzündet sich an ihnen die Energie zum Siege über die Natur“99. Nicht der Blick auf „die grünen Wälder“, nicht „der Lockruf der Pappeln“, d. h. nicht die unberührte Naturwelt wecken „die menschhchen Begungen wertvoller als alles andre“, sondern die Beziehung zur Maschine: „Jetzt, wo ich meine Maschine gesehen habe, bin ich ein ganz anderer, ein besserer Mensch“, sagt Lopatkin bei V. Du-dincev. Noch gestern spottete Lopatkin über alle, die ihn verfolgten und wollte sich mit ihnen herumschlagen, nun beim Anblick der Maschine verwandelt er sidi in einen friedlichen, gutmütigen Menschen: „Ich bin glücklich mit meiner Maschine.“100 Dieses Erleben der Technik als einer geistigen Größe läßt uns auch die sonderbaren Worte F. Gladkovs verstehen: „Die Sehnsucht nach der Maschine ist stärker als die Sehnsucht nach der Liebsten.“101 Denn das ist die Sehnsucht nach der Vollendung des Menschseins, das in der Freiheit besteht und nur durch die Maschine als konkrete Herrschaftsform über die Naturwelt erreicht werden kann. Die Technik macht den Menschen zum wahren, d. h. zum freien und selbständigen Menschen. Was aber der sowjetischen Technik den atheistischen Charakter verleiht und sie von der westeuropäischen und der amerikanischen Technik unterscheidet, ist der Gedanke, der Mensch als Bezwinger der Naturwelt trete an die Stelle Gottes des Schöpfers und Erhalters. In der sowjetischen antireligiösen Propaganda rückt dieser Gedanke immer stärker in den Vordergrund. Indem die Technik als „Siegeszug des menschlichen Geistes“ (B. Kedrov) dargestellt wird, vergißt man nie, darauf hinzuweisen, daß all die neuen Werke, die diesen Siegeszug so eindrucksvoll bezeugen (künstliche Meere, künstliche Sateliten, gewaltige Staudämme, Kraftwerke usw.), eben Werke des Menschen und nicht Gottes sind: der Mensch versorge sich selbst, er brauche keinen transzendenten Erhalter. In einer Novelle von A. Markevičius, einem litauischen-sowjetischen Schriftsteller, geht der Pfarrer zu einem Herrgottsschnitzer und bestellt bei ihm eine Christusstatue. Der Auftrag wird angenommen und ausgeführt. Eine Christusfigur wird geschnitzt nach dem Modell eines Bekannten vom Pfarrer: mit einem Leinenhemd bekleidet, mit Holzschuhen, mit einem langen struppigen Bart, lächelnd, den Kopf etwas nach oben richtend. Wie der Pfarrer die Statue sieht, sagt er empört zum Herrgottsschnitzer: „Das ist doch kein Gott! Das ist ein einfacher Mensch!“ — „Ja, Hochwürden“, erwidert der Meister, „das ist wirklich ein einfacher Mensch. Hat aber nicht der Mensch all die Werte geschaffen? Hat nicht der Mensch dieses Haus gebaut? Hat nicht der Mensch uns ernährt und gekleidet? Wir sehen diesen Menschen jeden Tag. Ist er nicht also unser Gott?“102 Der Sinn dieser Worte ist eindeutig: an die Stelle dessen, was wir Gottes Vorsehung nennen, tritt mm die schöpferische Kraft des Menschen. Gott der Erhalter weicht vor dem Menschen als Schöpfer zurück. Das hat G. Plechanov schon im Jahre 1907 gesagt, als er die Bundfrage des „Mercure de France“ über das Weiterbestehen der Religion beantwortete: „Der Fortschritt der Menschheit versetzt der Religion einen tödlichen Schlag.“103

Eben das wollen die Sowjetmenschen durch die Errungenschaften ihrer technischen Kultur beweisen. Überall dort, wo der Mensch früher das Wirken Gottes sah, soll er nun sein eigenes Wirken und sein eigenes Werk sehen. Der Sinn der sowjetischen Kultivierung der Erde ist die Verdeckung der Naturwelt als Gottes Werk. Denn solange der Mensch mit der ursprünglichen Naturwelt in Berührung kommt, stellt er unausweichlich die Frage nach ihrem Urheber und beschäftigt sich mit der Idee eines transzendenten Wesens. Ist aber einmal die Erde zum Menschenwerk geworden, so wird die Frage nach dem Urheber dieses Werkes uns nicht mehr in die Transzendenz führen, denn der Urheber der Technik ist ja der Mensch selbst. Je mehr also die ursprüngliche Naturwelt durch den Menschen verdrängt wird, um so mehr verliert sie ihren Zeugnischarakter und verwandelt sich in ein bloßes Material für den Menschen. Damit rückt auch Gott immer mehr in die Feme. Deshalb sprach Marx mit unverhülltem Stolz darüber, daß jene „der menschhchen Geschichte vorhergehende Natur“ kaum existiert, „ausgenommen etwa auf einzelnen australischen Koralleninseln neueren Ursprungs“104.

Im Lichte des Atheismus als Befreiung des Menschen können wir auch den Begriff eines postatheistischen Zeitalters richtig verstehen; einen Begriff, der auch bei westlichen Denkern in den letzten Jahren auf getaucht ist und der die gegenwärtige Haltung des Kommunismus zur Religion wiedergeben soll.105 Diesen Begriff (nicht den Terminus!) kannten schon Marx und Engels, die vom Erfolg ihrer Kritik an der Religion dermaßen überzeugt waren, daß sie selbst das Ende dieser Kritik voraussahen. Es werde eine Zeit kommen, da der Atheismus als Negation Gottes überholt sein werde. Marx erklärt das folgenderweise: „Indem der Mensch für den Menschen als Dasein der Natur . . . praktisch, sinnlich anschaubar geworden ist, ist die Frage nach einem fremden Wesen, nach einem Wesen über der Natur und dem Menschen . . . praktisch unmöglich geworden“, denn die Frage nach Gott schließt doch „das Geständnis von der Unwesentlichkeit der Natur und des Menschen“ ein. Wird aber der Mensch in seinem Bewußtsein diese Unwesentlichkeit überwinden und ganz deutlich begreifen, daß die Wesenhaftigkeit des Menschen eben in der Natur liegt, dann wird es auch sinnlos sein zu fragen, ob etwas über der Natur und dem Menschen existiert. „Der Atheismus als Leugnung dieser Unwesentlichkeit“, sagt Marx, „hat (dann) keinen Sinn mehr.106

Das, was Marx hier noch in ziemlich unklaren Worten ausdrückt, veranschaulicht Engels ganz deutlich. Bei seiner Auseinandersetzung mit Blanquisten und Bakunisten, die „in Beziehung auf den Atheismus radikaler zu sein“ versuchen „als alle anderen“, weist Engels darauf hin, daß der Atheismus als Negation Gottes so gut wie „selbstverständlich bei den europäischen Arbeiterparteien“ geworden ist. „Von den deutschen sozialdemokratischen Arbeitern kann man sogar sagen, daß der Atheismus bei ihnen sich schon überlebt hat; dies rein negative Wort hat auf sie keine Anwendung mehr, indem sie nicht mehr in einem theoretischen, sondern nur noch in einem praktischen Gegensatz zum Gottesglauben stehen: sie sind mit Gott einfach fertig, sie leben und denken in der wirklichen Welt und sind daher Materialisten.“107 Anders ausgedrückt, diese Menschen brauchen nicht mehr den Atheismus als Akt der Negation zu setzen, d. h. von der phantastischen Welt der Religion zur realen Welt der Natur und Kultur zurückzukehren, denn sie existieren bereits in dieser realen Welt, sie denken nicht mehr in religiösen Kategorien; das Jenseits liegt schon hinter ihnen. Wie der moderne Chemiker kein Leugner der Alchimie ist, so ist auch der vollendete Kommunist kein Leugner Gottes. Die Beife seines Bewußtseins ist so vollendet, daß die Gottesfrage hier gar nicht erst entsteht.

Das ist eben das postatheistische Zeitalter. Marx nennt es „die positive Aufhebung der Religion“, denn in dieser Zeit nimmt der Mensch als „das höchste Wesen für den Menschen“108 den Platz des verneinten Gottes ein: die Verneinung Gottes schlägt in die Bejahung des Menschen um. Der Mensch konstituiert sich sowohl in seinem Bewußtsein als auch in seinem Handeln als „homo atheista“ im tiefsten Sinne des Wortes. Er vermag in aller Buhe über Gott und die Religion zu sprechen, denn diese Frage geht ihn nichts mehr an. Das postatheistische Zeitalter bedeutet die Aera des vollendeten Atheismus, und zwar so vollendet, daß sogar der Name nicht mehr brauchbar ist. Das ist die Aera des positiven Humanismus, in der der Mensch sich nicht mehr von Gott her — auch rein negativ nicht —, sondern von der Natur her begreift, deutet und bestimmt. — Hat der Kommunismus dieses Zeitalter aber schon erreicht? Kann man von der Vollendung des Atheismus im Sowjetmenschen begründet sprechen? Das zu klären, ist die Aufgabe des folgenden Abschnitts.

87 K. Marx, a. a. O., S. 264.

88 Fr. Engels, Anti-Dühring, a. a. O., S. 295.

89 K. Marx, a. a. O., S. 281.

90 Vgl. M. Reding, Der politische Atheismus, S. 14.

91   Fr. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, S. 15.

92   G. Tabidze, Narod (Das Volk), in „Družba narodov (Völkerfreundschaft)“, Moskau 1957, Nr. 11, S. 38.

93 V. Lugovskoj, Zvezda (Der Stern), zit. Antologija russkoj sovetskoj poezii (Anthologie der russischen sowjetischen Dichtung) 1917—57, Mokau 1957, Bd. I, S. 501.

94    F. M. Dostojewski, Die Dämonen, S. 981, 894.

95    Vgl. M. Carrouges, La mystique du Surhomme, Paris 1948.

96 Vgl. das Sammelwerk „Die Natur — das Wunder Gottes“, hrsg. von E. Dennert u. a., Berlin 1942 (unter den Mitarbeitern sind u. a. Max Planck, Werner Heisenberg, Hans Driesch, Bernhard Bavink); auch H. Urs von Balthasar, Die Gottesfrage des heutigen Menschen, Wien 1956.

97 G. Marcel, Geheimnis des Seins, Wien 1952, S. 394.

98 A. S. Makarenko, Werke, Bd. V, S. 438.

99 A. S. Makarenko, Ausgewählte pädagogische Schriften, S. 161.

100 W. Dudinzew, Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, Hamburg 1957, S. 402.

101 F. Gladkov, Zement, Berlin 1956, S. 117.

102 A. Markevičius, Dievdirbys (Der Herrgottsschnitzer), in „Literatūra ir menas (Literatur und Kunst)“, Wilna 1956, Nr. 14, S. 7.

103 G. V. Plechanov, Izbrarmye filos. proizvedenija, Bd. III, S. 105: die Veränderung der Welt schreitet, nach Plechanov, notwendigerweise voran, denn diese Veränderung bildet die Grundlage der menschlichen Existenz in der Welt ; der Mensch muß die Natur bezwingen, um leben zu können. Nun stärkt diese sich fortentwickelnde Bezwingung der Naturwelt das menschliche Machtbewußtsein, so daß sich der Mensch immer mehr als Herr und Gebieter der Erde erlebt. Die Naturwelt erscheint ihm immer weniger bedrohlich, die Naturkräfte erkennt er immer mehr als notwendig wirkende Gesetze und nicht als frei waltende Mächte — Geister oder Götter. Je mehr der Mensch die Naturwelt beherrscht, um so mehr entgöttlicht er sie, so daß schließlich die Zeit kommt, in der der Mensch die Religion als Zuflucht nicht mehr braucht und deshalb ablegt. Die Religion wird von der Kultur als Veränderung und Bezwingung der Naturwelt überwunden und allmählich beseitigt.

104   K. Marx, Die Frühschriften, S. 353.

105   Den Begriff ,postatheistisches Zeitalter' hat der katholische Fundamentaltheologe J. B. Metz auf der Tagung der Paulus-Gesellschaft in Salzburg (1966) geprägt und in die Diskussion mit den marxistischen Denkern eingeführt (vgl. Herder-Korrespondenz, Juni 1966, S. 208); später hat J. B. Metz diesen Terminus zum Teil verdeutscht: „nachatheistisches Zeitalter“ (R. Garaudy, K. Rahner, J. B. Metz; „Der Dialog oder ändert sich das Verhältnis zwischen Katholizismus und Marxismus?“ (Hamburg 1966, Rowohlts Taschenbücher Nr. 944, S. 136), Denselben Sinn hat auch der andere, von J. B. Metz gebildete Begriff ,postatheistischer Unglaube' (vgl. Herder-Korrespondenz, Juli 1966, S. 309). Diese Begriffe sind nicht zu verwechseln mit dem Begriff ,nachtheistische Theologie', dem wir in der evangelischen Theologie von heute begegnen und der die Überwindung der Vergegenständ-lichung Gottes im Sinne der Erstursache oder des Seinsgrundes bedeutet, was, nach dieser Theologie, das Wesen des Theismus bildet (vgl. W. Dantine, Der Tod Gottes und das Bekenntnis zum Schöpfer, im Sammelwerk „Marxistisches und

106 K. Marx, a. a. O., S. 248.

107    Fr. Engels, Programm der blanquistischen Kommuneflüchtlinge, in: K. Marx - F. Engels, Werke, Bd. XVIII, S. 531-532.

108    K. Marx, a. a. O., S. 216.

 

 

5. Die Gestalt des sowjetischen Atheismus

Man kann heute nicht mehr leugnen, daß die äußere Gestaltung des menschlichen Daseins in der Sowjetunion und in den anderen vom Kommunismus beherrschten Ländern immer mehr ohne Gott geschieht. Da der Atheismus die offizielle Haltung der kommunistischen Partei zur Religion ausdrückt109 und da die Partei das gesamte Leben des Sowjetmenschen nach den marxistischen Grundsätzen zu prägen unternimmt, ist es verständlich, daß jede religiöse Note in diesem Leben unterdrückt oder verwischt wird. Religiöse Gebräuche, Sitten und Feste werden entweder abgeschafft oder in ihrem Charakter und Sinn geändert. Der Weihnachtsbaum als Sinnbild der Erscheinung Christi auf der Erde wird zum Silvesterbaum als Sinnbild des neuen Jahres; das Osterfest als Feier der Auferstehung Jesu und durch ihn auch der ganzen Menschheit, verwandelt sich in das Frühlingsfest als Auferstehung der Natur nach dem langen Winterschlaf; das Pfingstfest wird umgestaltet zum Hirtenfest; der Sonntag verliert seinen sakralen Charakter dadurch, daß er zum bloßen Ruhetag für Angestellte und Arbeiter und zum Geschäftstag für Kolchosbauern wird: diese dürfen nämlich ihre privaten Erzeugnisse nur sonntags auf den Markt bringen und verkaufen. Wallfahrten, für die die Russen immer eine große Vorliebe zeigten, werden auch weiterhin unternommen, doch sie werden in Ausflüge zu gut organisierten Kolchosen, großen Fabriken, imposanten Staudämmen, Museen umgeprägt. Falls auch Kirchen und Klöster besucht werden, betrachtet man sie nur als Kunstwerke oder Denkmäler einer vergangenen Epoche.

Für aufmerksame Beobachter ist auch folgendes sehr aufschlußreich: Die Gotteshäuser als Bauten sind in der Sowjetunion überall noch vorhanden; sie werden in den letzten Jahren sogar planmäßig und fachmännisch renoviert und vorm Verfallen bewahrt. Mögen sie in vielen Fällen als Museen, Kinos, Tanzsäle, Hallen verwendet werden, sie bleiben immerhin als künstlerische Architekturwerke erkennbar und unterscheiden sich stark von ihrer Umgebung: sie ragen auch heute noch aus der russischen Ebene oder aus dem Häusermeer einer Stadt eindrucksvoll hervor. Trotz dieser hervorgehobenen Stellung in der russischen Landschaft werden die Kirchen in den sowjetischen Literaturwerken nie erwähnt. Alles wird bei der Beschreibung einer Landschaft herangezogen und eingehend geschildert: Hotels, Geschäftshäuser, Fabriken, Eisenbahnlinien, Telegraphenmasten, aber keine

Gotteshäuser, als ob es sie in der russischen Welt überhaupt nicht gäbe. Tiefes Schweigen liegt über allem, was an Gott erinnert. Tritt hie und da etwas Religiöses in Erscheinung, so wird es lediglich als Überbleibsel aus der Vergangenheit betrachtet und behandelt.

In die Kategorie des Überbleibsels wird zuallererst die orthodoxe Kirche als die größte und führende Glaubensgemeinschaft der slawischen Welt eingestuft. Da immer noch viele Menschen der Sowjetunion sich vom Glauben als dem ihnen teueren Überbleibsel nicht trennen können, wird es der Kirche erlaubt, diese Menschen religiös zu betreuen. Aber den Geistlichen wird stets eingeschärft, ihre Aufgabe erschöpfe sich eben in einer rein psychologischen Betreuung; sie bestehe nicht in der Verbreitung oder gar Stärkung der Religion als objektiver Lebensform. Im Boman „Die Jahreszeiten“ (1953) von Vera Panova sagt ein „fortschrittlicher“ orthodoxer Geistlicher, der „an einer Konferenz der Weltfriedensbewegung teilgenommen“ und sogar „Engels gelesen“ hat, von seinem religiösen Amt: „Ich begleite eine scheidende Idee; das ist meine gesellschaftliche Funktion.“110 Das heißt, die Religion stirbt ab, die Gottesidee verläßt die Menschheit, die Funktion des Priesters ist daher, diese Idee endgültig zum Grabe zu begleiten; tut er das bewußt, ohne sich diesem Scheiden zu widersetzen, so erfüllt er in der sowjetischen Gesellschaft eine nützliche Aufgabe — genauso wie ein Funktionär in der Zeit der leninschen NEP (der neuen ökonomischen Politik), als private Unternehmungen staatlicherseits zugelassen und sogar unterstützt wurden: die darin teilnehmenden Kommunisten sollten nämlich die scheidende Idee des Privateigentums begleiten und ihren Tod für die Liebhaber dieser Idee weniger schmerzvoll machen. Dasselbe sollen heute die Priester mit der scheidenden Gottesidee tun.

Die heranwachsende sowjetische Jugend zeigt sich gegenüber der Religion mehr oder weniger indifferent. Die Mitglieder des Komsomols (des Jungkommunistenverbandes, der heute etwa 20 Milhonen Mitglieder zählt) sind durch ihre Statuten verpflichtet, areligiös zu leben und sogar atheistische Propaganda zu treiben: „Ein Mitglied des Komsomols darf der Religion gegenüber nicht gleichgültig sein; es muß vielmehr ein aktiver Kämpfer gegen den religiösen Aberglauben sein.“111 Die Masse der Jugend, die dem Komsomol nicht angehört, wird von der Kirche nur zu einem sehr geringen Teil erfaßt; größtenteils lebt sie außerhalb der Kirche und verhält sich zu ihr meistens neutral. Denn auch unter denen, die Gott nicht ausdrücklich leugnen, erstarkt immer mehr die Überzeugung, „Glaube hat nichts mit der kirchlichen Ordnung und kirchlichen Symbolen zu tun“112, was sehr leicht zum Indifferentismus führt. Wolfgang Leonhard schildert die Stellung der sowjetischen Jugend zur Religion so: „Wir waren ohne Religionsunterricht aufgewachsen, blieben von diesen Fragen vollkommen unberührt und machten uns darüber gar keine Gedanken mehr — zumindest habe ich in den zehn Jahren meines Lebens in der Sowjetunion in meinem Bekanntenkreis keinen einzigen Menschen meiner Generation getroffen, der nicht Atheist gewesen wäre“ ; deshalb sagt Leonhard, wie auch oben die zitierten Marx und Engels, die Organisation der kämpferischen Atheisten, der die Komsomolzen im allgemeinen angehören müssen, ist für sie „und die Studenten faktisch überflüssig geworden“113, denn die areligiöse Erziehung hat praktisch dasselbe erreicht, was der Bund der Atheisten sich als Ziel gesetzt hatte. Diese Feststellung Leonhards bestätigt auch Ignace Lepp aus seiner Zeit, als er noch Kommunist war: „Von allen Problemen beschäftigte, ja interessierte mich damals am wenigsten das religiöse“; die kommunistische Jugend legte „so wenig Wert auf die Religion, daß sie sich nicht die Mühe machte, davon zu sprechen . . . Wie immer auch die religiöse Vergangenheit des einen oder anderen gewesen sein mochte, ich erinnere mich nicht eines einzigen Gesprächs unter Genossen über ein religiöses Thema“ ; für die meisten „war das gar kein Problem“114. Auch eine jugoslawische Umfrage unter Studenten — es wurden 3291 Studenten der Universität Zagreb befragt — bestätigt das: 71,9 °/o der Studenten erklärten, die Religion sei überflüssig und schädlich.115 Private Gespräche, die jetzt in der Bundesrepublik mit den in den letzten Jahren aus der Sowjetunion zurückgekehrten Volksdeutschen Studenten geführt werden, ergeben dasselbe Resultat: die sowjetische Jugend ist größtenteils der Religion gegenüber indifferent geworden.

Das sind Tatsachen, die uns zeigen, daß der Atheismus den Weg auch in die subjektive Sphäre des Menschen gefunden hat und sich nun allmählich zum subjektiven Verhalten formt. Deshalb dürfen wir die atheistische Propaganda und vor allem die atheistische Erziehung nicht unterschätzen und sollten in atheistischen Erscheinungen mehr als nur eine Tarnung oder Heuchelei sehen. In dieser Hinsicht hat Emst Benz völlig recht, wenn er sagt, wir müssen „gewisse romantische Vorstellungen von der christlichen Seele des heutigen russischen Menschen korrigieren“116. Die Zeit eines grob kämpferischen Atheismus und folglich auch des heldenhaften Widerstandes geht in der Sowjetunion zu Ende. An seine Stelle tritt der Atheismus als völlige Uninteressiertheit für alles Religiöse. Es ist deshalb nicht ganz abwegig, vom Anfang des postatheistischen Zeitalters im Sinne des Fertigwerdens mit Gott zu sprechen. Doch diese Form der Gottlosigkeit, in der die Frage nach Gott überhaupt nicht entsteht, ist für die Religion viel gefährlicher als der offene Kampf mit ihr. Bei der Bekämpfung der Religion wird sie von ihrem Gegner immer als eine Macht erlebt, während die Uninteressiertheit bereits der Ausdruck der völligen Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit der Religion ist.

Das ist jedoch nur eine Seite der konkreten Gestalt des sowjetischen Atheismus. Denn es gibt auch Tatsachen genug, die uns auf das Fortleben der Religion und der Religiosität im Sowjetmenschen hinweisen und es bezeugen. Die Kinder werden immer noch getauft, sogar die der Komsomolzen und der Parteimitglieder. Das erfahren wir aus der sowjetischen Literatur selbst. In der Novelle „Geschichte einer ersten Liebe“ (1957) erzählt N. Atarov, wie eine der handelnden Personen einen elfjährigen Sohn „in einem entlegenen Stadtbezirk, einem ehemaligen Dorf, das zum Vorort geworden war, in die Kirche gebracht und diesen großen Jungen in aller Stille getauft“ hat; das hat eine andere Person „unter dem Siegel der Verschwiegenheit“ erfahren.117 Aus diesem Grund sind die staatlichen Vorschriften für die Zulassung der Taufe, wie gesagt (vgl. Kap. III, Abschnitt 1), wieder verschärft worden: der Priester darf ein Kind nur taufen, wenn der Vater seine schriftliche Einwilligung gibt und selber anwesend ist; er muß nicht nur seinen Namen, sondern auch seinen Arbeitsplatz angeben. Die Taufurkunde soll vom Priester der staatlichen Behörde zugestellt werden. Aus einer privaten Handlung ist somit dieTaufe zu einem offiziellen staatlichen Akt geworden, vor dem viele selbstverständlich zurückschrecken. Die ,Verstaatlichung' der Taufe zeigt jedoch, daß sie in der Sowjetunion immer noch sehr oft praktiziert wird.

Die religiöse Trauung ist seltener als die Taufe, aber auch sie wird immer noch gewollt, selbst Komsomolzen lassen sich religiös trauen, sei es wegen des Wunsches der Braut, sei es auf Verlangen der Eltern. Dafür müssen die Komsomolzen sich später vor ihrer Organisation verantworten, denn Ausübung der Religion ist mit den Statuten des Komsomols nicht zu vereinbaren. Die Schuldigen bekommen einen Verweis, der auch in ihr Mitgliedsbuch eingetragen wird und als Makel für das ganze Leben bleibt, oder sie werden gar aus dem Verband ausgeschlossen, was oft auch Entlassung von der Arbeitsstelle nach sich zieht. Die scharfe Kritik der Zeitschrift „Komsomolskaja pravda (Die Wahrheit des Komsomols)“ an derartigen Vergehen“, die oft in ihren Spalten zu finden ist, zeigt, daß Verstöße dieser Art keine seltenen Ausnahmen unter den Komsomolzen sind. Noch öfter kommen sie unter denen vor, die den kommunistischen Organisationen nicht angehören.

Die Erinnerung an Verstorbene wird in der Sowjetunion noch sehr gepflegt. Eine religiöse Beerdigung wird zwar immer seltener, aber die Gräber werden besucht, gepflegt, geschmückt. Darüber schreiben auch sowjetische Erzählungen, wenn auch nicht im religiösen Sinne. „Kau war die erste auf dem Friedhof. Aus dem dunklen Gewirr der Bäume und Sträucher flimmerte da und dort schon Kerzenlicht wie glühende Kohlestückchen... Die erste Kerze zündete Kai auf dem Grab einer Frau an, die sie gekannt hatte... Da keiner der Frau gedacht, hielt Kai es für ihre Pflicht, einmal im Jahre eine Kerze zu Häupten ihres Grabes anzuzünden. ,Man darf die Menschen und ihr Leid nicht vergessen', sagte sie sich.“118 Allerdings werden auf den Gräbern nicht mehr Kreuze, sondern Pyramiden als Grabmäler errichtet, aber die Toten werden nicht vergessen — ungeachtet der offiziellen Lehre, daß der Tod eine völlige Bückkehr ins Nichtsein bedeutet.119 In vielen Wohnungen der Sowjetmenschen hängen immer noch Ikonen neben den Bil dem Lenins. Es ist auch nicht wahr, was Prinzessin S. Sachovskoj nach ihrem Besuch in der Sowjetunion 1956 berichtet, daß „Ikonen und Kruzifixe nie öffentlich zur Schau gestellt werden“120. Dem widersprechen die Schilderungen der sowjetischen Literatur selbst: „Neben der Kredenz am Fenster hing in einem Bahmen unter Glas ein Fächer aus vergilbten Fotos. Weiter ein Leninporträt, genau gegenüber der Ecke, wo eine vergoldete Ikone und ein Öllämpchen hingen. Mit zugekniffenen Augen, nachdenklich und unzufrieden blickte Lenin auf die Mutter Gottes.“121 Leute jüngerer Generation bringen zwar hie und da an die Ikonen Zettel mit Aufschrift „ein Kunstwerk aus dem 18. Jahrhundert“ oder „ein altes wertvolles Bild“ an, um damit die religiöse Verehrung dieser Bilder zu tarnen, doch das Öllämpchen beweist ganz deutlich, daß die Ikonen nicht nur als Kunstwerke erlebt werden.

In der russisch-sowjetischen Sprache sowohl des Alltags als auch der Literatur wimmelt es noch von religiösen Ausdrücken, Bildern und Sprichwörtern, wie „Gott im Himmel“, „Gott mit ihm“, „um Gottes willen“, „o Gott“ usw. Sehr aufschlußreich sind die Vergleiche biblischen Charakters bei den sowjetischen Schriftstellern. Der junge Erzähler S. Malesin (geb. 1928) berichtet, wie der verletzte Wassja von einem Mädchen verbunden wurde: „Wassja war das angenehm, er preßte seinen Kopf an ihre zärtliche Hand und tauchte seinen Blick in ihre schwarzen Augen“; das Mädchen aber erwiderte: „Was stierst du mich so an? Bin ich doch keine Ikone.“122 Einen derartigen Vergleich kann nur ein Schriftsteller machen, dem die inbrünstige Betrachtung der Ikonen seitens der orthodoxen Christen einen tiefen Eindruck hinterlassen hat. Oder bei Vera Panova: „Von seinem Platz im Präsidium aus ließ Bjashenzew den Blick ... über die Versammelten gleiten und sah dabei auch flüchtig Bedkowski an. Hatte dieser Mann das Verwerfliche seines Tuns endlich eingesehen? Hatte er begriffen, für welch ein Linsengericht er sein Gewissen beschwert, seine Zugehörigkeit zur Partei geopfert hatte.“123 Dieser Vergleich kann nur von Menschen verstanden werden, die die biblische Geschichte von Jakob und Esau (vgl. Gen. 25, 29—54) genau kennen. Verwendet die Panova diesen Vergleich trotzdem, so ist das ein Zeichen, daß der Verkauf des Rechtes der Erstgeburt um ein Linsengericht in der Sowjetunion noch nicht vergessen worden ist, und zwar nicht nur unter den alten Leuten, sondern auch unter der Jugend, der der Roman von Vera Panova in erster Linie gewidmet ist. Noch ein Beispiel bei Du-dincev: Dmitrij Alexejewitsch „begrüßte alle Mitglieder seiner Gruppe freundlich. Sein Gesicht war heiter — und das waren sie nicht gewohnt. Krechow konnte sich nicht verkneifen zu sagen: Dimitrij Alexejewitsch, sie sind ein Wunder! Sie gehen, wie einst Christus, über die Wellen.“124 Erstaunlich ist an diesem Vergleich, daß er auf die seelische Überwindung eines schweren Schlages angewandt wird: Wie einst Christus über die Wellen schritt, von diesen unbehelligt, so schreitet auch Dmitrij Alexejewitsch über die Schläge hinweg, die ihm das Leben verabreicht hat, heiteren Gesichtes und mit neuen Ideen im Kopf. — Man könnte die Reihe derartiger Vergleiche und Bilder nach Belieben fortsetzen. Sie alle sprechen eindeutig dafür, daß die religiösen Inhalte und Werte dem Sowjetmenschen noch nicht so fremd geworden sind, wie dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Diese Inhalte und Werte überwältigen die Seele des Sowjetmenschen vor allem dann — unbewußt und spontan —, wenn er von den Drangsalen des Lebens ereilt wird. Dann erlebt er sich selbst als ein Wesen, das sich nicht in seinem realen Dasein erschöpft, sondern etwas in sich trägt, das aller kommunistischen Theorie von der Materialität der menschlichen Natur widerspricht. Im Roman „Die Unbeugsamen“ (1943) von B. Garbatov sagt die junge Nastja zu dem aus der Gefangenschaft entflohenen Pavlik, den sie vom Komsomol kennt: „Jeder von uns blieb allein, auf sich und sein Gewissen angewiesen; man mußte daran denken, wie man seine Seele rettet.“ Darauf erwidert Pavlik: „Bei uns in der Zehnten-B-Klasse hat sich niemand der Seele erinnert. Ich habe ja gar nicht gewußt, ob ich überhaupt eine Seele besitze... Das war Dunst. Als aber die Seele zu bluten begann, da spürte ich sie auf einmal in mir.“125 Dasselbe zeigt sich auch beim Erleben Gottes. In B. Polevojs Boman „Gold“ (1950) überraschten deutsche Soldaten während des Krieges sowjetische Bankangestellte, wie sie Gold und Juwelen in einem Sack fortschaffen wollen. Einer von ihnen betet spontan in seiner Seele: „Herr, rette und beschütze uns, laß die Reichtümer nicht in die raubgierigen Hände des Feindes fallen“. Gewiß fügt Polevoj sofort hinzu: „Die kläglichen, albernen Worte schienen aus weiter Vergangenheit in seine Erinnerung zurückzukehren.“126 Aber das ist schon eine rationale Deutung des Gebetes als eines zurückgekehrten Überbleibsels aus der Vergangenheit Mitrofans. Für Mitrofan selbst jedoch waren diese Worte die lebendigste Gegenwart im Moment der Gefahr. Die spontane Hinwendung zu Gott und die Regung der Seele in schweren Situationen des Lebens sind die Zeichen einer existenziellen Verwurzelung des Menschen im Transzendenten, das im Alltag zwar verdeckt werden kann, das jedoch erwacht, wenn der Mensch an die Grenze seines Daseins gerät. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der neue kommunistische Mensch kaum vom westlichen Menschen; in dieser Hinsicht hat er das postatheistische Zeitalter, in dem die Gottesfrage überhaupt nicht mehr — weder im positiven noch im negativen Sinne — gestellt wird, bei weitem noch nicht erreicht. Ein Zwiespalt zwischen der gottlosen Gestaltung des öffentlichen Lebens und der subjektiven spontanen und oft imbewußten Hinwendung zu Gott ist im Kommunismus nicht zu leugnen. Wenn wir die Seele des kommunistischen Menschen ein wenig tiefer untersuchen — das ermöglicht uns in erster Linie die sowjetische Literatur selbst —, so finden wir dort etwas Merkwürdiges, das sich beinahe wie Religiosität gibt und sich nicht mit der offiziellen Theorie vom kapitalistischen Überbleibsel erklären läßt. Dieses Merkwürdige weist uns auf etwas viel Tieferes hin als nur auf die Erinnerung ein die Vergangenheit. Wir möchten es nicht vorschnell als das natürliche Christentum in der Seele des Menschen (anima naturaliter chri-stiana) deuten: dieses Phänomen darf man nicht ohne weiteres mit dem Christentum gleichsetzen. Andererseits aber ist es auch nicht nur ein Rest der ,unbewältigten Vergangenheit'. Es bedarf einer weiteren Untersuchung, die wir nun an anderen, nicht weniger lehrreichen Erscheinungen des sowjetischen, offiziell atheistischen Lebens fortsetzen und bei der wir den Atheismus selbst schärfer ins Auge fassen wollen.

In seinem Roman „Der Jüngling“ (1875) läßt Dostoevskij seinen Helden Andrej Versilov die Zukunft der Menschheit schildern, in der der Unglaube allgemein wird und Gott aus der Welt vollständig verschwindet. „Ich versuche mir vorzustellen, mein Lieber“, sagt Versilov zu seinem Sohn Arkadij, „wie es sein wird, wenn der Kampf schon beendet und der Streit beigelegt“, modern gesprochen, wenn das postatheistische Zeitalter eingetreten ist. „Nach Flüchen und Verwünschungen, nach dem Auspfeifen und Mit-Schmutz-bewerfen ist endlich eine Stille eingetreten“ (S. 866). Gott ist vergessen worden. Mit ihm sind die Menschen endgültig fertiggeworden. „Wie wird nun der Mensch ohne Gott leben?“, fragt Versilov und fängt sogleich an, das Bild des gottlosen Daseins zu malen. Nachdem „die große frühere Idee“, nämlich die Idee Gottes, „wie die mächtige rufende Sonne auf dem Bild von Claude Lorrain“, untergegangen ist, sind „die Menschen allein-geblieben“, „ganz allein“, „und da empfanden sie plötzlich eine große Ver-waistheit“127. Das Gefühl der Verlassenheit und des Alleinseins ist die erste und grundlegende Daseinsstimmung des atheistischen Menschen. Dieser Mensch fühlt sich zwar souverän und mächtig gegenüber der Natur, aber er fühlt sich schrecklich einsam in sich selbst. Er hat ja niemanden, nach dem er rufen kann und der ihm auf seinen Ruf zu Hilfe eilen wird. Denn die Natur ist kein Partner des Menschen. Die Natur ist ihm fremd und feindlich. „Man ist furchtbar allein unter Bäumen, die blühen, und unter Bächen, die vorüber gehen“, wie B. M. Rilke eindrucksvoll sagt.128 Der Anschluß an die Natur als Partner im Dasein ist für den Menschen unmöglich, weil alle Prozesse der Natur sich unbekümmert um den Menschen vollziehen. Sie nehmen keine Rücksicht auf ihn und seine Wünsche. Die Natur ist blind und grausam in ihrer Notwendigkeit. Die Ubematur existiert nun überhaupt nicht: es gibt keinen transzendenten, personalen, sich offenbarenden und liebenden Gott. Der Mensch ist wohl das letzte und höchste Wesen in der Ordnung des Diesseitig-Seienden, zugleich aber auch das einsamste Wesen in seiner Größe. Als Individuum ist er schwach und erfährt diese Schwäche bei jeder Begegnung mit Gewalten der Natur und der Geschichte. Wo soll er dann die Zuflucht suchen, um das nagende Gefühl des Alleinseins, der großen Verwaistheit loszuwerden?

Dostoevskij antwortet darauf mit der folgenden Überlegung Versilovs: „Ich bin überzeugt, diese verwaisten Menschen werden sich sogleich enger und liebevoller zueinanderdrängen; sie werden sich an den Händen fassen und begreifen, daß sie jetzt ganz allein alles füreinander sind“ (S. 866). Das bedeutet, die gottlosen Menschen werden sich in eine enge Gemeinschaft zusammenschließen, um das Gefühl der Einsamkeit zu überwinden. Sie werden, wie Dostoevskij weiter sagt, „für einander arbeiten“; sie werden „mit allen teilen“, was jeder hat; jedes Kind wird wissen und fühlen, „daß jeder Mensch auf Erden ihm Vater und Mutter ist“ (ebd.). Der Drang zur Gemeinschaft wird die Antwort des verwaisten Menschen auf das Verschwinden Gottes sein.129 Der gottlose Mensch kann die in seinem Dasein entstandene Leere kaum ertragen und betrachtet deshalb das Kollektiv als Ersatz des entschwundenen Gottes. Eben daraus entsteht jener Ameisenhaufen, von dem Dostoevskij in seinem Werk so oft und so mahnend spricht und den er für die wahre Lebensform des atheistischen Menschen hält. Wir könnten allerdings diese Meinung Dostoevskij s als eine rein dichterische Hypothese, ja sogar als eine Phantasie betrachten und sie ohne weiteres abtun, wenn die sowjetische Praxis von heute die Prophezeiung Versilovs nicht bestätigt hätte. Wir meinen damit jedoch nicht die konkrete Bemühung der Partei und der Regierung, das menschliche Leben in der Sowjetunion zu kollektivieren, was man auch mit anderen Gründen erklären könnte, sondern eine Tendenz, den atheistischen Menschen deshalb nicht alleinzulassen, weil er eben ohne Gott existieren muß; eine Tendenz, die in der sowjetischen antireligiösen Literatur sogar die Form eines Erziehungsplanes gefunden hat. In der atheistischen Monatsschrift „Nauka i religija (Wissenschaft und Religion)“ ist im Jahre 1963 ein Interview mit dem sowjetischen Schriftsteller Konstantin Simonov (geb. 1915) veröffentlicht worden. Unter anderem wurde Simonov gefragt, ob es in der Religion Werte gibt, die den Gläubigen einen Trost im Leben spenden können. Simonov verneinte selbstverständlich die reale Kraft der Religion, den Menschen in Drangsalen des Lebens wirklich zu trösten: die Drangsale müssen überwunden und nicht durch Versprechungen und Hinweise aufs Jenseits verdeckt werden — das sei der wahre Trost. Wie kann der Mensch aber die Überwindung der Drangsale erreichen? Bei der Beantwortung dieser Frage hat Simonov genauso gesprochen, wie der Versilov Dostoevskijs. Er besteht darauf, daß man den Menschen die Wahrheit sagen muß — das ganze Interview ist betitelt: „Wahrheit den Menschen!“ —; die Wahrheit nämlich, daß es keinen Gott, kein anders Leben, keine Unsterblichkeit der Seele gibt und daß der Tod deshalb unser absolutes Ende bedeutet: das Böse, das in der Welt geschieht, kann nicht nach dem Tode gutgemacht werden. Durch die Enthüllung dieser bitteren Wahrheit werden die Menschen gerade angespornt, für die Verbesserung des diesseitigen Lebens energischer zu kämpfen, anstatt auf das Glück im Jenseits zu warten.

Das ist eine alte Ansicht des Marxismus, und Simonov hat damit nichts Neues gesagt. Das Neue beginnt mit den folgenden Worten: „Indem wir ihnen diese bittere Wahrheit sagen, dürfen wir sie nie allein lassen; wir müssen immer bei ihnen bleiben; wir müssen ihnen seelisch helfen, sie seelisch stärken. Wir müssen ihnen nahestehen, auf sie hellhörig werden; wir müssen mit ihnen leben, damit wir ihnen die ganze Wahrheit zu sagen wagen und damit sie uns die ganze Wahrheit sagen möchten.“ Simonov sagt weiter, die Menschen des verwirklichten Kommunismus werden jene Epoche, in der es Sitte war, einem Priester die intimsten Geheimnisse preiszugeben, für sehr sonderbar halten, aber nicht deshalb, weil der Kommunismus das Innere des Menschen als etwas Sakrales schützt, sondern deshalb, weil im Kommunismus „die Menschen ganz offen leben werden, ohne etwas vor ihren Genossen oder den anderen Menschen zu verheimlichen“130. Die religiöse Beichte als individueller und geheimer Vorgang wird im verwirklichten Kommunismus zu einer gewöhnlichen, alltäglichen Verhaltensweise werden. Der kommunistische Mensch wird offen leben, deshalb wird er keiner Beichte bedürfen, denn sein ganzes Verhalten zu den anderen wird eine ständige Beichte sein.

Das sind sehr aufschlußreiche Gedanken eines sowjetischen Schriftstellers, die uns die Lebensform eines völlig entgöttlichten Menschen enthüllen: die Wahrheit, daß es keinen Gott und somit auch kein ewiges Leben gibt, kann der Mensch erst ertragen, wenn er nie alleingelassesn wird. Das Mitsein setzt nun die Offenheit voraus, sonst wird es selbst unerträglich. Um die Verwaistheit des gottlosen Lebens ertragen zu können, sucht der Mensch nach einer Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen. Damit aber daraus nicht ein kaltes Nebeneinandersein, sondern eine Gemeinschaft des Herzens und der Seele entsteht, muß der Mensch sich zu seinen Mitmenschen ganz offen verhalten, d. h. sein Inneres durch und durch offenbaren; er darf nichts für sich behalten. Dadurch erreicht die Eingliederung in die Gemeinschaft die höchste Stufe, und die Prophezeihung Dostoevskijs vom Sich-Zusammenschließen der Menschen auf Grund des Unglaubens wird vollkommen bestätigt. Das atheistische Leben ist nur im Kollektiv möglich, sonst fühlt sich der Mensch in der Welt verloren und kehrt früher oder später zu Gott zurück.

Simonovs Worte, „wir dürfen die Mensch nicht alleinlassen“, klingen in diesem Zusammenhang wie eine Warnung, zugleich aber auch wie ein Hinweis auf die Zukunft des Atheismus. Läßt sich der Mensch nicht so weit kollektivieren, daß er die Offenheit zu seiner Alltäglichkeit macht, so wird der Erfolg des Atheismus sehr fraglich. Denn in dem Maße, wie der Mensch sein Inneres für sich behält, bleibt er allein; bleibt er aber allein, kann er nicht seine Verwaistheit als Lebensform ertragen und sucht nach einem höheren Wesen im Jenseits, das er als den wahren Zufluchtsort in seinem Dasein erlebt. Der Kollektivismus ist die wesensnotwendige Lebensart des Atheismus, und die Zukunft des Atheismus hängt unerläßlich vom Grad des Kollektivismus ab. Das haben die sowjetischen Denker und Erzieher sehr gut begriffen, und Simonov hat es ganz klar ausgesprochen. Der Mensch darf nie allein sein. Die Epoche des Atheismus soll sich als Epoche der All-Einheit der gesamten Menschheit gestalten. Sie soll die Verschiedenheit der Sprachen, des Volkstums, der Interessen überwinden und die gottlosen Menschen gerade auf Grund der Gottlosigkeit als Verwaistheit zu einer engen Gemeinschaft zusammenschmieden.

Somit erweist sich der marxistische Atheismus als gemeinschaftsbildender Faktor von stärkster Wirkung. Der sowjetischen Bestrebung, die Lebenskommune als die vollkommenste Form des Zusammenlebens im verwirklichten Kommunismus einzurichten131, liegt etwas Tieferes zugrunde als nur eine soziale Theorie des historischen Materialismus. Das ist das Gefühl der großen Verwaistheit nach dem Entschwinden Gottes aus dem Dasein. Je mehr der Atheismus um sich greift, um so leichter läßt sich der Mensch kollektivieren, denn er erlebt das Kollektiv als die einzige Zufluchtsstätte, wo er sein Alleinsein überwinden oder wenigstens verdecken kann. Andererseits aber, je mehr sich der Mensch gegen das Kollektiv wehrt, um so weniger Erfolg verspricht der Atheismus für die Zukunft, denn die personale Lebensform kann ohne Gott nicht bestehen. Der Kampf des Kommunismus gegen den Menschen als Selbstsein im Namen des Mitseins bedeutet deshalb mehr als bloße Reaktion gegen den westlichen Individualismus : das ist der Kampf gegen Gott in uns.

109 über die offizielle Stellung der kommunistischen Partei zur Religion vgl. „Kommunističeskaja partija i sovetskoe pravitelstvo o religii i cerkvi (Die Kommunistische Partei und die sowjetische Regierung zur Religion und Kirche), Moskau 1959 (Eine Sammlung der Dokumente 1903—1954). Im neuesten Programm (1961) der KP der UdSSR lesen wir: „Die Partei benutzt die Mittel der ideologischen Einwirkung, um die Menschen im Geiste der wissenschaftlich-materialistischen Weltanschauung zu erziehen und religiöse Vorurteile zu überwinden“ (Programma . . ., S. 1.21—122; vgl. B. Meissner, S. 229).

110. Panowa, Die Jahreszeiten (zitiert wird die deutsche Übersetzung unter dem Titel „Verhängnisvolle Wege“, Berlin 1958, S. 242).

111    Vgl. Handbuch des Weltkommunismus, hrsg. von J. Bochenski und G Niemeyer, Freiburg/Br. 1958, S. 617.

112    K. Mehnert, Der Sowjetmensch, Stuttgart 1958, S. 290.

113   W. Leonhard, Die Revolution entläßt ihre Kinder, Köln 1956, S. 91.

114   I. Lepp, Von Marx zu Christus, S. 102.

115   Vgl. „Christ und Welt“ vom 17. März 1961.

116 E. Benz, Die russische Kirche und das abendländische Christentum, München 1966, S. 161.

117 N. Atarov, Geschichte einer ersten Liebe, in „Sowjetliteratur“, 1957, Nr. 1, Seite 138.

118   H. Leberecht, Unter einem Dach, in „Sowjetliteratur“, 1958, Nr. 6, S. 71—72.

119    Über das Erleben und die Auffassung des Todes ausführlicher im 4. Kapitel.

120   S. Schachowskoj, So sah ich Rußland wieder, München 1958, S. 73.

121   S. Maleschin, Ein Schuß in der Taiga, in „Sowjetliteratur“, 1958, Nr. 3, S. 53.

122   S. Maleschin, a. a. O., S. 26.

123 W. Panowa, Verhängnisvolle Wege, S. 178.

124   W. Dudinzew, Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, S. 285—286. In diesem Zusammenhang ist es aufschlußreich, daß der Titel des Romanes von Dudincev ebenfalls dem Evangelium entnommen ist: Im Original „Ne chlebom edinym — Nicht vom Brot allein“.

125 B. Garbatow, Die sich nicht beugen ließen, Wien 1946, S. 180 ff.

126 B. Polewoi, Gold, Berlin 1956, S. 34.

127 F. M. Dostojewski, Der Jüngling, München 1922, S. 866 (in der Nachkriegs- ausgabe München 1946 ist es die Seite 760).

128 R. M. Rilke, Worpswede, Berlin o. J., S. 4.

129 Daß der Atheismus und folgerichtig der Kommunismus allein die wahre Liebesgemeinschaft auf der Erde verwirklichen kann, ist die tiefste Überzeugung aller Vertreter des modernen Atheismus, vor allem in Frankreich; vgl. J. Lacroix, Le sens de l’Athéisme moderne, Tournai 1958, S. 40—41.

130 Nauka i religija (Wissenschaft und Religion), Moskau 1963, Nr. 2, S. 4.

131 Vgl. S. G. Strumilin, Problemy sociahzma i kommunizma v SSSR (Probleme des Sozialismus und Kommunismus in der UdSSR), Moskau 1961, S. 369—413.

 

 

IV. Der Sinn des Lebens im Kommunismus

Für den Marxismus ist es kennzeichnend, daß er als Welt- und Lebensanschauung keine Fortsetzung einer alten Seinsinterpretation sein will, auch in einer verbesserten Form nicht. Er will eine völlig neue Interpretation der Welt und des Menschen geben und auf Grund dieser Interpretation auch eine neue Lebensordnung errichten. Schon die Tatsache ah ein, daß die marxistische Seinsinterpretation und Lebensordnung sich ohne jeglichen Bezug auf die Transzendenz konstituieren, weist uns auf die Originalität all dieser Bemühungen hin: der Marxismus ist der erste Versuch in der Geschichte der Menschheit, den Atheismus bis zu den letzten Konsequenzen zu durchdenken und ihn praktisch zu verwirklichen. Eine Seinsinterpretation aber, in der die Gottesfrage überhaupt nicht entsteht, und eine Lebensordnung, die der Mensch ohne irgendwelchen Bezug auf Gott errichtet, müssen notwendigerweise einen ganz anderen Charakter haben als alle bisherigen Seinsinterpretationen und Lebensordnungen. In diesem Sinne haben die marxistischen Denker recht, wenn sie den Marxismus „die wahre Revolution, die größte Revolution im Denken der Menschheit“ nennen.1

Gerade aber deshalb entsteht die Sinnfrage im Marxismus mit aller Schärfe. Solange der Mensch an Gott glaubt, verlegt er den Sinn des Lebens ins Jenseits, denn auch das eigentliche Leben beginnt ja in diesem Fall erst im Jenseits. Das irdische Leben wird dann nur als Unterwegssein empfunden und gedeutet. Dieses Unterwegssein wird aber nicht als eine naturhafte Entwicklung verstanden. Das ist die radikale Tendenz des menschhchen Wesens, alles Naturhafte zu übersteigen und somit eben unterwegs nicht in der Immanenz der Welt, sondern von der Immanenz zur Transzendenz zu sein.2 Der Sinn des Lebens wird dann als das Suchen nach etwas begriffen, was zwar von vornherein gegeben, was aber im Irdischen grundsätzlich nicht zu finden ist. Das Jenseits erscheint dem glaubenden Menschen sowohl als Vollzug der eigentlichen Existenz wie auch als der Ort, an dem der endgültige Sinn dieser Existenz zu finden ist. Das impliziert keineswegs die Ablehnung oder gar Verachtung der Erde, wie dies manche vom Platonismus beeinflußten und extrem asketisch ausgerichteten Strömungen innerhalb des Christentums verkünden. Das impliziert jedoch unbedingt den Sprung von einer Ordnung in eine andere; einen Sprung, der sich im Tode vollzieht und der uns darauf hinweist, daß das Jenseits in keinem Fall die natürliche Fortentwicklung des Diesseits ist. Folglich werden selbst die höchsten Aufgaben des Diesseits, die der glaubende Mensch zu erfüllen hat, nie zum wahren Sinn des Lebens. Der Sprung vom zeitliehen Leben zum ewigen Dasein setzt auch den Sprung von der vorübergehenden Aufgabe zum immerwährenden Sinn voraus.

Wozu aber lebt der Mensch, der an Gott nicht glaubt und dem die Erfüllung einer Lebensaufgabe und der Tod das vollständige Ende bedeuten? Das Diesseits ist doch für diesen Menschen nicht das Unterwegssein, sondern die einzige und endgültige Daseinsebene. Daraus folgt, daß auch die Frage nach dem Sinn des Lebens nur im Diesseits zu beantworten ist. Aber wie? Ist der Marxismus eine völlig neue Interpretation der Welt und des Menschen, so muß er die Sinnfrage ebenfalls von neuem stellen und beantworten. Denn die Sinnfrage ist nicht nur die oberste philosophische Frage, sondern zugleich auch die tiefste menschliche Sorge, der niemand entgeht, auch der marxistische Mensch nicht, mag er sich im Dasein auch noch so groß und mächtig fühlen. In der Legende vom Großinquisitor sagt Dostoevskij, „das Geheimnis des menschlichen Daseins liegt nicht darin, daß man einfach lebt, sondern in dem, wozu man lebt. Ohne eine feste Vorstellung davon, wozu er leben soll, wird der Mensch gar nicht leben wollen, und er wird sich eher vernichten, als daß er auf Erden bleibt, wenn auch um ihn herum alles Brot wäre“.3 Denn erst im vollkommenen und sehgen Dasein sind das Leben und der Sinn des Lebens ein und dasselbe: im vollkommenen Dasein streben wir nicht mehr über dieses Dasein hinaus.4 Da aber unser irdisches Leben voll von Leid ist, so erweist sich die Frage nach dem Sinn dieses leid vollen Lebens als zwingend. Keine Fülle äußerer Güter kann diese Frage müßig machen. Der Marxismus sorgt um die Fülle dieser Güter sehr intensiv, und doch kann sich seine Aufgabe nicht darin erschöpfen, wenn er wirklich ein neues Denken und eine neue Lebenspraxis sein will. Außer der Sorge um das Brot muß er auch die Sorge um den Sinn des Lebens beim Menschen berücksichtigen und diese Sorge ausräumen. Er muß dem neuen Menschen, der aus dem verwirklichten Kommunismus hervorgehen soll, den Sinn des Lebens zeigen und ihm überzeugend sagen, wozu er auf der Erde lebt, wenn die Erde die einzige und endgültige Ebene des menschlichen Daseins ist. Die Sinnfrage stellt doch immer und notwendigerweise nur die zweite Hälfte der Frage nach dem Menschen im allgemeinen dar. Wird der Marxismus als Atheismus immer weniger Verneinung Gottes und immer mehr Bejahung des Menschen, so kann er an der Sinnfrage nicht Vorbeigehen, ohne sich selbst auszuhöhlen. Die großartige marxistische Konzeption des Menschen als Selbstschöpfers würde sofort Zusammenstürzen, wenn dieser Schöpfer seiner selbst nicht wüßte, wozu er lebt, d. h. in welche Richtung sein ganzes Schöpfertum gehen soll.

Es ist deshalb von großer Bedeutung für das Verständnis des Marxismus als Seinsinterpretation zu untersuchen, wie er die Sinnfrage steht und löst und worin er die letzte Rechtfertigung sowohl der menschlichen Existenz als der Entwicklung der Naturwelt findet.

1   G. V. Plechanov, Izbrannye filos. proizvedenija, Bd. II, S. 450.

2   Vgl. G. Marcel. Homo viator, Paris 1944, S. 6.

3 F. M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff, München 1923, S. 465.

4 Das betont besonders V. Solovjev, Filosofskie načala celnogo znanija (Philosophische Prinzipien der integralen Erkenntnis), Sočinenija (Werke), Petersburg 1901, Bd. I, S. 227 ff.

 

1. Die Entstehung der Sinnfrage

Als vor einigen Jahren A. Buchholz versuchte, die Stellung und Lösung der Sinnfrage im marxistischen Denken näher zu untersuchen, stieß er auf etwas sehr Merkwürdiges. „Untersucht man“, sagt Buchholz, „die Sowjetphilosophie nach Antworten auf die Sinnfrage, so wird man zunächst feststellen, daß weder bei den Klassikern des Marxismus noch in den großen philosophischen Lehrbüchern diese Frage in umfassender Weise gestellt oder behandelt wird. Es bedarf schon spezieller Nachforschungen in der kommunistischen Literatur, um wenigstens eine annähernde Vorstellung von den Antworten oder Antwortmöglichkeiten des dialektischen Materialismus auf diese Frage zu bekommen.“5 Die Sinnfrage bildet, nach Buchholz, eines der leeren Felder, wie er jene großen Probleme bezeichnet, „welche die ganze Menschheitsgeschichte begleiten, im dialektischen Materialismus (aber) keine Behandlung erfahren“ oder nur am Bande erwähnt werden, was „dem Ernst und der Größenordnung dieser Fragen nicht angemessen“ ist (S. 155). Die marxistische Philosophie zögerte ziemlich lange, die Sinn-frage in ihren Fragenbereich mit einzubeziehen und sie ausführlich zu behandeln. Die intensive Beschäftigung mit den Fragen der Natur und der Geschichte, der Gesellschaft und des Staates entfernte das sowjetische Denken von der Sinnfrage, so daß diese Frage wirklich kaum berührt wurde. Das Feld blieb leer.

Erst im Jahre 1958, und zwar im deutschen Bereich, erschien eine größere Abhandlung von Bobert Schulz, betitelt „Über den Sinn geschichtlichen Daseins“.6 Diese Abhandlung ist von bahnbrechender Bedeutung nicht nur deshalb, weil er im kommunistischen Bereich die erste umfassendere Studie über die Sinnfrage ist, sondern vor allem deshalb, weü in ihr zum ersten Mal die marxistische Lösung der Sinnfrage mit aller Klarheit ausgesprochen wird: der Mensch findet den Sinn des Daseins nicht, er schafft ihn genau so, wie er seine Existenz in der Welt und die eigene Natur in sich selbst schafft. Das Jahr 1958 kann deshalb als das Geburtsjahr der Sinnfrage in der marxistischen Philosophie angesehen werden. Seitdem reißt die Reihe der größeren oder kleineren Studien und Artikel über den Sinn des Lebens nicht mehr ab.7

Das verhältnismäßig späte Erscheinen der Sinnfrage in der marxistischen Philosophie bedeutet jedoch keineswegs, daß die Frage selbst im Bewußtsein des kommunistischen Menschen gefehlt hätte. Im Gegenteil! In den Werken der sowjetischen schönen Literatur, die gerade den kommunistischen Menschen schildern, lesen wir oft, wie die handelnden Personen vom „Wichtigsten im Leben“ sprechen8; wie sie das Bewußtsein „eines inhaltsreichen, bis zum Rande gefüllten Lebens“ für herrlich halten9; wie die Schüler direkt „über den Sinn des Lebens“ streiten10; wie die Arbeiter mit tiefem Emst stets fragen, „wofür, mit welchem Zweck“ sie arbeiten und was überhaupt die Triebkraft alles Handelns“ ist.11 Diese Zitate aus sowjetischen Erzählungen bezeugen uns eindeutig, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens im kommunistischen Menschen immer lebendig war. Die sowjetischen Schriftsteller, auf den wirklichen Menschen mit seinen Sorgen und Problemen angewiesen, haben die Sinnfrage als psychologische Realität viel früher entdeckt und formuliert als die sowjetischen Philosophen.12

Die psychologische Stellung der Sinnfrage im Bewußtsein des kommunistischen Menschen und ihre Behandlung in der sowjetischen Literatur forderte auch die marxistische Philosophie unablässig auf, sich mit der Frage zu befassen und eine rational fundierte Antwort darauf zu geben. Wie dieser Prozeß vor sich ging, veranschaulicht uns Ad. Schaff, der als erster in Polen sich mit der Sinnfrage beschäftigte, ja sie als unumgänglich begriff und intensiv behandelte. Dieser orthodoxe marxistische Denker, der auch der Präsident der polnischen Akademie der Wissenschaften und Mitglied des Zentralkomitees der polnischen kommunistischen Partei ist, schreibt über seine eigene Hinwendung zur Sinnfrage folgendes: „Ich muß zugeben, daß die Häufigkeit und Hartnäckigkeit, mit der diese Frage gestellt wird, mich gezwungen haben, über dieses Problem nicht nur nachzudenken, sondern meine Einstellung dazu zu ändern.“13 Ad. Schaff ist Fachmann auf dem Gebiete der Kritik des westlichen Neopositivismus, wie dieser in den Werken von B. Carnap, O. Neurath, H. Reichenbach, M. Schlick vertreten wurde und später eine gewisse Fortführung in der sog. Logistik von G. Frege, H. Scholz, L. Wittgenstein erfuhr. Da diese Richtung des Philosophierens jede Metaphysik als eine rein verbale Spekulation ablehnt, steht sie in dieser Hinsicht (der Verfasser möchte aber betonen: nur in dieser Hinsicht!) dem Marxismus nahe. Aus diesem Grund beschäftigen sich heute einige marxistische Denker mit dem Neopositivismus ganz intensiv. Das tut auch Ad. Schaff. Doch diese Beschäftigung entfernte ihn von Fragen wie der nach dem Sinn des Lebens. Er spürte, wie er selbst zugibt, ein Unbehagen, sobald er „alle jene verworrenen Ausführungen über den Sinn des Lebens“ hörte (S. 63). Das hob die Frage selbst jedoch nicht auf: sie stellte sich auch weiterhin, und zwar immer hartnäckiger, so daß diese Tatsache Schaff schließlich „von der Notwendigkeit einer Antwort“ darauf überzeugte (ebd.). Das erlebte Ad. Schaff, wie er erzählt, besonders eindrucksvoll nach einem Vortrag vor den polnischen Studenten „in der akademischen Siedlung Jelonki“ (S. 64). Nach dem Vortrag wurden wie üblich, Fragen gestellt, und die erste Frage lautete: „Verzeihen Sie, aber vielleicht können Sie uns am eigenen Beispiel erklären, welchen Sinn das Leben hat?“ (ebd.). Die erste Reaktion Schaffs auf diese Frage war Empörung, denn er verstand sie als einen „geschmacklosen Sarkasmus gegenüber dem Vortragenden“ (ebd.). „Als ich jedoch“, erzählt Schaff weiter, „auf den Fragenden und Hunderte auf mich gerichtete Augenpaare sah, begriff ich plötzlich: die Sache ist wichtig. Das bestätigte auch die Stille, in der sie meine Antwort anhörten. Ich muß zugeben, ich dachte damals laut und sehr fieberhaft. Bislang hatte ich diese Art von Problemen... als Quatsch verworfen“ ; es war aber „jener Abend, der mich vom Gegenteil überzeugt hat“ (ebd.). Schaff entschied sich deshalb, sich diesem Problem zu widmen und es zu lösen, denn „die schlimmste Philosophie ist die Philosophie des Elfenbeinturmes“, d. h. eine Philosophie, die die Antwort auf eine Frage, „die offensichtlich breite Schichten quält“, verweigert (ebd.). Es unterliegt aber, nach Schaff, „nicht dem geringsten Zweifel“, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens zum Typus eben dieser breite Volksschichten quälenden Fragen gehört (ebd.). Mit Nachdruck betont Schaff heute, der dialektische Materialismus müsse sich mit der Sinnfrage befassen und sie „vom Standpunkt des Marxismus“ beantworten (ebd.). Wurde diese Frage bisher unklar gestellt, so müsse sie nun präzisiert werden; war sie immer „mit einer schlechten metaphysischen Tradition belastet“, so müsse sie nun davon gereinigt werden (S. 63—64). Man darf sie aber nicht mehr unberücksichtigt lassen. Verweigert ein marxistischer Denker die Antwort auf die Sinnfrage auch weiterhin, so wird er, sagt Schaff, „der Gegenwart entfremdet und hört auf, auf sie einzuwirken“ (ebd.); das ist aber das Schlimmste, was einem marxistischen Denker widerfahren kann. Die Lebensnahe der sowjetischen Philosophie hängt also gegenwärtig davon ab, inwieweit sie bereit und imstande ist, eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu geben.

Hier wird Ad. Schaff deshalb ein wenig ausführlicher zitiert, weil seine Erfahrung die Aktualität der Sinnfrage und ihrer Beantwortung in der marxistischen Philosophie sehr deutlich zeigt und weil Schaff selbst als Denker sich in Deutschland einer gewissen Popularität erfreut.14 Genau dasselbe aber stellen wir auch bei P. M. Egides, einem russischen sowjetischen Denker, fest, der seinen Artikel „Die marxistische Ethik über den Sinn des Lebens“ (1963) mit dem folgenden Satz beginnt: „Die Frage nach dem Sinn des Lebens, d. h. die Frage, warum der Mensch lebt, ist die wichtigste Frage des Daseins.“15 Von der Beantwortung dieser Frage hängen nämlich „die Formung der Persönlichkeit und die Erziehung einer einheitlichen Erkenntnis und Haltung ab, die dem allseitig entwickelten, integralen

Menschen der kommunistischen Gesellschaft eigen sind“ (ebd.) „Die richtige Auffassung der Sinnfrage verleiht dem Menschen“, sagt Egides weiter, „das Selbstvertrauen und macht sein Verhalten gesammelt und zielgerichtet“ (ebd.). Das ist ein klares Bekenntnis dazu, daß die Bildung des neuen Menschen, die heute im Mittelpunkt aller sowjetischen Bestrebungen steht, ohne die Beantwortung der Sinnfrage nicht mehr möglich ist. Deshalb betont Egides, daß „das Problem des Sinnes eine der zentralen Fragen der Ethik bildet“ (ebd.). Aber auch für den Kampf zwischen bürgerlicher und kommunistischer Weltanschauung sei die Lösung der Sinnfrage von großer Wichtigkeit, denn in diesem Kampf gehe es ja um die Entscheidung: „Gibt es in diesem grauenerregenden (košmarnyj) Atomzeitalter einen Sinn des Lebens, wenn alles in unserer Welt so unsicher erscheint?“ (S. 26). Die Sinnfrage rückt also immer mehr in den Mittelpunkt sowohl der sowjetischen Anthropologie als auch der sowjetischen Ethik. Eines jener leeren Felder, von denen A. Buchholz noch vor einigen Jahren mit Recht sprechen konnte, wird heute von den sowjetischen Denkern bereits emsig bebaut. Die Eile der sowjetischen Denker, die Sinnfrage rational zu stellen und zu lösen, wird uns verständlicher, wenn wir eine Tatsache der Philosophiegeschichte ins Auge fassen: die existentielle Richtigkeit einer Philosophie verifiziert sich stets an der Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens. Mag eine Philosophie sich logisch auch noch so unerschütterlich erweisen, beantwortet sie die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht oder nur unbefriedigend, so wird sie im Laufe der Zeit abgelehnt. Der Zusammenbruch der Hegelschen Philosophie unmittelbar nach dem Tode ihres Autors ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Dieser Zusammenbruch war keineswegs eine logische Überwindung Hegels. Das war eine existenzielle Ablehnung, weil der damalige Mensch keine Lösung der Sinnfrage in der Hegelschen Philosophie fand. Genau die gleiche Gefahr bedroht nun auch den Marxismus als Seinsdeutung. Das begreifen die marxistischen Denker — die obigen Zitate aus dem Buch Schaffs bestätigen das — heute mehr oder weniger und widmen sich der Klärung der Sinnfrage in aller Eile.

Damit aber wird die marxistische Ontologie oder der dialektische Materialismus auf die Probe gestellt: die Sinnfrage wird zum Prüfstein der marxistischen Grundlagen, und zwar noch mehr als die Ethik (vgl. I. Kapitel Abschnitt 4), denn die Sinnfrage berührt schon die ontologische Theorie selbst und nicht nur ihre anthropologische Praxis. Wird die marxistische Antwort auf die Sinnfrage unbefriedigend ausfallen, wird sie als entwürdigend in bezug auf die menschliche Person erlebt, so wird der dialektische Materialismus als marxistische Ontologie mit der Zeit genau so scheitern wie alle anderen Philosophien, die die Sinnfrage nicht überzeugend beantwortet haben.

Mag sein, daß der logische Aufbau des dialektischen Materialismus sich auch weiterhin seiner Festigkeit rühmen wird, wie dies Lenin sagte: „Man kann aus dieser aus einem Guß geformten Philosophie des Marxismus nicht eine einzige grundlegende These, nicht einen einzigen wesentlichen Teil wegnehmen, ohne sich von der objektiven Wahrheit zu entfernen“16; existentiell jedoch wird dieses logische Gefüge keine Rolle mehr spielen, wenn es ihm nicht gelingt, eine der Würde der menschlichen Person entsprechende Lösung der Sinnfrage zu geben. Solange der dialektische Materialismus an der Sinnfrage vorbeiging, konnte er sich auf seine logische Struktur allein berufen. Num aber, nachdem die Sinnfrage mit ihrem ganzen Gewicht gestellt worden ist, genügt der logische Aufbau nicht mehr. Jetzt muß auch die Lösung der Sinnfrage mitsprechen, und eben diese Mitsprache wird heute zum Prüfstein der marxistischen Ontologie. Die Ausklammerung dieser Frage ist nicht mehr möglich. Das geben auch die marxistischen Denker, wie das Beispiel Schaffs zeigt, offen zu. Die Einbeziehung dieser Frage in die marxistische Philosophie bedeutet aber das schwerste, ja das letzte Bingen um das existenzielle Bestehen dieser Philosophie.

Darin liegt die Bedeutung der Sinnfrage — nicht nur für uns, die die Entwicklung des Marxismus aufmerksam verfolgen, sondern auch für den Marxismus selbst, der die Welt verändern will und dazu der existenziellen Zustimmung des Menschen bedarf. Würde er diese Zustimmung nicht berücksichtigen, so würde er zu einer rein theoretischen Interpretation der Welt zurückkehren und die Veränderung der Welt seinen Händen entgleiten lassen. Das würde aber den Tod des Marxismus bedeuten. Die Zustimmung des Menschen zu einer Philosophie gewinnt diese endgültig erst durch eine glückliche Lösung der Sinnfrage. — Zu welchen Resultaten also ist die sowjetische Philosophie bei der Lösung dieser Frage gekommen?

5 A. Buchholz, Der Kampf um die bessere Welt. Ansätze zum Durchdenken der geistigen Ost-West-Probleme, Stuttgart 1961, S. 156.

6 Im Sammelwerk „Beiträge zur Kritik der gegenwärtigen bürgerlichen Ge- sdiichtsphilosophie“, S. 11—52. — Rein chronologisch sollte allerdings der polnische Denker Leszek Kolakowski für den ersten, der sich mit der Sinnfrage im kommunistischen Bereich beschäftigte, gehalten werden. Denn er hat schon 1957 ein Essay über „Die Weltanschauung und das tägliche Leben“ (deutsch: „Der Mensch ohne Alternative“, München 1960, S. 191—215) veröffentlicht, wo er diese Frage stellt. Doch die Stellung der Sinnfrage bei Kolakowski ist dermaßen unmarxistisch, daß sie zu ihrer Klärung nach marxistischen Grundsätzen nichts beiträgt. Kolakowski behauptet nämlich, „in der menschlichen Welt taucht die Reflexion über den Sinn des Lebens immer dann auf, wenn das abstrakte Denken von der menschlichen Arbeit getrennt ist und eine eigene Welt schafft, die dem täglichen Leben entfremdet wird“ (deutsch S. 207). Damit aber disqualifiziert er sich selbst als Marxist, denn dann ist auch seine eigene Reflexion über die Sinnfrage aus seinem der Arbeit entfremdeten, d. h. völlig unmarxistischen, Denken entstanden. Das haben die polnischen Marxisten bald eingesehen und Kolakowski aus der Partei ausgeschlossen. Es bleibt also R. Schulz als Pionier der Sinnfrage im echt marxistischen Philosophieren, zumal er bereits zu derselben Zeit (1957) wie auch Kolakowski über diese Frage nachdachte, und zwar im Zusammenhang mit der Kritik des ebenfalls unmarxistischen Denkens von Emst Bloch (vgl. R. Schulz, Blodis Philosophie der Hoffnung im Lichte des historischen Materialismus, im Sammemwerk „Emst Blochs Revision des Marxismus“, S. 70—72).

7    Vgl. N. Janzen, Vom Sinn des menschlichen Lebens in unserer Epoche, Berlin 1959; V. P. Tugarinov, O cennostjach žizni i kultury (Über die Werte des Lebens und der Kultur), Leningrad 1960; V. P. Tugarinov, O smysle žizni (Vom Sinn des Lebens), Moskau 1961; A. Schaff, Filozofia czlowieka (Philosophie des Menschen), Warschau 1961; P. M. Egides, Marksistskaja etika o smysle žizni (Die marxistische Ethik über den Sinn des Lebens), in „Voprosy filosofii“ 1963, Nr. 8, S. 24-36.

8    O. Nekljudowa, Katja erobert junge Herzen, S. 116.

9 A. Koptjajewa, Iwan Iwanowitsch, Berlin 1955, S. 218.

10    N. Atarow, Geschichte einer ersten Liebe, S. 86.

11    N. Atarow, a. a. O., S. 98.

12    Daß die sowjetische Literatur bei der Stellung vieler Probleme der sowjetischen Philosophie vorausgeht, beweist die Periode des sog. „Tauwetters“, die Ilja Ehrenburg mit seinem gleichnamigen Roman „Tauwetter“ (1954, in der Zeitschrift „Znamja — Das Banner“) einleitete und die später in erster Linie von den Schriftstellern getragen wurde. In dieser Periode wurden solche Probleme in der Literatur behandelt, die von der Philosophie auch heute noch nur ängstlich und ziemlich oberflächlich angeschnitten werden, wie: die Freiheit, der Wert des einzelnen, das Gewissen, das nationale Verbrechen usw.

13 Ad. Schaff, Marx oder Sartre? Versuch einer Philosophie des Menschen, Wien 1964, S. 63 (die deutsche Übersetzung der „Filozofia czlowieka“).

14   Außer der Übersetzung seiner Werke (vgl. die obenzitierte „Philosophie des Menschen“ und nun auch „Marxismus und das menschliche Individuum“, Wien 1965) ist Adam Schaff in der Bundesrepublik auch als Sprecher des Kommunismus beim Dialog mit den Christen bekannt: als Hauptreferent nahm er nämlich an der Tagung der Paulus-Gesellschaft in Köln (Herbst 1964) teil und plädierte für die Entwicklung der Philosophie der Persönlichkeit im Marxismus (vgl. darüber „Herder-Korrespondenz“, Juni 1965, S. 415—416). An den beiden letzten Tagungen der Paulus-Gesellschaft in Salzburg (1965) und auf Herrenchiemsee (1966) konnte oder durfte Schaff jedoch nicht teilnehmen, obwohl er eingeladen worden war (vgl. ebd. S. 417; „Herder-Korrespondenz“, Juni 1966, S. 277).

15   Voprosy filosofii, 1963, Nr. 8, S. 25; vgl. auch R. Schulz, a. a. O., S. 12: „Die Frage nach dem Sinn . . . bewegt jeden Menschen.“

16 W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, S. 317.

 

2. Die Sinngebung als Lösung der Sinnfrage

Die Sinnfrage stellt sich jedem Menschen zutiefst als seine persönliche Frage: Wozu lebe und handele ich? Doch die Beantwortung dieser zuallererst persönlichen Frage ist nur durch deren Erweiterung auf das Dasein schlechthin möglich: Wozu lebt der Mensch überhaupt? Denn kein einzelner kann das Ziel seines eigenen Lebens isoliert erreichen. Das persönhche Ziel kann nur im Lichte des allgemeinen Zieles einen Sinn haben und ihn erfüllen. Folglich muß der persönliche Sinn des Lebens als Teilnahme am allgemeinen Sinn der Menschheit verstanden werden. Falls wir diesen allgemeinen Sinn des Daseins leugnen, verlieren auch unsere persönlichen Ziele ihre Bedeutung, weil sie sich sofort in alltägliche Zwecke verwandeln, die stündlich überholt werden. Um den Sinn der persönlichen Existenz zu retten, müssen wir den Sinn des Daseins als solchen anerkennen. — Diese Bemerkung ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der marxistischen Lösung der Sinnfrage, denn der Marxismus verfährt auch hier, wie überall, dialektisch, was eben in der Formel zum Ausdruck kommt, mit der die sowjetische Philosophie eine Antwort auf die Sinnfrage gibt, nämlich: es gibt einen objektiven, aber keinen allgemeinen Sinn des Lebens. — Was bedeutet das? Worin besteht der Unterschied zwischen objektivem und allgemeinem Sinn?

Der objektive Sinn des Lebens bedeutet einen Sinn, der unabhängig vom Willen des einzelnen existiert und verwirklicht wird. Der einzelne setzt den Sinn des Lebens nicht und verfügt über ihn auch nicht. Der Sinn des Lebens wurzelt in objektiven, außerhalb des Bewußtseins des einzelnen existierenden Faktoren. Wenn der Marxismus behauptet, es gibt einen objektiven Sinn des Lebens, so will er damit sagen, daß die Sinnfrage nicht nach Beheben vom einzelnen beantwortet werden kann. Der Sinn des Lebens ist etwas Überindividuelles: er bestimmt den Willen des einzelnen und läßt sich nicht von diesem bestimmen.

Nun bedeutet der allgemeine Sinn des Lebens viel mehr als nur die Unabhängigkeit des Sinnes vom Willen des einzelnen. Der allgemeine Sinn bedeutet das Bestehen des Sinnes nicht nur außerhalb des subjektiven Bewußtseins, sondern auch im Gesamtprozeß des Lebens als solchen, nämlich: in der Geschichte und in der Natur. Das ist der universale Sinn der Welt. Dieser allgemeine oder unversale Sinn ist unabhängig nicht nur vom subjektiven Willen des einzelnen, sondern auch von dem der ganzen Menschheit als Gesellschaft. Denn selbst, die Menschheit in ihrer Gesamtheit kann nicht dem universalen Prozeß der Natur und der Geschichte einen Sinn geben. Der allgemeine Sinn bedeutet deshalb nicht nur etwas Überindividuelles, sondern zugleich auch etwas Übermenschliches schlechthin. Das ist etwas, was die Kategorie des Menschlichen übersteigt.

Im Zusammenhang mit diesem Unterschied gibt der Marxismus seine dialektische Antwort auf die Sinnfrage: er erkennt den objektiven Sinn des Lebens an, aber er lehnt einen allgemeinen oder unviersalen Sinn ab.

Der Marxismus bejaht entschieden den objektiven Sinn des Lebens, ja, er bekämpft alle Richtungen der Philosophie, die das Leben für sinnlos oder absurd halten, wie dies im französischen Existentialismus bei Sartre etwa der Fall ist.16a P. M. Egides sagt, zum Beispiel, „der positive Sinn des menschlichen Lebens ist seine objektive Bedeutung“; als der Marxismus entdeckte, daß die Entwicklung der Gesellschaft einen naturhaft-gesdiichtlichen Prozeß darstellt, entdeckte er zugleich auch, daß das Leben jedes Menschen, der materielle oder geistige Werte schafft, eine objektive Bedeutung für diesen Prozeß und somit einen Sinn hat.17 In diesen Worten von Egides sind die beiden Merkmale des objektiven Sinnes enthalten: es wird hier das Vorhandensein eines Sinnes im Leben bejaht und der Sinn selbst im außersubjektiven Prozeß der Gesellschaft gesehen. Der Sinn des Einzellebens wird somit zur Teilnahme an diesem Prozeß, und zwar durch die Schöpfung materieller und geistiger Werte.

Dasselbe behaupten auch die nichtrussischen marxistischen Denker. R. Schulz sagt, zum Beispiel, um die Sinnfrage zu beantworten, darf man nicht „vom Individuum und seinem Glücksanspruch“ ausgehen, wie dies Schopenhauer tat; „mein muß von überpersönlichen geschichtlichen Epochen und sozialen Gruppen oder Klassen ausgehen“18. Damit weist R. Schulz auf eine neue Eigenschaft des objektiven Sinnes hin: dieser trägt nicht nur einen außersubjektiven, sondern auch einen deutlich kollektiven Charakter. Die Objektivität des Sinnes besteht in seiner Kollektivität. Noch deutlicher unterstreicht das Georg Lukacs, der oft eigenwillige marxistische Denker. Im Zusammenhang mit der Kritik des Existentialismus sagt er: „Der in der fetischisierten Welt lebende Mensch siebt nicht, daß jedes Leben um so reicher, um so inhaltsvoller und wesentlicher ist, je vielverzweigtere, tiefgreifendere menschliche Beziehungen ihn — bewußt — mit dem Leben seiner Mitmenschen, mit der Gesellschaft verknüpfen. Der isolierte, der egoistische, der nur für sich lebende Mensch steht in einer verarmten Welt, seine Erlebnisse nähern sich um so gefahrdrohender der Wesenlosigkeit, dem In-nichts-Zerfließen, je ausschließlicher sie nur die seinen, je ausschließlicher sie lediglich nach innen gewendet sind.“19 Während also der Existentialismus den Menschen vor „der Öffentlichkeit des Man“ (Martin Heidegger) als vor einer Gefahr, die eigentliche Existenz darin zu verlieren, warnt, betont der Marxismus, „daß der Verlust des öffentlichen Lebens“ den Menschen dem Lebensüberdruß wie einem Rauschmittel wehrlos ausliefert.20 Das bedeutet, daß der einzelne den Sinn des Lebens nicht verwirklichen, ja, sogar nicht erkennen kann. Die Betrachtung des Menschen als Eigentlichkeit in seinem Ich führt, nach der übereinstimmenden Meinung der marxistischen Denker, zur Verneinung des objektiven Sinnes des Lebens und zur Anerkennung und zur Hinnahme des Absurden, dem der Menschen, wie bei Camus, nur seine trotzige Verachtung entgegensetzt.21 Der einzelne macht sein Leben erst dann sinnvoll, wenn er an der Verwirklichung des objektiven Sinnes der Gesellschaft bewußt und aktiv teilnimmt. Das Leben hat wohl einen objektiven Sinn, aber dieser Sinn offenbart sich nur im Prozeß der Gesellschaft und wird von der Gesellschaft getragen.

In dieser Hinsicht muß man dem Marxismus hoch anrechnen, daß er durch die Bejahung des objektiven Sinnes im menschlichen Leben jedem Pessimismus einen scharfen Kampf ansagt, jede absurde Auslegung des Daseins ablehnt, den Optimismus pflegt und den Heroismus nicht in der Verachtung oder im Trotz, sondern im Opfer für die Gesellschaft sieht. Aus diesem

Grund erscheint das Wesensbild des neuen Menschen, der aus der anthropologischen Praxis des Kommunismus hervorgehen soll, licht, freudenvoll und energisch; es wird zwar vom Kampf bestimmt, aber vom Kampf, der zu gewinnen ist. Durch die Verkündigung einer vollen Herrschaft der Menschheit über die Natur weckt dieses Bild große Hoffnungen im Menschen, so daß er seine Zukunft sich immer in hellen Farben vorstellt und deshalb sich ihr freudenvoll hingibt. Die Daseinsstimmung der Kommunisten ist die der Pioniere, die vor sich zwar ein wüstes Land haben, doch ein Land, das sie ihr eigenes nennen dürfen und in dem sie die alleinigen Hausherren sind. Diese Stimmung wird in der Sowjetunion planmäßig gepflegt und durch Erziehung, Moral und Propaganda systematisch verbreitet. Das Leben ist wert gelebt zu werden — das ist die Losung der sowjetischen Ethik und Anthropologie. Der Selbstmord wird als die größte Feigheit betrachtet und nie öffentlich — auch privat kaum — erwähnt. Das ist die positive Seite der marxistischen Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens.

Mit der Bejahung des objektiven Sinnes im Dasein des Menschen erschöpft sich die Sinnfrage jedoch noch nicht. Es bleibt noch die andere Seite dieser Frage, nämlich die Frage nach dem allgemeinen oder universalen Sinn. Hat das Leben einen Sinn, der dem Gesamtprozeß der Welt innewohnt? Diese Frage ist nicht weniger wichtig als die nach dem objektiven Sinn, denn der objektive Sinn findet seine letzte Fundierung erst im allgemeinen Sinn. Wie löst der Marxismus nun diese zweite Frage?

Die marxistische Antwort auf die Frage nach dem universalen Sinn des Lebens fällt völlig negativ aus. Das hat vor allem B. Schulz sehr deutlich formuliert. Während Ad. Schaff und P. Egides sich mehr mit der Darstellung des objektiven Sinnes beschäftigen, stellt R. Schulz die Frage nach dem allgemeinen Sinn und verneint ihn entschieden: „Einen solchen Gesamtsinn oder Weltsinn gibt es nicht; er ist eine Fiktion (S. 68) . . . Wir lehnen sowohl ,den ganzen Sinn der Welt' als auch einen Gesamtsinn der Geschichte ab . . . Das ist idealistische Teleologie. Man kann vom Boden des Materialismus aus keinen Gesamtsinn der Geschichte nachweisen“.22 Und an einer anderen Stelle: „Es gibt also einen Sinn — als Zweck, Ziel und Wert — für das individuelle Leben, für das geschichtliche Handeln ganzer Schichten und Klassen oder auch ganzer Völker . . . (d. h. einen objektiven Sinn, Vf.), jedoch nicht für die gesamte Geschichte der Menschheit.“23 Diese Ablehnung ist eine durchaus logische Schlußfolgerung aus der marxistischen Weltdeutung. Der allgemeine oder universale Sinn ist doch, wie gesagt, von allem Menschlichen unabhängig: er übersteigt das Menschliche. Andererseits setzt der Sinn immer ein denkendes Wesen voraus, das dem Prozeß der Welt den Sinn gibt. Denn der Sinn ist keine naturhafte Kategorie. Er ist eine Kategorie des Geistes und deshalb kann er nur vom Geiste gesetzt werden. Da aber der universale Sinn vom menschlichen Geiste dem Weltprozeß nicht gegeben werden kann — die Welt ist ja früher als der Mensch —, so folgt daraus, und zwar mit logischer Notwendigkeit, daß der allgemeine Sinn des Weltprozesses nur von einem überweltlichen geistigen Wesen, d. h. von Gott gegeben werden kann. Nun leugnet der Marxismus aber die Existenz eines solchen Wesens entschieden, konsequenterweise muß er auch das Vorhandensein eines universalen Sinnes leugnen. Gibt es keinen Gott, so gibt es auch keinen allgemeinen Sinn des Lebens. Das Vorhandensein des universalen Sinnes ist mit dem Materialismus genauso unvereinbar wie die Existenz Gottes, denn das sind nur zwei Seiten ein und derselben Realität, nämlich der Transzendenz.

Was folgt aber aus dieser Ablehnung des allgemeinen Sinnes des Lebens? Zuallererst die wesentliche Anthropologisierung des Sinnes. Im Marxismus ist der Sinn nicht nur eine geistige Kategorie im allgemeinen, sondern wesentlich eine menschliche Kategorie im besonderen; menschlich deshalb, weil es keinen anderen Geist gibt als den menschhchen. „Die Kategorie Sinn mit dem allgemeinen gebräuchlichen Inhalt als Ziel, Zweck, Wert“, sagt R. Schulz, „ist eine nur die menschliche Tätigkeit betreffende Kategorie“, denn „nur menschliches Dasein ist bewußtes, zweckmäßiges, zielsetzendes Tun“.24 Folghch kann und darf man vom Sinne nur im menschhchen Bereich sprechen. Andere Bereiche des Seienden, die außerhalb des Menschen und von ihm unabhängig existieren, sind jeglichen Sinnes bar. Das betrifft vor edlem die Natur. Es ist deshalb „unrichtig und widerspricht der materialistischen Grundposition, für das Geschehen im Kosmos im allgemeinen oder für die Prozesse in der anorganischen Natur sowie in der Tier- und Pflanzenwelt die Begriffe Sinn oder sinnvoll in der Bedeutung von Zweck, Ziel und Wert anzuwenden“.25 Die Teleologie oder Zielstrebigkeit in der Natur, die mit Recht als konkreter Ausdruck des Sinnes gilt, wird vom Marxismus energisch abgelehnt. Mehr noch: die sowjetischen Denker sind sogar der Meinung: „Das Problem der Zielstrebigkeit in der lebendigen Natur ist eine der Fragen, um die ein hartes Ringen zwischen Idealismus und Materialismus in der Biologie ging und immer noch geht“26, denn „wenn es ein Ziel gibt, so entsteht immer die Frage: Wer hat es gesetzt (S. 67) . . . Außerhalb des denkenden Kopfes gibt es ja keine Ziele“.27 Was nicht denkt, kann auch keine Ziele setzen. Da aber die Natur kein Denkvermögen besitzt, so ist sie auch nicht fähig, sich selber Ziele zu setzen und diese dann zielstrebig zu verfolgen. Gäbe es Ziele in der Natur, so müßten sie von einem übernatürlichen Wesen gesetzt sein. „Deshalb ist die Teleologie mit der Theologie untrennbar verbunden“, gibt G. A. Fedorov ganz offen zu, „nämlich mit dem Glauben an das Walten eines vernünftigen, wollenden, geistigen Prinzips oder Gottes“.28 Da es aber solch ein Prinzip, nach der marxistischen Seinsdeutung, überhaupt nicht geben kann, so kann es auch keine Ziele in der Natur geben. Das Leben der Natur verläuft zwar gesetzmäßig, aber nicht zweckmäßig. Es wird vom Kampf des Organismus mit der Umwelt regiert und dementsprechend gestaltet. In der Natur handeln Wirkursachen, aber keine Zweckursachen.

Wenn aber der Sinn nur im menschlichen Bereich existiert, so entsteht die weitere Frage: Woher stammt dieser Sinn? Wer hat ihn gesetzt? Da es, wie gesagt, außer dem Menschen keinen anderen Geist gibt, so bleibt der Mensch selber als das einzige sinn- und zielsetzende Wesen. Der Mensch ist, nach dem Marxismus, nicht nur der alleinige Träger des Sinnes, sondern er ist zugleich auch dessen alleiniger Schöpfer. Das ist die zweite Folgerung aus der Ablehnung eines universalen Sinnes der Welt. Gibt es keinen allgemeinen Sinn des Lebensprozesses in der Welt, so beschränkt sich die Kategorie Sinn auf den menschlichen Bereich allein und wird zum Erzeugnis des menschlichen vorausschauenden Geistes. Anders gesagt, der Mensch selbst gibt seinem Leben den Sinn. Das ist vielleicht die originellste Idee in der marxistischen Lösung der Sinnfrage. Denn jede andere Philosophie in der Geschichte des abendländischen Denkens suchte nach dem Sinn; jede bisherige Philosophie betrachtete den Sinn als etwas Gegebenes und Verborgenes, das der Mensch zu finden und zu verwirklichen hat. Der Marxismus ist die erste Philosophie, die den Sinn als Schöpfung des Menschen selbst betrachtet und deshalb nach dem Sinn nicht sucht, sondern ihn einfach setzt. Bereits im Jahre 1909 schrieb A. Lunačarskij, einer der Theoretiker des Marxismus und nach der Revolution von 1917 Kommissar für die Volksbildung: „Mit Nietzsche sagen wir: Mensch, deine Aufgabe ist es, den Sinn der Welt nicht zu suchen, sondern der Welt den Sinn zu geben.“29 Genau dasselbe wiederholen auch die heutigen marxistischen Denker. R. Schulz sagt, zum Beispiel, : „Wir beschränken die Kategorie Sinn auf das bestimmte Zwecke und Ziele verfolgende menschliche Tun bestimmter Epochen. Es handelt sich um Sinngebung und nicht um Sinnfindung . . . Wir als Menschen mit Bewußtsein und Willen, als Angehörige bestimmter Klassen und Schichten, geben unserem Leben, unserem geschichtlichen Dasein seinen Sinn oder machen es sinnlos, je nachdem, ob wir die objektiven Gesetzmäßigkeiten beachten und uns der Erfüllung der historischen Aufgaben widmen oder uns im Dienste der Reaktion dem Fortschritt entgegenstellen.“30 Die Welt — die Natur und die Geschichte — als Ganzes liegt vor uns des Sinnes bar, wir aber als bewußte und denkende Wesen können und müssen diesem sinnfreien Weltprozeß einen Sinn geben, d. h. eine Aufgabe stellen und sie erfüllen. Somit machen wir selbst die Welt sinnvoll. Der Sinn kommt der Welt nicht von der Überwelt, sondern er wird vom Menschen selbst intendiert und gesetzt.

Der Welt eine Aufgabe setzen und somit sie sinnvoll machen kann der Mensch aber nur in einem sehr beschränkten Maße. Er kann doch das Ganze des Gesamtprozesses der Natur und der Geschichte nicht überschauen, zumal dieses Ganze sich im ewigen Werden befindet. Der Mensch ist nur fähig, einen Teil der Welt zu erkennen und dann nur diesem Einzelteil eine Aufgabe zu stellen, d. h. ihm einen Sinn zu geben. Das bedeutet, daß der Sinn nie universal und endgültig, sondern immer nur partiell und vorübergehend ist. Er beschränkt sich, wie die oben zitierten Worte von Schulz besagen, nur auf das menschliche Tun bestimmter Epochen, bestimmter Klassen und Schichten; er erweitert sich höchstens auf das Tun bestimmter Völker, nie aber auf die Gesamtheit des Weltprozesses. Die Kategorie Sinn wird somit zu einer wesentlich historischen Kategorie, die nie ewig bleibt, sondern sich stets ändert und nur im Partiellen, nie im Ganzen verwirklicht wird. Das Ganze bleibt sinnfrei, weil es außerhalb des menschlichen Er-kennens bleibt.

Aus der Anthropologisierung des Sinnes folgt notwendigerweise auch sein kollektiver Charakter. Nicht der einzelne, sondern das Kollektiv stellt eine Aufgabe und macht somit einen Teil des Gesamtprozesses der Welt sinnhaft, weil auch das Erkennen und Denken kollektiver Natur ist. Marx läßt das Bewußtsein „erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit anderen Mensch“ entstehen: „Das Bewußtsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren.“31 Dann ist auch das Denken als Funktion des Bewußtseins selbstverständlich kollektiv geprägt. „Die Wahrheit ist allgemein, sie gehört nicht mir, sie gehört allen“32, und zwar in dem Sinne, daß das Kollektiv nicht nur der Träger der Wahrheit, sondern auch ihr Autor ist. Die Wahrheit wird vom Kollektiv im Prozeß der Arbeit — ebenfalls nur kollektiv möglich — entdeckt und weiterentwickelt. Da aber die Sinngebung Einsicht in einen Teil des Weltprozesses voraussetzt, so folgt daraus, daß diese Einsicht nicht die des einzelnen, sondern nur die des Kollektivs sein kann und daß deshalb auch die Sinngebung eine kollektive Tat ist. Die Gesellschaft jeweils einer Epoche gibt dieser einen Sinn. Der einzelne existiert sinnhaft erst dann, wenn er sich diesen vom Kollektiv gesetzten Sinn zu eigen macht und in seinem Leben verwirklicht. Der Sinn der persönlichen Existenz fällt im Marxismus mit dem objektiven Sinn der Epoche völlig zusammen.33

Wenn wir nun konkret fragen, welche Aufgabe und somit auch welchen Sinn unsere Epoche hat, so antworten die marxistischen Denker einstimmig: der Sinn unserer Epoche liegt in der Verwirklichung des Kommunismus. Der Prozeß der Geschichte hat jetzt ein solches Entwicklungsstadium erreicht, daß er alle Formen des alten Daseins abschaffen und eine neue Form erzeugen muß. Diese Form ist eben die kommunistische. Das hat der Marxismus als konkreter Ausdruck des proletarischen Bewußtseins verstanden und somit die Verwirklichung des Kommunismus als Aufgabe unserer Epoche gesteht. Das Proletariat erwies sich dadurch als Sinngeber unseres Zeitalters. Selbstverständlich muß man die Sinngebung nicht als ein einfaches Erschließen oder Entdecken verstehen. Der Kommunismus „als Ziel unserer Epoche“ kommt nicht von selbst; er muß „erarbeitet, erkämpft werden“.34 Das bedeutet, daß unser individuelles Leben in der heutigen Epoche erst dann sinnvoll sein kann, wenn es an der Durchsetzung des Kommunismus in der Welt irgendwie teilnimmt; d. h. wenn wir uns den vom Proletariat unserer Epoche gegebenen Sinn aneignen und ihn aktiv verwirklichen. Widersetzen wir uns der Sinngebung seitens des Proletariates, so stellen wir uns selbst außerhalb des Weges der Geschichte, lassen uns von der Geschichte überholen und verfehlen den Sinn unseres Lebens. Hier liegt der Grund, warum die sowjetischen Denker uns, westliche Menschen, die den Kommunismus ablehnen, stets Ehemalige oder Gewesene (byvšie) nennen. Durch die Ablehnung des Kommunismus lehnen wir nämlich, nach der Auffassung des Marxismus, auch den Sinn unserer Epoche ab. Da es aber keinen anderen Sinn außer dem der Epoche gibt, so machen wir durch diese Ablehnung auch unser Leben sinnlos. Wir existieren zwar auch weiterhin, aber wir befinden uns am Rand des geschichtlichen Weges: wir gehen nicht mehr mit der Geschichte, sondern wir bleiben hinter ihr zurück. Alles aber, was von der Geschichte überholt wird, ist zum Untergang verurteilt: wir existieren lediglich als historische Fossilien, die früher oder später von selbst aussterben.

Die Verschmelzung des individuellen Sinnes mit dem Sinn der Epoche erklärt auch den Stolz des kommunistischen Menschen, mit dem dieser anderen Menschen begegnet. Indem der kommunistische Mensch an der Verwirklichung des Kommunismus als Sinn unserer Epoche bewußt und aktiv teilnimmt, verwirklicht er auch den Sinn seines eigenen Lebens. Er weiß, daß sein Dasein nicht scheitert, denn der Kommunismus, so hört er von Jugend an, sei gesetzmäßig im Prozeß der Geschichte entstanden und werde siegen. Somit werde auch sein individuelles Leben seine Erfüllung erreichen. Der kommunistische Mensch arbeitet also, wie er selbst glaubt, an einer vollkommen sicheren Sache. Er ist der einzige Menschentypus, der eine Zukunft hat. Die anderen Menschentypen gehören bereits der Vergangenheit an und leben nur aus der Vergangenheit, weil sie an der Verwirklichung des Sinnes der Gegenwart nicht teilnehmen, ja, sie sogar bekämpfen. Somit leben alle Nicht-Kommunisten lediglich von einem einst zwar gewesenen, nun aber schon längst überholten Sinne einer alten Epoche. Der kommunistische Mensch sei dagegen der einzige gegenwärtige Mensch (nastojaščij), weil er als Angehöriger des Proletariats unserer Epoche den Sinn gibt und diesen Sinn durch seine Tätigkeit konkret erfüllt. Deshalb begleiten Enthusiasmus und Selbstvertrauen alle seine Taten und Werke, mögen sie auch noch so schwer sein. Das ist die allgemeine Stimmung des kommunistischen Menschen; eine Stimmung, die oft noch durch Mittel der Propaganda, der Politik und der Erziehung gesteigert wird. Es sei „geradezu lächerlich, die Sowjetmenschen mit den Menschen der kapitalistischen Welt zu vergleichen“35: das ist die Quintessenz dieser Stimmung.

Wir müssen zugeben, daß die marxistische Lösung der Sinnfrage in der Form der Sinngebung durch den Menschen eine höchst verlockende Vorstellung ist. Nach der Lehre des historischen Materialismus ist der Mensch das sich selbst schaffende Wesen. Aus der Natur geht er nur als bloße biologische Gegebenheit hervor. Was er als geistiges und freies Wesen ist, macht er selbst, indem er sich nicht nur das physische Leben durch die Erzeugung der Werkzeuge gewährleistet, sondern zugleich auch das geistige Sosein schafft. Das Dasein bekommt er zwar von der Natur. Das Sosein aber gibt er sich selbst. Daß der Mensch in der Welt existiert, ist das Geschenk des Naturprozesses. Wie er aber existiert und was er ist, das ist die Schöpfung des Menschen selbst. Nun bei der Lösung der Sinnfrage erfahren wir vom Marxismus, daß die Selbstschöpfung des Menschen nicht nur das Sosein, sondern auch den Sinn des Daseins umfaßt. Das von der Natur erhaltene Dasein ist des Sinnes leer. Deshalb füllt es der Mensch mit dem Sinne und setzt somit seine Selbstschöpfung fort. Die Sinngebung ist daher nichts anderes als die Fortsetzung der schöpferischen Tätigkeit des Menschen an sich selbst. Auf dem aus der Natur hervorgegangenen Dasein errichtet er sein Sosein und gibt ihm seinen Sinn. Er selbst bestimmt, was er in der Geschichte ist und wozu er ist. Das klingt gewiß wie eine Hymne auf die absolute Autonomie des Menschen. Ein Wesen, das sich selbst das Sosein und den Sinn gibt, ist wirklich das höchste Wesen. In dieser Hinsicht ist die marxistische Lösung der Sinnfrage nichts anderes als die extreme Bejahung des Menschen.

Doch diese Bejahung betrifft den Menschen nur als Gattungswesen, nicht aber als Person. Die Sinngebung ist der Ausdruck der größten geistigen Macht des Menschen. Doch der Akt dieser Macht wird nicht von der Person, sondern vom Kollektiv vollzogen. Die Person ist nur der Vollbringer dieses Aktes in seiner Konkretheit, nicht aber sein eigentlicher Autor und Träger, denn der Sinn wird immer jeweils von einem Kollektiv gegeben. Folghch hat die Person auch keinen eigenen Sinn des Lebens. Sein Sinn ist der des Kollektivs dieser oder jener Epoche. Wenn ich mich persönlich frage, wozu ich lebe, so kann ich, falls ich ein Marxist bin, darauf nur eine Antwort geben: ich lebe, um den Sinn des Kollektivs zu erfüllen; ich habe keinen eigenen Sinn und verfolge kein eigenes Ziel, die anders wären als der Sinn und das Ziel des Kollektivs. Mein Sinn erschöpft sich im Sinne der Gesellschaft, denn mein Sinn ist nur die Individualisierung des gemeinsamen Sinnes.

Kann aber dieses Erleben des Sinnes den Menschen als Person befriedigen? Einige Zeit gewiß, vor allem in einer Epoche, in der das personale Bewußtsein, durch welche Eingriffe auch immer, mehr oder weniger gestört ist. Insofern der Mensch sich als Gattungswesen empfindet, kann er sich mit der marxistischen Lösung der Sinnfrage zufrieden geben, besonders wenn der intensive Aufbau des Kommunismus ihn ganz in Anspruch nimmt und ihm keine Zeit läßt, über sich selbst zu reflektieren. Nehmen wir aber an, daß die Verwirklichung des Kommunismus bereits vollendet ist, und zwar universal auf der Erde. Wie soll der Marxismus dann die Sinnfrage lösen? Wozu sollen dann die Menschen leben? Ad. Schaff möchte den Sinn in diesem Fall im sozialen Eudämonismus, wie er sagt, sehen, d. h. im „Streben nach einem Maximum an Glück der breitesten Massen“36. Das bedeutet jedoch, daß das irdische Leben zum seligen Leben gemacht werden soll und daß der Sinn des Lebens in diesem Leben selbst besteht: wir leben, um möglichst gut zu leben. Das könnte man ohne weiteres annehmen, wenn dieses Leben kein Ende hätte. Aber der Mensch stirbt doch! Ein seliges Leben, das mit dem Tode endet, enthält noch keinen Sinn. Es ist vielmehr der größte Selbstbetrug, wenn jemand an seine Vollkommenheit glaubt. Wie kann man in einem sich dem Tode stets nähernden Leben, mag es auch noch so sehr glücklich und vollkommen sein, einen Sinn finden? Wozu leben wir, wenn wir eines Tages doch sterben? Ein Leben, das den Sinn in sich selbst trägt, muß nicht nur glücklich, sondern auch ewig sein. Denn das endliche Glück ist ein Hohn, genauso wie eine unglückhche Unendlichkeit eine Grausamkeit wäre.

Das verstehen die marxistischen Denker sehr gut und versuchen deshalb, die letzte Lücke, die bei der Beantwortung der Sinnfrage durch den Tod auf gerissen wird, mit dem Traum von der Überwindung des Todes zu schließen. Wenn das Leben auf der Erde erst dann wirklich sinnvoll werden kann, wenn es selig und ewig zugleich ist, so müßten nicht nur die Seligkeit, sondern auch die Ewigkeit dieses Lebens erreicht werden. Das ist gewiß ein alter Traum der Menschheit. Im Kommunismus jedoch entledigt sich dieser Traum seines utopischen Charakters, indem er zum letzten Ziel, d. h. zum Sinn des verwirklichten Kommunismus wird. Die Verwirkhchung des Kommunismus soll der Menschheit das universale und allseitige Glück bringen. Da dieses erreichte Glück nach dem ewigen Bestehen verlangt, so soll der verwirklichte Kommunismus der folgenden Epoche der Geschichte die Aufgabe stellen, den Tod zu überwinden und somit das Glück zu verewigen. Die irdische Unsterblichkeit ersteht vor den Augen der sowjetischen Denker als das übernächste Ziel der Menschheit. Das nächste Ziel ist die Verwirklichung des Kommunismus als Glückszustand, und das übernächste Ziel ist die Überwindung des Todes als Garantie des ewigen Bestehens der erreichten Seligkeit.

Die marxistische Lösung der Sinnfrage in der Form der Sinngebung setzt, um annehmbar und befriedigend zu sein, also zwei Elemente voraus: das allseitige und universale Glück des Menschen auf der Erde und die Ewigkeit dieses Glücks im Dasein der Person. Erst unter dem Aspekt dieser zwei Elemente kann die marxistische Antwort auf die Sinnfrage der Kritik widerstehen und die Würde der Person nicht verspotten, wenn von dieser verlangt wird, auf einen eigenen Sinn des Lebens zu verzichten und den Sinn des Kollektivs zu verwirklichen. Eben deshalb aber erhebt sich die Frage des Todes im Marxismus mit aller Schärfe. Denn ohne die Lösung dieser Frage verwandelt sich die Aufgabe, den Tod zu überwinden, in eine einlullende Utopie, die niemand ernstnehmen kann, der den Tod ernst nimmt.

16a Vgl. J. Möller, Absurdes Sein? Eine Auseinandersetzung mit der Ontologie J. P. Sartres, Stuttgart 1959.

17 P. M. Egides, in „Voprosy filosofii“, 1963, Nr. 8, S. 30.

18   R. Schulz, Über den Sinn des geschichtlichen Daseins, S. 20.

19 G. Lukacs, Existenzialismus oder Marxismus? Berlin 1951, S. 42.

20   G. Lukacs, a. a. O., S. 42.

21   Vgl. A. Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Düsseldorf 1950, S. 156.

 22  R. Schulz, Blochs Philosophie der Hoffnung im Lichte des historischen Materialismus, im Sammelwerk „Emst Blochs Revision des Marxismus“, Berlin 1957, S. 68, 70.

23   R. Schulz, Über den Sinn des geschichtlichen Daseins, S. 45—46.

24   R. Schulz, a. a. O., S. 36—37.

25 R. Schulz, a. a. O., S. 36.

26 T. A. Kazakevič, Problema determinizmą i celesoobraznosti v živoj prirode (Das Problem des Determinismus und der Zielstrebigkeit in der lebendigen Natur), in „Učenye zapiski: Filosofija“, Leningrad 1961, S. 234.

27 G. A. Fedorov, Materialističeskaja dialektika o kategorii celi (Die materialistische Dialektik über die Kategorie des Zieles), in „Voprosy filosofii“, 1956, Nr. 1, S. 67-68.

28 G. A. Fedorov, a. a. O., S. 68.

29 A. Lunačarskij, Religija i socializm (Religion und Sozialismus), Petersburg 1908, Bd. I, S. 46.

30   R. Schulz, Über den Sinn des geschichtlichen Daseins, S. 46.

31   K. Marx, Die Frühschriften, S. 357.

32   K. Marx, a. a. O., S. 357.

33 Vgl. P. M. Egides, a. a. O., S. 30—31 ; R. Schulz, a. a. O., S. 43—45.

34   R. Schulz, a. a. O., S. 45.

35 W. Ashajew, Fern von Moskau, S. 57.

36 A. Schaff, Marx oder Sartre?, S. 73.

 

3. Das sowjetische Erleben des Todes

An einer Stelle äußert Gabriel Marcel die Vermutung, daß in einer Welt, in der „die intersubjektiven Bezüge gründlich verschwunden wären“, auch der Tod aufhören würde, „ein Geheimnis zu sein“: er würde hier „zur bloßen Tatsache, gleich der Zerstörung irgendeines Geräts“37. Diese Vermutung entspricht zwar der Erfahrung des Todes in weiten Bereichen unseres Zeitalters, jedoch mehr im psychologischen Sinne; eine Bestätigung, ja Verwirklichung findet sie aber erst im sowjetischen Erleben. Die Auffassung des Todes als Zerstörung eines Geräts wird im kommunistischen Osten, vor allem in der Sowjetunion, zu einer bewußten Stellungnahme und somit zu einer „Metaphysik“, die sowohl in der Philosophie als auch in der Literatur deutlich ausgesprochen und in der Erziehung der jungen Generation bewußt gepflegt wird. Der Tod des Sowjetmenschen soll tatsächlich kein Geheimnis mehr sein.

In seiner polemischen Auseinandersetzung mit Martin Heidegger über das menschliche Dasein als Sein-zum-Tode behauptet Georg Lukacs, Heideggers „Verhalten zum Tode ist nicht der ontologische Charakter des ,Seins“, sondern nur ein Zeitphänomen“ als Ausdruck „des Denkens und Fühlens einer Klasse“; das ist „nicht eine ,ontologische' Aufdeckung irgendeiner objektiven Wahrheit“, sondern nur das Abbild „der Gefühlswelt der heutigen Intelligenz“'38. In diesem Zusammenhang zitiert Lukacs Spinoza, der sagt: „Der freie Mensch denkt an alles andere eher als an den Tod; seine Weisheit ist nicht der- Tod, sondern sein Grübeln über das Leben“ (ebd.). Diese Worte Spinozas möchte Lukacs eben als Zeichen der Denkweise „älterer, noch nicht zerrütteter Zeit“ verstehen und das ständige Kreisen der Existenzphilosophie um das Problem des Todes „als Bekenntnis eines Bürgers der zwanziger Jahre“, d. h. einer schon zerrütteten Epoche deuten (ebd.). Der Marxismus als Negation der kapitalistischen Zerrüttung verhält sich selbstverständlich zum Tode im Sinne Spinozas und sieht seine Weisheit gerade im Grübeln über das Leben.

Diese von Lukacs philosophisch formulierte Einstellung des Marxismus zum Tode fand nach einigen Jahren eine beinahe buchstäbliche Bestätigung in einem literarischen Gespräch zwischen sowjetischen und italienischen Dichtern und Kritikern in Moskau 1959. Beim Diskutieren über die Aufgabe der Dichtkunst warf der italienische Kritiker G. Vigorelli der sowjetischen Dichtung vor, es fehle ihr eine kritische Einstellung zu den ewigen Problemen, unter denen der Tod den hervorragendsten Platz einnehme. Darauf antwortete der sowjetische Dichter I. Zelvinskij: „Wirklich, an den Tod denken wir sehr wenig — und schon das allein ist eine philosophische Einstellung zu dem Problem, mit dem sich gründlich zu befassen geboten ist. Von der Antike an haben alle Weisen und Philosophen auf der Suche nach dem Glück ihre geistige Welt aufgebaut, ausgehend von der Anpassung der Seele an den Gedanken des Todes. Wir haben gelernt, den Tod absolut zu ignorieren, weil wir viel an das Leben denken. Oh, uns ist es durchaus nicht gleichgültig, wie man lebt; ob so oder anders. Wir wollen nur so leben! Gerade darum ist unser Land intensiv bedacht nicht nur auf die Gesundheit der Menschen, auf die Verlängerung des Lebens, sondern auch auf die persönliche Unsterblichkeit im direktesten Sinne dieses Wortes .. . Die Sowjetschriftsteller ignorieren die ewigen Themen nicht, aber ein dem Volksglück geweihtes Leben erkennt die Priorität des Todes nie an“39. Das bedeutet: das Dasein des Sowjetmenschen ist nicht das Seinzum-Tode, sondern das Sein-zum-Leben. Der Tod ist eine bloße Tatsache, eine Zerstörung des Lebens, ein vorläufiger Mangel der Einsicht in den Prozeß des Lebens, der auf Grund des Wirkens der Naturkräfte einfach aufhört. Es gibt dabei nichts Ontologisches und überhaupt nichts Geheimnisvolles. Das ist die Grundansicht, die in allen sowjetischen Betrachtungen und Beschreibungen des Todes zum Ausdruck kommt.

Die erste Folge dieser Ansicht ist, daß der Tod zur Randerscheinung des menschlichen Daseins erklärt wird. Im Christentum wie auch in jeder anderen religiösen Seinsdeutung erscheint der Tod als zentrales Ereignis. All unser Handeln soll im Blick auf den Tod ausgeführt und unter dem Aspekt des Todes beurteilt werden. Das muß selbstverständlich nicht immer bewußt und absichtlich geschehen. Doch die Richtung des religiösen Daseins weist immer auf den Tod hin. Nun ändert der Kommunismus diese Richtung von Grund auf, indem er den Tod vom Zentrum des Daseins an dessen Rand verdrängt. Das Sterben wird vom kommunistischen Menschen nicht mehr als etwas betrachtet, worauf er sich vorbereiten, woran er denken soll und was er existenziell erwarten muß. Der Tod tritt beim kommunistischen Menschen nicht als Ereignis, sondern als bloßer Zufall ein, dem wir zwar nicht entkommen können, der aber unwesentlich erscheint, deshalb einer tieferen Sorge nicht würdig ist. Das stellen wir sowohl im sowjetischen Alltag als auch im sowjetischen Denken und Dichten fest.

In seinen Erinnerungen schildert Ignace Lepp, wie er sich, als er noch Kommunist war, zum Tode verhielt: „Nie hatte ich mich ernstlich gefragt, was mir nach dem Tode zustoßen würde. Noch stärker ausgedrückt: ich hielt die Sache für gänzlich uninteressant. Das Leben auf der Erde und in der Zeit erschien mir erregend genug; es gab darin so viel zu tun, das alles, was ihm fremd war, mir völlig unnütz erschien. Mein Fall war übrigens keineswegs eine Ausnahme. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich behaupte, daß die überwiegende Mehrheit der Kommunisten und der gebildeten Atheisten sich ebensowenig mit dem Problem des Seins nach dem Tode beschäftigt, wie ich es bis zu meinem 27. Jahre (d. h. zur Konversion, Vf.) tat. Es war für mich und alle meine Genossen selbstverständlich, daß der Tod das endgültige Ende des Individuums war, daß unser Leben und unser Tod letzten Endes nur der Gattung nützlich sein konnten“.40 Konsequenterweise ist nur der Heldentod, d. h. der Tod als „eine Art Leistung“, wie ihn Klaus Mehnert sinnvoll nennt41, erwähnenswert. Als ein Oberleutnant in Polevojs Roman „Gold“ (1950) im Kampf mit den Deutschen fiel und der alte Mitrofan mit dem jungen Mädchen Musja über das Schlachtfeld eilte, „besann sich“ das Mädchen „plötzlich, pflückte einen Strauß weißer und rosa Immortellen, kehrte zum Schützenloch zurück und legte die Blumen in den Schoß des Artilleristen. Zum ersten Mal im Leben sah sie einen Toten aus der Nähe. Erstaunt mußte sie feststellen, daß auch der Tod nicht weniger majestätisch sein konnte als das Leben“42, und zwar deshalb, weil das Gesicht des Toten „noch lebendiger und entschlossener“ erschien „als das manches Lebenden“ (S. 76). Die Entschlossenheit ist ja, wie bekannt, die Daseinsstimmung des Sowjetmenschen. Kämpft jemand entschlossen für die Sache des Kommunismus und fällt dabei, so ist nicht nur sein Leben, sondern auch sein Tod majestätisch.

Doch für einen alltäglichen Tod eines gewöhnlichen Menschen gibt es im Kommunismus kaum einen Platz: er paßt nicht in die Betonung und zum Vorrang des Lebens. „Man spricht daher über ihn so wenig wie möglich“43. Das zeigt sich besonders deutlich bei Beerdigungen, die, wie Mehnert festgestellt hat, „den Eindruck allgemeiner Verlegenheit“ erwecken: „man beeilt sich, möglichst rasch damit fertig zu werden, und geht dann schleunigst seiner Wege. Fast könnte man als Zuschauer glauben, die an einer Beerdigung Beteiligten hätten das Gefühl, etwas Ungehöriges miterlebt zu haben“ (S. 284). Das bestätigt eine Szene aus N. Atarovs „Geschichte einer ersten Liebe“ (1955). Nach der Beerdigung von Vera Nikolajevna preßte Pantjuchov „Oljas Kopf väterlich an seinen Bauch, wobei er ihr seinen Velourhut auf die Schulter legte, und rief pathetisch: ,Welch unersetzlicher Verlust! Welch unersetzlicher Verlust!' Einige Minuten später stieg er schon ins Fahrerhäuschen des Lastautos . . ., und Mitja hörte mit Schrecken, wie er fidel zu der Chauffeurin sagte: ,Na, Tante Motja, gib Gas!"44. Dieses kurze „Gib Gas!“ ist vielleicht die beste Formel, die das sowjetische Verhalten zum alltäglichen Tod ausdrückt: der Tod ist ein Zufall; er ist einem zugestoßen, die anderen aber begeben sich schleunigst zu ihrem Geschäft. So sind die Trauerfeiern für die Verstorbenen auch so kurz und monoton gestaltet, daß man in Ungarn vor einigen Jahren sogar überlegte, ob nicht pensionierte Intellektuelle verpflichtet werden sollten, interessante Grabreden bei der Beisetzung zu halten.45 Wohl besuchen die älteren Leute (vgl. 3. Kapitel, Abschnitt 5) die Gräber und zünden Kerzen an. Auch die jüngere sowjetische Generation wird stiller am Grab ihrer Lieben.46 Doch der geheimnisvolle Emst des Todes ist in der kommunistischen Welt verschwunden. „Das Sterben muß aufhören, denn es ist so schön zu leben“, schreibt Nekljudowa.47 Der Sieg des Lebens über den Tod begeistert den kommunistischen Menschen, und er singt dem Leben eine Hymne, während der Tod unmerklich beiseitegeschoben wird. Läßt er sich vorläufig noch nicht überwinden, so befindet er sich immerhin nur noch am Randes des kommunistischen Daseins gleich einer unangenehmen Erscheinung, die nicht zu vermeiden ist, die jedoch die Richtung des Daseins ebensowenig beeinflußt wie die Seekrankheit eine herrliche Ozeanfahrt.

Ob der kommunistische Mensch den Tod fürchtet? Sicher! Doch die sowjetische Erziehung bemüht sich, diese Furcht zu beseitigen. A. Makarenko erzählt in seinen Werken, er habe einen Brief von einem seiner früheren Zöglinge erhalten, in dem dieser eine Heldentat erwähne, für die er mit einem Orden ausgezeichnet worden sei. Das Wichtigste bei dieser Tat aber wäre gewesen, „daß er vor dem Tode nicht zitterte“; er teilt das nun seinem Lehrer mit und dankt ihm dafür: „Ich danke Ihnen dafür, daß Sie uns gelehrt haben, den Tod nicht zu fürchten“.48 Beim Lesen dieser Worte begriff Makarenko, daß hier „das Gesicht des neuen Menschen zum Vorschein“ kommt. Denn „lehren, den Tod nicht zu fürchten — bis zu einem solchen

Problem kann sich die bürgerliche Gesellschaft nicht erheben. Dort kann es Vorkommen, daß ein Mensch den Tod nicht fürchtet; wenn aber ein Mensch dafür dankt, daß man ihn das gelehrt hat, so ist das ein sowjetisches Thema“ (ebd.). Die Überwindung der Angst vor dem Tode soll also zum Merkmal, ja zur inneren Struktur des neuen — kommunistischen — Menschen werden. Der Eintritt des Todes soll weder gefeiert noch gefürchtet werden.

Zum Erleben des Todes als Randerscheinung des Daseins trägt auch die marxistische Auseinandersetzung mit der westlichen Existenzphilosophie wesentlich bei. Wie bekannt, spielt die Frage nach dem Tode in der Existenzphilosophie eine grundlegende Rolle, denn nur vom Tode her können wir die Endlichkeit des Daseins tief genug verstehen. Indem der Tod die äußerste Grenze des Daseins darstellt, nimmt er im existenziellen Denken einen bedeutungsvollen Platz ein und beleuchtet somit die Existenzanalytik sehr grell: im Lichte des Todes erscheint das Dasein als ein ununterbrochener Verlauf in den Tod. Eben diesen Punkt greift die marxistische Philosophie am schärfsten an, indem sie die Deutung des Todes als die eigenste Möglichkeit des Daseins für das Abbild der Stimmung des kapitalistischen, von der Geschichte selbst bereits überholten und somit zum Untergang verurteilten Menschen — dieses ehemaligen oder gewesenen Menschen — hält. Wir haben schon Lukacs in diesem Sinne zitiert. Noch leidenschaftlicher als Lukacs greift der deutsche kommunistische Denker Georg Mende die Existenzphilosophie an. Er wirft Heidegger vor, mit der Betonung des Freiseins für den Tod verdecke er die wahre Aufgabe des Menschen für das Leben: „Nach Heidegger wäre es so, als ob der Tod die Hauptaufgabe und das Hauptanliegen der Menschen geworden wäre.“49 Dagegen muß man in dieser Situation, wenn das Problem des Todes radikalisiert wird (vgl. S. 64), die Menschen „eher auf ihre Pflichten und Schuldigkeiten gegenüber dem Leben verweisen“ (S. 65). Sonst können „Leben und Mensch in der Fülle und dem Reichtum ihrer Möglichkeiten nicht erfahren werden“ (S. 64), woraus „ein unmenschliches Dasein“ entsteht; „ein Dasein, welches am Leben vorüberlebt und dieses nivelliert“ (S. 65). Deshalb warnt Mende vor dem existenzphilosophischen Erleben des Todes als vor einem „sehr gefährlichen ideologischen Rüstzeug für eine Heranwachsende studentische Jugend“ (S. 62), denn von der Existenzphilosophie erhält sie „nichts als falsche Maßstäbe, mit denen ausgerüstet sie sich im Leben nicht auszukennen vermag“ (ebd.).

Um dieselbe Zeit begannen sich auch die russischen marxistischen Denker mit der Existenzphilosophie und ihrem Verständnis des Todes scharf auseinanderzusetzen. In einem Artikel über die Entgegenständlichung der Philosophie sagt B. E. Bychovskij: „Die maniakalische Besessenheit von Todesfurcht lastet wie ein Alpdruck auf den existenzialistischen Philosophen. Die ,Existenz“ verwandelt sich in ,Leben zum Tode' (S. 149) . . .

Indem sie das Thema des Todes zum Leitmotiv ihrer Philosophie machen, gehen die Existenzialisten einen jahrtausendelang ausgetretenen Pfad. Gleich ihrer zahllosen religiösen Vorgänger sind sie bestrebt, wenn sie die Todesangst künstlich übertreiben, das Leben und vor allem den sozialen Kampf zu entwerten.“50 Das Todesmotiv diene den Existenzialisten, nach Bychovskij, „als Mittel zur Unterdrückung der Nöte und Forderungen der Existenz, als Mittel zur Herabsetzung und Mißachtung der mit normalen Bedürfnissen lebenden Wesen“. Mit einem Wort, „die Philosophie der Existenz kümmert sich nicht um eine angemessene Form der Existenz.,Gedenke des Todes“ klingt in unserer Zeit des leidenschaftlichen sozialen Kampfes mehr als je wie ein verräterischer Aufruf zum Quietismus, wie ein Versuch, den Willen zum konsequenten sozialen Kampf zu lähmen“ (S. 150). Das, was früher die Religion mit ihrem Hinweis auf das ewige Glück im Himmelt tat, tut nun die Existenzphilosophie mit dem Hinweis auf das Sein-zum-Tode als die eigentliche Möglichkeit des Menschen.

Dasselbe wiederholte zwei Jahre später die russische Philosophin A. I. Vladimirova in ihrem Artikel über die Philosophie des Todes und der Vernichtung.51 Ihre Vorwürfe, die sie gegen die Ontologisierung des Todes in der Existenzphilosophie des Westens erhebt, decken sich mit denen von Lukacs, Mende und Bychovskij vollständig. „In unseren Tagen“ schreibt sie, „ringen zwei Ideologien miteinander um das Recht der Herrschaft über das Denken (nad umami): die Ideologie des Untergangs, des Todes und des Zerfalls und die Ideologie des Lebens, der Schöpfung, der Arbeit und des Aufbaus“ (S. 75). Es ist leicht zu erraten, daß die Ideologie des Lebens und des Aufbaus eben der dialektische Materialismus vertritt, weil er „die Theorie der unendlichen Entwicklung und beständigen Bewegung ist“ (S. 75). A. Vladimirova setzt sich scharf mit allen westlichen Denkern auseinander, die in den dialektischen und den historischen Materialismus das Ende der Bewegung, mag diese als naturhafter oder historischer Prozeß verstanden werden, hineininterpretieren und dann die marxistische Dialektik kritisieren, denn „das Wesen der Dialektik liegt in der unendlichen Entwicklung“ (S. 78). Weder das Proletariat, noch seine Partei, noch der Marxismus erheben Anspruch, „die Geschichte zu vollenden“; im Gegenteil, der Marxismus widersprach immer derartiger Anmaßung und bewies, „daß gerade die Idee des Endes die Dialektik drosselt, tötet und aufhebt“ (S. 78). Die Verabsolutisierung des Todes sowohl in der Existenzphilosophie als auch in der christlichen Weltanschauung gehört, nach Vladimirova, ebenso zu dieser Idee des Endes und widerspricht somit der marxistischen Weltanschauung von Grund auf. Der Marxismus erkennt nicht die Absolutheit des Todes an; er hält nicht die Endlichkeit des Daseins für den Existenzmodus des Menschen und sieht nicht den Sinn des geschichtlichen Prozesses in dessen Vollendung (vgl. S. 79). Das Leben und die Bewegung, die endlos vor sich gehen, sind eben das, was für das Dasein des Menschen, nach der marxistischen Auffassung, kennzeichnend ist. und nicht der Tod und das Ende oder die Vollendung.

Allen diesen Kritikern der existentialistischen und der christlichen Auffassung vom Tode ist eines gemeinsam: sie alle treten als Verteidiger des Lebens gegen den Tod auf. Nicht der Tod sei der Mittelpunkt des menschlichen Daseins, sondern das Leben; nicht auf den Tod hin soll der Mensch erzogen werden, sondern für das Leben; nicht der Tod macht das Dasein sinnvoll, sondern eine erfüllte Lebensaufgabe. Der Tod ist das Überbleibsel aus dem vom Menschen noch nicht ganz gewonnenen Kampfes mit der naturhaften Gesetzmäßigkeit; er ist deshalb rein kosmologischen und nicht ontologischen Charakters. Der Tod soll eigentlich überwunden werden wie alles, was den Menschen in seiner Existenz im Sinne der Freiheit hindert. Konsequenterweise besteht die Weisheit des Menschen nicht im Denken an den Tod, sondern in der immer tieferen Einsicht in die Herrlichkeit und Unendlichkeit des Lebens.

Diese Einstellung ist der Grund, warum der Selbstmord in der Sowjetunion stets verpönt und in der Literatur nie geschildert wird. Er wird nur als völlig negative und daher abzulehnende Tatsache hie und da kurz erwähnt, doch immer als Feigheit, ja Fahnenflucht des Menschen. Wer Selbstmord begeht, beweist damit, daß er ein sinnloses Leben geführt hat, d. h. sich lediglich um sich selbst gekümmert hat. Gerade dieser Gedanke bewahrt Tina, eine unglückliche und unglückbringende Frau in der Erzählung G. Nikolajevas „Schlacht unterwegs“52 (1957), vor dem Selbstmord. In ihrer Verzweiflung und Enttäuschung über die Nutzlosigkeit ihrer „blühenden, heißen Schönheit“ denkt Tina an Tolstojs Anna Karenina und will, wie diese, „unter einen Zug“ gehen (S. 145). Doch eine unbekannte Kraft treibt sie „nicht unter die Räder eines Zuges, sondern in einen Zug“ (S. 146); eine Kraft, die eben im Sinn des Lebens wurzelt. Tina hätte keine Angst vor dem Tode selbst, aber dieser Tod sollte eine Leistung sein: „Wäre es ein sinnvoller Tod — im Kampf, bei einem wissenschaftlichen Experiment oder um jemanden zu retten, dann wäre ich sofort dazu bereit. Aber so ist es sinnlos! Ein sinnloser Tod ist das Ende eines sinnlosen Lebens“ (ebd.). Das sollte aber nicht sein. „Tinas Leben konnte kompliziert, schwierig, restlos mit Freuden und Nöten angefüllt sein, bloß sinnlos konnte es nicht sein . . . Die Welt ist immer noch so eingerichtet, daß das Beste erkämpft werden muß, sich im Kampf durchsetzen muß ... Im Kampf (aber) gibt es nicht nur Siege, sondern auch Schweiß und Schmerz. Alles, nur keine Sinnlosigkeit!“ (S. 146). Deshalb warf sich Tina nicht unter die Räder des Zuges wie Anna Karenina.

Nimmt sich jemand das Leben trotzdem, so wird er als Feigling und deshalb einer Ehrung nach dem Tode nicht für würdig erachtet. Als sich ein Junge in der von A. Makarenko geleiteten Jugendkolonie erhängte, lehnten die anderen Jungen ab, die Ehrenwache an seinem Sarg zu halten; manche nahmen sogar am Begräbnis nicht teil. Ihre Einstellung zu Tschobot — so hieß der Junge — formulierten sie folgendermaßen: „Tschobot war kein Mensch, sondern ein Sklave . . . Streicht ihn aus der Liste! Man muß an den kommenden Tag denken“.53 Das heißt: er ließ sich von der Liebe zu einem Mädchen versklaven, und da er dieses Mädchen nicht besitzen konnte, schied er aus dem Leben als Sklave seiner Ohnmacht. Der Sowjetmensch ist aber der Herr nicht nur der Welt, sondern auch seiner selbst; folglich nimmt er sich das Leben nicht; er beherrscht es.

Was ist nun der Tod in sich selbst nach der sowjetischen Auffassung? Nach der Lehre des dialektischen Materialismus existiert jedes Wesen nur dadurch, daß es in ihm eine Spannung zwischen seinen inneren Gegensätzen gibt, die es am Leben erhalten und zur Entwicklung treiben. Wird diese Spannung aus irgendeinem Grund gestört, so löst sich das Wesen in seine Bestandteile auf. Dieses allgemeine Gesetz gilt auch im Bereich des Lebendigen. Auch der Organismus ist ein Spannungsfeld, auf dem die Gegensätze kämpfen. Solange sie kämpfen, lebt der Organismus. Hört dieser Kampf auf, so stirbt er. „Das Leben“, sagt Mao Tse-Tung, „ist ebenfalls ein in den Dingen und Vorgängen selbst vorhandener, sich stets setzender und lösender Gegensatz, und sobald der Gegensatz aufhört, hört auch das Leben auf: der Tod tritt ein“.54 Der Tod ist, nach dem dialektischen Materialismus, Aufhebung der Spannung der Gegensätze im Organismus.

Auf den Menschen angewandt, bedeutet der Tod die Rückkehr in die Natur, aus der der Mensch entstanden ist. Durch den Sprung aus der Notwendigkeit in die Freiheit gewann die Materie das Selbstbewußtsein und objektivierte sich in der Form eines Wesens, das wir den Menschen nennen. Im Moment des Todes verliert der individuelle Träger des neuen Prinzips das Selbstbewußtsein und sinkt somit auf die niedrigere Stufe der Notwendigkeit wieder zurück: die Natur holt den Menschen im Tode heim. Das hat mit aller Deutlichkeit der sowjetische Schriftsteller Valentin Katajev in seinem bekannten Roman, betitelt nach einem Gedicht Lermontovs, „Es blinkt ein einsam Segel“ (1936) geschildert. Beschreibungen des Sterbens sind in der sowjetischen Literatur sehr selten. Deshalb ist das Bild des Sterbens eines alten Fischers bei Katajev um so lehrreicher. Alle Grundideen des dialektischen Materialismus kommen in dieser Beschreibung zum Ausdruck. Solange der Fischer lebte, hatte das Bewußtsein „alles von ihm getrennt, was außerhalb seiner selbst lag“ (S. 260), denn das Bewußtsein ist es, das den Menschen aus der Natur herauslöst und individualisiert. Nun, im Moment des Sterbens, schwindet das Bewußtsein des alten Fischers allmählich, und die Scheidewand zwischen ihm und der Natur schiebt sich langsam beiseite. „Es war, als vergehe er in der ihn umgebenden Welt, als löse er sich auf in Gerüche, Töne und Farben. Auf und ab gaukelnd, flatterte ein Kohlweißling mit zitronengelben Äderchen auf den kremfarbenen Flügeln dahin — und der Großvater war eins mit dem Schmetterling und seinem Flug. Eine Welle zerschellte im Uferkies — und ihr frisches Rauschen war er. Seine Lippen wurden salzig von dem Tropfen, den der Wind gebracht — und er war Wind und Tropfen zugleich. In den Pusteblumen saß ein Kind — und er war dieses Kind und gleichzeitig auch eine dieser glänzenden kükengelben Blumen, nach der sich die Kinderhändchen ausstreckten. Er war Segel, Meer und Sonne. Er war alles“.55 Das Zerfließen und Zerschmelzen ist das Sinnbild, durch das der Tod als Prozeß bei Katajev wieder gegeben wird. Der Mensch geht aus dem All hervor und kehrt in das All zurück.

In dieser Hinsicht stehen der Tod des Menschen und der des Tieres auf derselben Ebene. Eine aufschlußreiche Parallele dieser Art finden wir bei E. Kazakevic in seinem Kriegsroman „Frühling an der Oder“ (1949), für den er den Stalinpreis (1950) bekommen hat. „Aus der hintersten Ecke blickte ihn ein Hund an, ein riesengroßer Bernhardiner. Er bewegte sich, stand aber nicht auf; schnaufte nur. Das alte Tier lag im Sterben“ (S. 311). Und ein wenig später: „Der Graben, in dem die Soldaten hockten, war gar nicht tief. Ein sterbender Soldat lag neben ihm und sprach mit versagender Zunge“ (S. 339).56 Das Schnaufen eines sterbenden Hundes und das Lallen eines sterbenden Soldaten laufen in dieser Beschreibung (genauer: in dieser Erwähnung, denn die zitierten Sätze sind alles, was Kazakevic vom Sterben sagt) so eng parallel, daß sie beinahe mit denselben Worten ausgedrückt werden: es ist ja der gleiche Vorgang, nämlich die Entspannung der Gegensätze im Organismus des Tieres und des Menschen; eine Entspannung, die immer und überall nach derselben Art und Weise vor sich geht. Keine Tragik, keine Trauer! Der Tod ist „ein wesentliches Moment des Lebens“; als „Negation des Lebens“ ist er „wesentlich im Leben selbst enthalten.“57 Nimmt diese Negation überhand, so tritt die „Auflösung des organischen Körpers“ ein, „der nichts zurückläßt als die chemischen Bestandteile, die seine Substanz bildeten“ (ebd.). Infolgedessen kann das Leben, wie auch jeder andere Gegensatz, nur gedacht werden in bezug „auf sein notwendiges Resultat, der stets im Keim liegt, den Tod. Weiter ist die dialektische Auffassung des Lebens nichts“.

37 G. Marcel, Geheimnis des Seins, S. 470—471.

38 G. Lukacs, Existenzialismus oder Marxismus?, S. 48.

39 Aussprache über die Dichtkunst. Sowjetisch-italienisches Dichtertreffen in Moskau, in „Sowjetliteratur“, 1959, Nr. 2, S. 147—148.

40    1. Lepp, Von Marx zu Christus, S. 314.

41    K. Mehnert, Der Sowjetmensch, S. 284.

42    B. Polewoi, Gold, S. 75.

43    K. Mehnert, a. a. O., S. 284.

44   N. Atarow, Geschichte einer ersten Liebe, S. 43.

45   Vgl. Christ und Welt, 1960, Nr. 30, S. 6.

46 Vgl. W. Dudinzew, Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, S. 75—76.

47   O. Nekljudowa, Katja erobert junge Herzen, S. 314.

48 A. S. Makarenko, Werke, Bd. V, S. 375.

49 G. Mende, Studien über die Existenzphilosophie, Berlin 1956, S. 62—65.

50   B. E. Bychovskij, Raspredmecivanie filosofii (Die Entgegenständlichung der Philosophie), in „Voprosy filosofii“, 1956, Nr. 2, S. 149—150.

51   A. I. Vladimirova, Protiv ,ontologiceskoj“ filosofii smerti i unictozenija (Gegen die .ontologische“ Philosophie des Todes und der Vernichtung), in „Voprosy filo-sofiii“, 1958, Nr. 10, S. 75-87.

52 G. G. Nikolajewa, Schlacht unterwegs, in „Sowjetliteratur“, 1958, Nr. 10, S. 3-158.

53   A. S. Makarenko, Der Weg ins Leben, Berlin 1955, S. 431—433.

54   Mao Tse-Tung, Ausgewählte Schriften, Berlin 1956, Bd. I, S. 361.

55 V. Katajew, Es blinkt ein einsam Segel, Berlin 1956, S. 260.

56    E. Kasakewitsch, Frühling an der Oder, Berlin 1956, S. 511, 539.

57    Fr. Engels, Dialektik der Natur, S. 514.

 

4. Die Überwindung des Todes

Mit diesen Worten will Engels die fundamentale These der marxistischen Anthropologie ausd rücken, nämlich: es gibt keine Unsterblichkeit im metaphysischen Sinne; der Mensch hinterläßt nach dem Tode kein Lebensprinzip, das den Moment des Sterbens überdauert. Die Unsterblichkeit der Seele, wie sie von der Metaphysik verstanden wird, sei nur ein leeres Gerede, ein uralter Aberglaube, der mit „der Dialektik über die Natur von Leben und Tod“ als notwendige Gegensätze beseitigt wird; „Leben heißt Sterben“58; Sterben ohne die leiseste Hoffnung auf die weitere Existenz. Von der Unsterblichkeit des Menschen kann man im Marxismus nur entweder rein biologisch als Fortleben in der Nachkommenschaft oder rein geistig als Fortleben in den Werken, nicht aber ontologisch als Fortleben der Person sprechen. Denn die Annahme der personalen Unsterbhchkeit des Menschen würde sofort die Annahme einer anderen, nämlich transzendenten Daseinsebene nach sich ziehen und das ganze Gebäude der marxistischen Seinsinterpretation zum Einsturz bringen. Die Idee der Unsterblichkeit paßt in diese Interpretation genauso wenig wie die Idee Gottes.

Und doch sprechen die marxistischen Denker und Dichter von der Unsterblichkeit, und zwar nicht nur im biologischen oder geistigen Sinne, sondern auch von der Unsterbhchkeit des einzelnen. Eine Reihe von sonderbaren Ausdrücken, die wir bereits zitiert haben, fallen uns in der sowjetischen Literatur auf, sobald wir sie im Lichte der dialektischen Auffassung vom Tode als Gegensatz zum Leben etwas aufmerksamer betrachten: „Das Sterben muß aufhören“ (O. Nekljudova), das sowjetische Land ist intensiv bedacht „auf die persönliche Unsterblichkeit im direktesten Sinne dieses Wortes“ (I. Zelvinskij) usw. Was bedeuten diese Ausdrücke? Selbstverständlich nicht die metaphysische Unsterblichkeit. Der Mensch ist in seiner Natur ganz und gar sterblich; er besitzt nichts, was übrigbleibt, wenn der Tod eintritt. Muß der Tod unbedingt eintreten? Das heißt: muß der Tod als Negation des Lebens unbedingt den Kampf gewinnen? Das Leben ist doch, genetisch betrachtet, eine spätere Erscheinung als der Stoff, dessen Gesetze dem Leben widersprechen. Sollte es sich nicht auch als stärkerer Gegner im Kampf mit seiner Negation erweisen? Das Neue siegt ja, nach der Lehre des Marxismus, immer und überall. Warum sollte das Leben gerade eine Ausnahme bilden? Kann der Mensch zu diesem Sieg des Lebens über den Tod wirklich nichts beitragen? Schon diese Fragen allein zeigen uns, daß die Unsterbhchkeit im Marxismus einen ganz anderen Sinn hat als in der Metaphysik: sie west nicht im Wesen des Menschen als Geistperson, sondern sie kann möglicherweise die Errungenschaft des Menschen selbst werden. Denn der Mensch als der siegende Gegensatz zur Natur sollte eigentlich nicht sterben, und zwar deshalb nicht, weil er sich selber von Anfang an am Leben erhält. Warum sollte er diese Erhaltung nicht verewigen können? Auf den ersten Blick erscheinen solche Gedanken als völlig abstrus. Und doch sind sie nur eine logische Fortentwicklung der Auffassung von der Stellung des Menschen in der Natur, wie der Marxismus sie deutet.

Wir haben schon gesagt (vgl. I. Kapitel), daß der Mensch sein Dasein im Sinne der einfachen Gegebenheit von der Natur bekommt: der religiösen Lehre von der Erschaffung des Menschen durch Gott, die die sowjetischen Denker „eine lügenhafte Theorie“ (A. Furman) nennen, stellt der Marxismus seine eigene These von der Entstehung des Menschen aus der Natur entgegen. Der Mensch verdankt sein Dasein auf der Erde nicht einem speziellen Akt des Schöpfers, sondern der ewigen Wandlung der Welt, die aus einer Form der materiellen Bewegung in immer neue, immer kompliziertere Formen übergeht und schließlich ein bewußtes Wesen als „höchste Blüte“ (Fr. Engels) und „Krone der biologischen Entwicklung“ (A. Oparin) hervorbringt. Doch dieses einfache Dasein als bloßes Faktum des Existierens würde von denselben Naturkräften sofort zurückgenommen, wenn der Mensch nicht fähig wäre, sich selbst durch seine eigene Tätigkeit am Leben zu erhalten. Die Natur als Gegensatz greift den Menschen pausenlos ein, und dem Menschen bleibt nichts anderes, als dieses ewige Ringen mit Naturgewalten auf sich zu nehmen und entweder den Kampf zu gewinnen oder zugrunde zu gehen.

In diesem Ringen gibt es aber zwei Momente, die wir sorgfältig unterscheiden müssen, um die Stellung des Menschen in der Welt zu verstehen. Indem der Mensch selbst handelt und somit der Gefahr der Vernichtung durch die Natur entgeht, erhält er sich am Leben. Das ist das erste Moment in dem genannten Ringen. Andererseits erzeugt der Mensch eine Lebensform, die sein Dasein von dem des Tieres radikal unterscheidet. Das Tier bekommt sein Dasein ebenfalls von der Natur wie der Mensch; es ist auch ein Produkt der Wandlung der Materie. Doch mit dem Dasein als einfachem Faktum des Existierens bekommt das Tier von der Natur auch die Form, in der es weiter existiert. Das Tier kommt auf die Welt bereits bestimmt und festgelegt: als ein Wassertier, als ein Raubtier, als ein Baumkletterer usw. Der Mensch bekommt dagegen von der Natur nur das bloße Dasein und nicht die Form dieses Daseins. Die Form, in der er auf der Erde weiter existiert, muß er selbst schaffen. Anders gesagt, der Mensch erhält sich am Leben, das ihm die Natur schenkt, und er schafft eine Lebensform, die ihm die Natur nicht schenkt. Die Schöpfung einer Lebensform, in der der Mensch existiert, bildet das zweite Moment im Ringen mit der Natur. Dieses Ringen gewinnt der Mensch, indem er sich am Leben erhält und das Leben nach seinem eigenen Willen gestaltet.

Beim näheren Betrachten stellen wir jedoch fest, daß diese zwei Momente einander bedingen. Der Mensch muß zwar das Leben schon haben, um es gestalten zu können. Aber er muß das Leben gestalten, um es erhalten zu können. Auf die Frage also, wodurch sich der Mensch im Kampf mit der Natur erhält, gibt es nur eine Antwort: dadurch, daß er dem Leben eine Form gibt. Das Leben ermöglicht seine Gestaltung, doch die Gestaltung ermöglicht seine Erhaltung. Die Gestaltung des Lebens erweist sich als Grundlage für seine Erhaltung. Da der Mensch sich der Natur nicht anpaßt wie das Tier, kann er in der Welt nur in der Form existieren, die er sich selbst gibt. Der Mensch schafft sich Bekleidung, Behausung, Nahrung, Bildung, Technik, d. h. eine gewisse Form seines Lebens, und kraft dieser Form entgeht er den sein Leben bedrohenden Naturkräften, ja, er unterwirft diese Kräfte seinen eigenen Zielen. Die Existenz des Menschen auf der Erde ist daher seine eigene Schöpfung. Eben in diesem Sinne spricht der Marxismus vom Menschen als Selbstschöpfer.

Bei dieser Selbstschöpfung geschieht jedoch etwas Merkwürdiges: nach einer gewissen Zeit der Erhaltung des Lebens durch dessen Gestaltung stirbt der Mensch. Der Tod des einzelnen ist uns so vertraut, daß wir das Sterben als selbstverständlich hinnehmen und uns nicht im geringsten darüber wundem. In Wirklichkeit aber ist der Tod das Erstaunlichste, was dem Menschen geschieht. Wieso soll der Mensch eigentlich sterben, wenn er die Natur durch die Gestaltung seines Lebens besiegt und sich ihren vernichtenden Kräften einige Zeit als Individuum und eine vorerst unbegrenzte Zeit als Art widersetzt? Wir stehen hier vor einem Rätsel: einerseits erhält sich der Mensch am Leben, andererseits stirbt er; einerseits siegt er über die Natur, andererseits verliert er den Kampf und wird vernichtet. Was bedeutet all das? Was bedeutet der Tod im Prozeß des Ringens des Menschen mit der Natur und seines Sieges über ihre Gewalten?

Der sowjetische Naturphilosoph A. E. Furman deutet den Tod in dieser Hinsicht als Sieg der Umwelt über den Organismus. Der Organismus des Tieres erkämpft sein Dasein dadurch, daß er sich der Umwelt anpaßt. Doch diese Anpassung ist nie so vollständig und tiefgehend, daß sie die Umwelt in ihrer Gesamtheit umfassen und das Tier somit von den vernichtenden Kräften vollständig schützen könnte. Zum Beispiel: ein Wassertier ist vollkommen auf das Schwimmen eingestellt; sein ganzer Organismus ist zu einem Schwimmgerät geworden; die Wasserkräfte, insofern diese für das Schwimmen notwendig sind, beherrscht das Wassertier vollkommen. Doch im Wasser als Lebensraum des Wassertieres walten verschiedene Naturkräfte. Sie alle wirken auf den Organismus und kämpfen mit ihm. Nun ist das Wassertier auf diese anderen Kräfte der Natur nicht oder kaum spezialisiert, so daß es sie nicht vollständig beherrscht und deshalb mit der Zeit von ihnen besiegt wird. Ein Wassertier stirbt nicht deshalb, weil es im Wasser ertrinkt, sondern weil es entweder von außen zerstört oder von innen durch andere Kräfte — nicht durch die des Schwimmens — geschwächt wird. Der Organismus kämpft mit dem Tode, nach Furman, dadurch, daß er sich vermehrt, d. h. einem anderen Individuum das Leben weitergibt. Das Leben behauptet sich im Tierreich nur in der Gestalt der Art, nicht aber in der Gestalt des Individuums. Es stirbt jedoch auch die Art, obwohl ihr Kampf mit dem Tode viel länger dauert als der des einzelnen. Denn auch die Art paßt sich der Umwelt nicht so vollkommen an, daß sie aller Bedrohung entgehen könnte. Aus diesem Grund gibt es für den Organismus keine Hoffnung, den Tod einmal zu besiegen. Der Tod ist das Schicksal der lebendigen Natur, zugleich aber auch ein Beweis dafür, daß das Tier der verlierende Gegensatz im Kampf mit der Natur ist.59

Es stirbt aber auch der Mensch. Hat das Sterben des Menschen denselben Charakter wie das des Tieres? Wir fragen hier danach nicht im subjektiven Sinne. Es interessiert uns an dieser Stelle nicht die Tatsache, daß der Mensch um sein Sterben weiß und den Tod deshalb immer vor sich hat, während das Tier davon nichts weiß und den Tod deshalb immer hinter sich hat, der es dann gleichsam wie aus einem Hinterhalt überfällt. Uns interessiert hier nur die objektive Seite der Erhaltung des Lebens. Denn der Tod tritt ja erst dann ein, wenn die Erhaltung des Lebens versagt. Nun erhält sich das Tier am Leben durch seine Lebensform, die es von der Natur bekommt und die wir im allgemeinen als Anpassung bezeichnen. Da diese Form nur einen Teil der Naturkräfte umfaßt, kann sie nicht den Sieg über die Gesamtheit erringen. Dagegen schafft der Mensch selber die Form, in der er auf der Erde existiert, und nur in dieser Form erhält er sich am Leben. Der Tod tritt dann ein, wenn diese Form versagt. Insofern gehen das Tier und der Mensch denselben Weg: der Tod besteht im Versagen der Form, durch die der Organismus den Kampf mit der Umwelt führt. Da diese Form dem Tiere von der Natur gegeben ist, kann es nichts unternehmen, um sein Leben zu verlängern oder gar zu verewigen. Das Tier ist der Natur total ausgeliefert. Indes bringt der Mensch selbst seine Lebensform hervor. Versagt diese Form auch, so ist das nicht das Versagen von etwas Schicksalhaftem, sondern das des menschlichen Werkes. Das Versagen der menschlichen Lebensform, in der er einige Zeit am Leben bleibt, bedeutet nicht das Unvermeidliche, wie beim Tier, sondern nur das Unvollkommene, das jedesmal verbessert werden kann und tatsächlich verbessert wird. Die Form, in der der Mensch sich einige Zeit am Leben erhält, ist doch das Resultat seiner Erkenntnis der Natur. Der Mensch weiß immer mehr, was ihn seitens der Umwelt bedroht, deshalb wirkt er ihren Kräften entgegen, indem er dieses Wissen in einem Werk objektiviert. Einige Zeit lebt er in dieser von ihm selbst erzeugten Schöpfung verborgen und sicher. Mit der Zeit zeigt es sich jedoch, daß diese seine Schöpfung nicht so vollkommen ist, daß sie die Erhaltung des Lebens für immer gewährleisten könnte. Das besagt, daß die vom Menschen erzeugte Lebensform die vernichtenden Kräfte der Natur nicht tief und breit genug abwehrt, und zwar deshalb, weil der Mensch entweder diese feindlichen Kräfte nicht genug kennt oder seine Kenntnisse nicht vollkommen genug objektiviert. In jedem Fall steht ihm der Weg offen, folglich ist auch die unbegrenzte Vervollkommnung seiner Lebensform möglich. Ist aber der Tod das Versagen der Form, in der der Organismus sich am Leben erhält, so bedeutet das, daß der Tod des Menschen nur die Folge einer unvollkommenen Kenntnis der Natur darstellt.

Doch diese Kenntnis wächst sowohl quantitativ als auch qualitativ: der Mensch erkennt die Natur immer umfassender und immer tiefer. Dementsprechend ändert sich auch die Lebensform des Menschen: sie bleibt nie fixiert wie beim Tier; sie wird jeweils von neuem nach besseren Kenntnissen der Natur geschaffen. Die menschliche Erhaltung des Lebens ist kein Zustand, sondern ein Prozeß, der stets Fortschritte macht. Somit macht auch die Fähigkeit der menschlichen Lebensform, den Tod abzuwehren, Fortschritte. Das Walten des Todes wird immer mehr eingeschränkt, und zwar durch die Tätigkeit des Menschen selbst. Niemand kann leugnen, daß das Leben der Menschen in hochkultivierten Ländern im Laufe von etwa 150 Jahren auf das Zweifache verlängert und das extensive Walten des Todes auf das Zehnfache verringert worden sind. Die gewaltige Explosion bei der Vermehrung der Menschheit ist nicht auf die durch die Natur vergrößerte Zeugungskraft des Lebens, sondern auf die durch die Kultur verringerte Macht des Todes zurückzuführen. Das ist das Werk des Menschen selbst.

Aus diesen nicht zu leugnenden Tatsachen der Gegenwart schließen die sowjetischen Denker auf die Zukunft und sehen darin gerade die Voraussetzung dafür, den Tod endgültig zurückzudrängen. Denn der Prozeß der Erkenntnis der Natur geht unaufhaltsam und immer rascher vorwärts, die Folge davon ist die fortschreitende Vervollkommnung der menschlichen Lebensform. Die Vervollkommnung der Lebensform bedeutet aber auch die Vervollkommnung der Erhaltung des Lebens selbst oder des Kampfes mit dem Tod. Grundsätzlich ist es daher nicht ausgeschlossen, daß diese Vervollkommnung eines Tages so groß wird, daß der Tod nur noch als Möglichkeit, nicht mehr als unvermeidliche Wirklichkeit besteht. Die sowjetischen Denker, Politiker und Wissenschaftler versuchen nun, dieses Problem nicht nur praktisch anzupacken, indem sie bessere Bedingungen für die Erhaltung des Lebens schaffen, sondern es auch theoretisch zu vertiefen, indem sie den Prozeß des Alterns neu durchdenken und analysieren.

Im Programm der kommunistischen Partei Rußlands vom Jahre 1961 lesen wir über die Bereitschaft des sozialistischen Staates, durch „ein großangelegtes Programm“ nicht nur „Krankheiten vorzubeugen und ihre Zahl zu verringern“, sondern auch „das Leben noch mehr zu verlängern“.60 Über die Vorbeugung gegen oder die Eindämmung von Krankheiten sprechen auch westliche Programme. Aber sie erwähnen gewöhnlich nicht die Verlängerung des Lebens, denn das ist die Folge der Bekämpfung der Krankheiten, nicht aber der Zweck eines politischen Programms. Dagegen setzen die kommunistischen Staatsmänner die Verlängerung des Lebens als Zweck und sprechen darüber in ihrem offiziellen Programm. Das ist eines der vielen Zeichen dafür, wie naturhaft der Kommunismus den Tod betrachtet und wie intensiv er das Leben durch die Tätigkeit des Menschen selbst verewigen will. Ist der Tod nichts Ontologisches, so sind die konkreten Bemühungen des Kommunismus durchaus berechtigt.

Theoretisch gehen die sowjetischen Wissenschaftler an das Problem der Unsterblichkeit von der Seite des Altems heran. In einer in dieser Hinsicht sehr bemerkenswerten Studie über die Dialektik des Organismus untersucht der sowjetische Biologe L. P. Plusc das Altern als „einen gesetzmäßigen, notwendigen Prozeß“.61 Das ist nichts Neues, denn auch im Westen wird das Altern als notwendiger und gesetzmäßiger Prozeß gedeutet. Der Unterschied besteht jedoch in der Auswertung der Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit, dem das Altem gehorcht. Während die Notwendigkeit im Westen gewöhnlich mit der Unvermeidlichkeit, d. h. der Aufhebung der Freiheit, gleichgesetzt wird, bildet sie, nach der sowjetischen Auffassung, gerade die Grundlage der Freiheit des Menschen auf dem entsprechenden Gebiet. Der Mensch kann erst auf dem Boden des Notwendigen frei werden. Das betrifft auch den Tod. Will der Mensch vom Tode frei werden, so kann er das erst dann erreichen, wenn der Eintritt des Todes ein notwendiger und gesetzmäßiger Prozeß ist. Was damit gemeint wird, zeigen die weiteren Worte von L. P. Plusc: „Wenn das Altern oder Absterben sich als gesetzmäßiger, notwendiger Prozeß erweist“, fragt er, „sind dann der Mensch und die Wissenschaft nicht machtlos gegenüber diesem Prozeß? Ja, machtlos, solange der Prozeß des Alterns nicht genügend erkannt ist. Wenn er aber genügend erkannt wird, so werden dann auch Folgerungen daraus gezogen und Methoden geschaffen, die den Menschen ermöglichen, sich in diesen Prozeß einzuschalten, ihn zu verändern und den Organismus umzubauen. Der Agnostizismus, der Fatalismus, die Machtlosigkeit gegenüber der Natur sind bürgerliche, nicht aber marxistische Einstellungen. Der Prozeß des Alterns verläuft nach seinen biologischen Gesetzen nur so lange, wie sich die höhere, soziale Macht, d. h. der Mensch, mit Wissenschaft und Technik ausgerüstet, nicht einmischt. Wirkt aber der Mensch auf den Prozeß ein, so werden seine Gesetze zwar nicht aufgehoben, aber ihre Wirkungsform wird radikal geändert“ (S. 314). Plusc entwickelt seinen Gedanken von der Überwindung des Todes durchaus im Sinne des historischen Materialismus, der die Freiheit des Menschen nicht in der Aufhebung der Notwendigkeit, sondern in der Veränderung ihrer Wirkungsform sieht. Genauso verfährt der Mensch auch im Kampf mit dem Altern als notwendigem Naturprozeß. Der Mensch erkennt die Gesetze des Altems, und auf Grund dieser Erkenntnis verändert er die Form ihrer Wirkung, so daß sie nach dem Willen des Menschen und nicht mehr nach der blinden Natur wirken. Das ist das allgemeine Vorgehen des Menschen im Kampf mit der Natur, wobei er früher oder später zum überlegenen Sieger wird.

Das Altern hält Plušč nicht für einen Rückschritt oder eine Involution der Natur (vgl. S. 313). Die Entwicklung des Organismus geht auch beim Altern vorwärts, aber sie geht nach den blinden Gesetzen, die die menschliche Gestalt genauso zerstören, wie die immer weiter fortgetriebene Entwicklung des Eckzahns beim Säbellöwen oder der Stoßzähne beim Mammut ihre Arten zerstört hat.62 Ist diese Entwicklung weit fortgeschritten, so kann man sie nicht mehr zurückdrehen: „Die produzierende Entwicklung ist irreversibel“, sagt Plusc (S. 314). Die Aufgabe der Wissenschaft besteht in dieser Hinsicht nicht darin, „einen Greis zum Jüngling zu machen; das ist unmöglich“ (ebd.), sondern die biologische Entwicklung auf der Stufe des Reifealters zu stabilisieren und zu fixieren. Der Kampf mit dem Altem und nicht der Kampf um die Verjüngung des Alten soll, nach Plusc, der Wegweiser für die Bestrebung der Wissenschaft auf diesem Gebiete sein. Das ist der Kampf nicht um die Erhaltung des Lebens im allgemeinen, wie dies bisher der Fall war, sondern um die Erhaltung des Lebens in seiner Blütezeit. Wird dieser Kampf gewonnen werden, so werden die Entwicklung des menschlichen Organismus in seiner Reife fixiert, das Altem abgewehrt und der Tod entfernt. Der Tod bleibt dann nur als äußere Möglichkeit, nicht aber als innere Notwendigkeit wie heute. Die äußere Möglichkeit des Todes, durch die Einwirkung mechanischer Faktoren verursacht, ist jedoch viel leichter zu vermeiden, was schon heute gelingt. So wird der Mensch zum Sieger über den Tod.

Welchen Charakter hat nun diese vom Menschen selbst geschaffene Unsterblichkeit? — Wie erwähnt, ist die Unsterblichkeit des Menschen im Marxismus die Errungenschaft des Menschen selbst als höchster Sieg über die Natur, wobei der Mensch sich nicht nur die Form seines Lebens schafft, sondern diese Form auch ewig erhält. Nun ist jedes Werk des Menschen ein Zusammenspiel von Notwendigkeit und Freiheit: Die Notwendigkeit bildet dabei die Grundlage, doch so, daß sie durch ihre Wirkung den Zwek-ken des Menschen entspricht. Dasselbe vollzieht sich auch bei der Verwirklichung der Unsterblichkeit. Auch hier wirkt die Natur mit all ihrer Macht. Aber der Mensch organisiert diese Wirkung so, daß die Kräfte der Natur selbst das Eintreten des Alterns hemmen und somit den Wunsch des Menschen, ewig jung zu bleiben, erfüllen. Das, was die Natur von selbst 30—40 Jahre lang zu tun pflegt, soll sie nun unter der Einwirkung und Kontrolle des Menschen ewig tun. Das bedeutet, daß der Mensch die Unsterblichkeit als eine eigene Leistung stets zu vollziehen hat, und zwar genauso, wie er bei der Schöpfung seiner Lebensform und der Setzung seines Lebenssinnes vorgeht. Wie die menschliche Lebensform immer von neuem gesetzt und wie der Lebenssinn jeder Epoche von neuem gegeben werden müssen, so muß auch die Unsterblichkeit immer von neuem erkämpft werden. Wenn auch der Mensch der Zukunft, dieser neue Mensch des Kommunismus, wissen wird, auf welche Art und Weise er den Kampf mit dem Tode gewinnen kann, so wird er den entsprechenden Akt dieses Sieges stets neu vollziehen müssen, um ewig jung am Leben bleiben zu können. Die Unsterblichkeit als Errungenschaft des Menschen bedeutet keineswegs, daß dieser bereits als unsterblich auf die Welt kommen wird. Das ist keine ontologische Unsterblichkeit, wie sie der Seele von der Metaphysik zugeschrieben wird (non posse mori); das ist auch keine eschatologische Unsterblichkeit, wie sie die christliche Offenbarung nach dem Ende der Welt verkündet; das ist eine wesentlich kosmologische, vom Menschen selbst hervorgebrachte und von ihm auch weiterhin verwaltete Unsterblichkeit (posse non mori). Sie ist und bleibt eine Schöpfung des Menschen allein; eine Schöpfung, die auf dem Wege der Kultur erreicht und deshalb auch nur kraft der Kultur bewahrt werden kann. Denn die Natur als Gegner des Menschen wird in ihm immer bleiben und ihn deshalb auch immer bekämpfen. Folglich wird auch der Mensch diesen Kampf immer auf sich nehmen und ihn ertragen müssen. Die Unsterblichkeit, wie sie vom Marxismus intendiert wird, ist nicht der ein für allemal gewonnene Zustand, sondern ein ewiger Prozeß, in dem sich der Mensch gegen die ihn angreifende Natur nur behauptet, wenn er den entsprechenden Akt — mag dieser auch lediglich im Einnehmen einer Pille besteht — stets setzt.

Mit der Erlangung der Unsterblichkeit vollendet sich der Mensch als Selbstschöpfer. Durch die Erzeugung seiner eigenen Daseinsform erhält er sich zwar am Leben von Anfang an. Doch diese Erhaltung des Lebens dauert für das Individuum nur eine kurze Zeit. Solange aber das Individuum stirbt, kann der Mensch sich nicht als den vollkommenen Sieger über die Natur betrachten, denn die Natur feiert im Tode des einzelnen jeweils von neuem ihren Sieg. Erst dann, wenn auch das Individuum und nicht nur die Art ewig am Leben bleibt, und zwar durch die eigene Tätigkeit, kann der Mensch sich als den endgültigen Sieger und alleinigen Hausherrn in der Welt fühlen. Durch die Unsterblichkeit wird die Erhaltung des Lebens vollkommen und endgültig geschaffen, denn das Leben geht nun nicht mehr nach den blind wirkenden biologischen Gesetzen vor sich, sondern es vollzieht sich nach dem vom Menschen selbst gesetzten Modus. In der Überwindung des Todes erreicht die Schöpfung der eigenen Existenz ihr Ende. Dadurch erreicht aber auch die Freiheit die höchste Stufe ihrer Verwirklichung. In der Epoche der zeitbegrenzten Erhaltung des Lebens ist der Mensch gezwungen zu sterben; er entscheidet über sich selbst noch nicht frei; der Selbstmord ist in dieser Hinsicht nur die Beschleunigung des Sieges der Natur und somit der Ausdruck der Unfreiheit; deshalb nennen die sowjetischen Schriftsteller die Selbstmörder Sklaven. In der Epoche der Unsterblichkeit aber, wenn das Leben für immer erhalten wird, entscheidet der Mensch über sein Leben und seinen Tod vollständig souverän: will er leben, so setzt er den Akt der Unsterblichkeit fort; will er sterben, so unterbricht er diesen Akt und läßt die Natur ihre auflösende Macht frei entfalten. Somit erweist er sich als Herr nicht nur über die äußere Welt, sondern auch über sich selbst.

In der Herrschaft über sein Leben und seinen Tod zeigt sich auch die letzte Größe des Menschen. Wir haben schon gesagt (vgl. III. Kapitel, Abschnitt 4), daß der Mensch im Falle der Nichtexistenz Gottes auf die höchste Stufe der Seinsordnung emporrückt. Doch das Walten des Todes stellt diese höchste Stufe des Menschen immer in Frage und weist ihn immer auf das Jenseits hin, in dem allein, nach der religiösen Verkündigung, die Unsterblichkeit west. Das Walten des Todes ist und bleibt das stärkste Argument für die Religion. Denn der Mensch hat einen unausrottbaren Wunsch nach dem ewigen Leben, und die Religion verspricht ihm diese Ewigkeit. Schafft aber der Mensch selbst die Ewigkeit, und zwar schon hier auf Erden, so verliert das religiöse Versprechen des ewigen Lebens seinen Ansatzpunkt. Das Jenseits erscheint in diesem Fall nur wie eine irrtümliche Projektion der menschlichen Hoffnung auf die Ewigkeit, die er jedoch nicht in der Überwelt als Gnade Gottes, sondern in der Welt selbst als seine eigene Errungenschaft verwirklichen kann und tatsächlich verwirklicht. Gott wird überflüssig nicht nur als theoretische Hypothese für die Erklärung der Welt, sondern zugleich auch als Erlöser vom Tode. Jeder Hinweis der Religion auf den Tod als unüberwindliche Grenze der menschlichen Endlichkeit und Vergänglichkeit wird gegenstandslos. Das ist eine gewaltige Vision des Menschen, der, als zitterndes Wesen aus der Natur hervorgegangen, im Laufe der Zeit jedoch sich selbst und die Welt so mächtig in die Hand nimmt, daß er nicht nur die Form seiner Existenz bestimmt, nicht nur dieser Existenz einen Sinn gibt, sondern auch die Existenz selbst auf der Erde verewigt. Das ist wirklich das Größte, was der Mensch leisten kann. Von dieser Vision begeistert, ruft der sowjetische Dichter G. Tabidze ein wenig pathetisch, aber für unser Thema sinnvoll aus: „Unter vielen beflügelten Worten gibt es nur eines, das stolz wie der Falke ist; das ist das einfache Wort — der Mensch“.63

58 Fr. Engels, a. a. O., S. 314—315.

59 Vgl. A. E. Furman, Specifica zakonov razvitija zivoj prirody (Das Spezifische der Gesetze der Entwicklung der lebendigen Natur), im Sammelwerk „Filosofskie voprosy estestvoznanija (Philosophische Fragen der Naturwissenschaft), Moskau 1958, S. 66-126.

60 Programma . . ., S. 96; vgl. B. Meissner, S. 211.

61 L. P. Plušč, Dialektika ziznenosti organizmov (Die Dialektik der Lebendigkeit der Organismen), im Sammelwerk „Nekatory filosofskie voprosy estestvoznanija“ (Einige philosophische Fragen der Naturwissenschaft), Moskau 1957, S. 272—318.

62 Vgl. K. Beurlen, Der Sinn des Todes im Lichte der Paläontologie, Breslau 1933, S. 77-78.

63 G. Tabidze, Narod (Das Volk), S. 38.

 

I. Exkurs

Der Dialog zwischen Christen und Marxisten

Der im 3. Kapitel dieses Buches geschilderte Zusammenhang von Kommunismus und Atheismus und die daraus folgende kommunistische Haltung gegenüber der Religion müssen noch etwas näher erläutert werden, und zwar angesichts eines Phänomens, das wir heute den „Dialog zwischen Christen und Marxisten“ nennen und das unsere Darstellung eventuell in Frage stellen könnte. Denn: wird der Dialog beiderseits als „eine Lebensnotwendigkeit“1, ja als „eine absolute Notwendigkeit“ unseres Jahrhunderts2 bezeichnet und praktisch sogar mit einer gewissen Feierlichkeit durchgeführt, so entsteht dabei der Eindruck, daß die Gesprächspartner aufrichtig bereit seien, einander als existenzberechtigt anzuerkennen und ihre frühere Haltung zueinander von Grund auf zu revidieren; eine Haltung, die als Verurteilung, Bekämpfung, Verfolgung weit und breit bekanntgeworden ist.

Nun findet dieser Dialog, wie ebenfalls beiderseits beteuert wird, nicht als eine Debatte „ausschließlich über Politik“3 statt, sondern, im Gegenteil, er vollzieht sich „jenseits aller politischen Leidenschaften und Interessen“4, so daß er sich dann von selbst und unerläßlich um Grundprobleme des menschlichen Daseins sammelt. Unter diesen Problemen nimmt die Religion selbstverständlich die eminenteste Stelle ein. Mögen auf den offiziellen Programmen der Gespräche zwischen Christen und Marxisten Fragen nach der Materie (München 1964) oder nach dem Menschen und dem Humanismus (Köln 1964, Arnoldshain 1965, Herrenchiemsee 1966), oder nach der Gesellschaft und Freiheit (Marienbad 1967) stehen, es handelt sich hier im Wesentlichen immer um die Religion, und alle Diskussionen oder Erklärungen münden schließlich in eine einzige bange Frage: „Können wir, Christen, wirklich in einem kommunistischen Staat unser konkretes religiöses Verhältnis zu Gott aufrechterhalten?“5

Wie stehen nun die Marxisten — diesmal als Gesprächspartner — zu dieser zentralen Frage? Können die Christen, ohne einer Utopie zu huldigen, erwarten, daß „die Religionsfreiheit für alle Christen im sozialistischen System“ oder „ein marxistischer Libertinismus“6 nicht ein subjektiver Wunsch einiger gutgesinnter Kommunisten bleibt, sondern eine reale Entwicklungsrichtung des gesamten Systems darstellt? — Das aufzuklären und somit vielleicht auch den Dialog selbst ein wenig ins rechte Licht zu rücken, ist eben die Aufgabe dieses Exkurses.

1   M. Stöhr, Anfang und Ziel eines christlich-marxistischen Dialogs, in: Disputation zwischen Christen und Marxisten, hrsg. von M. Stöhr, München 1966, S. 11.

2   R. Garaudy, Vom Bannfluch zum Dialog, in: Der Dialog oder Ändert sich das Verhältnis zwischen Katholizismus und Marxismus?, hrsg. von Garaudy, Metz, Rahner, Hamburg 1966, S. 30 (Rowohlts Taschenbuch Nr. 944).

3   R. Garaudy, a. a. O., S. 35

4   E. Kellner, in: Christentum und Marxismus — heute. Gespräche der Paulus-Gesellschaft, hrsg. von E. Kellner, Wien 1966, S. 24.

5  Diese Frage richtete an die Marxisten K. Rahner in Salzburg 1965 (vgl. Her-der-Korrespondenz, Juni 1965, S. 419).

6   R. Kalivoda, Marienbader Protokolle, in: Neues Forum. Zeitschrift für den Dialog, Juni/Juli 1967, S. 473.

 

1

Der Dialog zwischen Christen und Marxisten ist keine Selbstverständlichkeit, wie man es heute oftmals wähnt, sondern ein schwieriges und kaum durchschaubares Problem. Das liegt in seinem Wesen selbst. Denn es handelt sich hier nicht um ein Gespräch zwischen beliebigen Personen auf einer rein privaten Ebene, die kein Engagement von ihnen verlangt. Im Gegenteil, der Dialog von heute ist eine Begegnung von Christen und Marxisten als Wortführer jeweils einer bestimmten Welt- und Lebensanschauung. „Dieses Gespräch“, betont R. Garaudy (Paris) als marxistischer Partner, „leitet nicht ein akademisches, rein spekulatives Turnier ein, das unverbindlich von ein paar Intellektuellen ausgetragen würde. Diejenigen, die hier sind, sind sich derer Verantwortung bewußt, weil sie wissen, daß sie Wortführer großer Gemeinschaften sind.“7 Allerdings macht die Wortführung aus dem Gesprächspartner nicht sogleich, wie dies M. Stöhr mit Recht hervorhebt, „Funktionär einer Partei oder Kirche“8, d. h. einen offiziellen Delegierten, der nur das reden darf, was in seinem Auftrag vorgezeichnet ist. Der Dialog zwischen Christen und Marxisten gestaltet sich viel freier und beweglicher, als daß es im Fall einer offiziellen Verhandlung möglich wäre. Dennoch geht auch dieser Dialog auf einer öffentlichen Ebene vor sich, wobei Christen als Christen und Marxisten als Marxisten auftreten und im Namen ihrer Weltanschauung reden. Jede private Interpretation dieser oder jener Frage wird deshalb sofort, vor allem seitens der Marxisten, auf die offizielle Lehre der Kirche oder der Partei zurückgefragt und danach korrigiert oder gar abgelehnt.

Als in Köln 1964 der kath. Theologe J. B. Metz versuchte, „die Möglichkeit einer christlichen Anthropozentrik“ zu skizzieren und somit zu beweisen, daß auch das Christentum von der Existenz des Menschen ausgehen kann, bezweifelte sein marxistischer Gesprächspartner Ad. Schaff (Warschau) die Authentizität dieser Möglichkeit, denn „jede Abkehr von einem christlichen Spiritualismus“, so begründete Schaff seinen Zweifel, „werde dem Verdikt der Häresie verfallen“9. Als in Marienbad 1967 der marxistische Philosoph M. Prucha (Prag) unternahm, Marxens Auffassung vom Menschen „durch die Struktur seines Seins“ zu deuten und daher die Philosophie weder mit der Idee der Materie noch mit der des Geistes, sondern mit dem Sein zu beginnen, korrigierten ihn seine marxistischen Kollegen (vor allem L. Gruppi, Rom, und C. Luporini, Rom) mit dem Hinweis, derartige Interpretation verlege den Marxismus „ins Spekulative“ und mache aus ihm „ein Mittelding zwischen Heidegger und Sartre“10. Dieses sofortige Aufhorchen der Partner bei einer privaten Interpretation ist durchaus verständlich. Denn: sucht man einen Kontakt und sogar eine Annäherung christlicher und marxistischer Anschauungen, so muß die authentische Darlegung dieser Anschauungen die erste und unumgängliche Voraussetzung dafür bilden. Alle privaten Auslegungen und Wunschgedanken sollen zurücktreten, weil sie die authentische Lehre nur verdunkeln und somit die Gefahr heraufbeschworen, den Dialog zu verfälschen.

Zwei Elemente kennzeichnen und bestimmen also den Dialog zwischen Christen und Marxisten: die Weltanschauung und die Wortführung. Die Weltanschauung grenzt diesen Dialog von allen andersgearteten (politischen, soziologischen, ökonomischen usw.) Gesprächen ab. Die Wortfüh-rung unterscheidet ihn von allen Privatgesprächen, wie diese unter Freunden, Bekannten, Interessenten stattfinden. Gerade aber diese selben zwei Merkmale machen den Dialog auch zu einem schweren Problem.

Was ist der Dialog eigentlich? — Das ist, wie ihn K. Rahner, einer der eifrigen katholischen Befürworter des Gesprächs mit Marxisten, charakterisiert, „Versuch einer kollektiven Wahrheitsfindung“11. Das setzt dreierlei voraus: 1. die Existenz einer gemeinsamen Wahrheit, 2. die Bereitschaft zu ihrer Findung und 3. das Gespräch als Modus dieser Findung. Gäbe es keine gemeinsame Wahrheit für Gesprächspartner, stünde die totale Bejahung der totalen Verneinung entgegen, so könnte der Dialog überhaupt nicht beginnen, geschweige denn sinnvoll durchgeführt werden. Diese schon existierende gemeinsame Wahrheit ist aber noch zu finden. Sie ist für die beiden Gesprächspartner erst unterwegs. Infolgedessen bildet der Dialog eine durchaus reale Wahrheitssuche und nicht bloß eine Methode der Wahr-heitsmitteilung. Wenn einer der Gesprächspartner oder gar die beiden überzeugt sind, im Besitztum der Wahrheit zu sein, so wird der Dialog seines Wesens von vornherein beraubt: er vollzieht sich dann nur in zwei Monologen, die nebeneinander laufen, ohne zur Einheit zu kommen. Die Einheit entsteht nun daraus, daß die Gesprächspartner jene bereits existierende gemeinsame Wahrheit, wie jeder von ihnen sie erlebt und begreift, austauschen, d. h. sich das zu eigen machen, was dem anderen eigen ist. Das ist mehr als nur eine psychologische Aufrichtigkeit im Gespräch selbst; das ist eine existenzielle Offenheit gegenüber dem anderen als unserem Du. „Die Begegnung muß, wenn sie nicht nur gelegentlich oder aus taktischen Gründen stattfindet, im Zentrum unseres Selbst geschehen“12, sagt Garaudy mit vollem Recht. Der Dialog ist immer Geben und Nehmen in einem. Er stellt „die höchste Form der wechselseitigen Kommunität“ dar13, wie ihn M. Machovec (Prag), einer der marxistischen Gesprächspartner, kennzeichnet. „Das Gespräch setzt also Einheit voraus und sucht sie und lebt in der echten Spannung zwischen beiden“14, formuliert K. Rahner die Notwendigkeit des Austausches beim Dialog.

Ist es aber möglich, diese allgemeinen Prinzipien im christlich-marxistischen Dialog aufrechtzuerhalten? Wir fragen hier nicht danach, ob diese Prinzipien in der Praxis immer eingehalten werden; wir fragen nach etwas, was von entscheidender Bedeutung ist, nämlich, ob der Dialog zwischen Christen und Marxisten überhaupt nach den oben dargestellten Grundsätzen geführt werden kann? Anders gesagt, können in diesem Dialog eine gemeinsame Wahrheit anerkannt, das reale Suchen nach ihr kollektiv verwirklicht und das Gespräch als Austausch des Eigenen empfunden werden? — Um eine wenigstens annähernde Antwort darauf zu gewinnen, schauen wir den Verlauf dieses Dialogs etwas genauer an.

7 R. Garaudy, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 16—17.

8 M. Stöhr, Anfang und Ziel ... S. 8.

9 Vgl. Herder-Korrespondenz, Juni 1965, S. 416.

10   Vgl. Marienbader Protokolle, S. 469.

11   K. Rahner, Kleines Fragment über die kollektive Findung der Wahrheit, in: Epimeleia. Festschrift zum 65. Geburtstag von Helmut Kuhn, hrsg. von F. Wiedemann, München 1964, S. 61.

12   Pv. Garaudy, Vom Bannfluch ... S. 36.

13   M. Machovec, Der Sinn des menschlichen Lebens, in: Disputation zwischen Christen und Marxisten, S. 92.

14 K. Rahner, Kleines Fragment ... S. 63.

 

2

Als die erste Voraussetzung dafür, daß der Dialog zwischen Christen und Marxisten zustande kommt, gilt der Grundsatz des Verbleibens bei der eigenen Position; ein Grundsatz, der beiderseits angenommen und von vornherein verkündet wird. Christlicherseits: „Ein Dialog zwischen Christen und Marxisten... ist eine spezifische Form des Kampfes und Ringens der Anschauungen, über die wir verschiedene Ansichten haben; er setzt kein Nachgeben oder Zurücktreten von den eigenen Positionen voraus.“15 Marxistischerseits: „Wir verlangen von niemandem, daß er aufhört zu sein, was er ist, sondern vielmehr (es) mehr und besser zu sein... Der Dialog mit den Christen schließt keinerlei religiöse Konzessionen ihrerseits ein.“16 Aus diesem Grunde werden sowohl „der missionarische Unternehmungsgeist“17 als auch „die Verwischung der Gegensätze“18 verworfen. „Ein Dialog in der Verschwommenheit der Positionen wäre unwürdig für beide Seiten.“19 M. Machovec stellt für den Dialog sogar eine Maxime auf: „Man darf nicht durch den Dialog von seiner eigenen Bewegung abfallen“, und qualifiziert das Verlassen der eigenen Position als Verrat.20 Konsequenterweise schlägt Garaudy vor, bei der Begegnung von Christen und Marxisten solle „jeder den Weg seiner Anliegen zu Ende“ gehen: die Christen „in ihrem Glauben“ und die Marxisten in ihrem „Leben als Kämpfer“.21 Die Einheit als Identität von subjektiven Überzeugungen wird also im Dialog zwischen Christen und Marxisten weder grundsätzlich angestrebt noch praktisch erreicht. Das von Garaudy verlangte Geschehen „im Zentrum unserer selbst“ bleibt aus, denn dieses Zentrum wandelt sich dabei ja nicht; es verharrt bei der eigenen Position, es wird in dieser Position sogar gestärkt. Aus dem Gespräch sollen die Christen als geläuterte Christen und die Marxisten als bessere Marxisten hervorgehen. Hier vollzieht sich genau das gleiche, was sich beim Gespräch des Großinquisitors mit Christus in der Legende Dostojevskijs ereignete: „Der Kuß (Christi, Vf.) brennt in seinem Herzen, aber der Alte (der Großinquisitor, Vf.) bleibt bei seiner früheren Idee.“22

Verliert aber der Dialog nicht seinen wahren Sinn, wenn die Gesprächspartner von vornherein den Willen bekunden, je bei ihrer Position zu bleiben? Das starke willentliche Moment macht doch das Sichöffnen des menschhchen Selbst für den anderen als Du zunichte und versperrt somit den Weg zum Dialog als kollektiver Wahrheitssuche. Die Proklamierung des Verbleibens bei der eigenen Position bedeutet doch im Grunde nichts anderes denn die Proklamierung des Dialogs als bloßer Methode für die Mitteilung der eigenen Wahrheit, wobei der Partner zwar als Zuhörer, nicht aber als Mitsuchender erlebt wird. Er kann mir höflich zuhören, er kann von mir sogar lernen — das wird heute beiderseits ohne weiteres zugegeben23 —, aber er kann nicht mit mir nach der uns beiden gemeinsamen Wahrheit suchen, denn wir haben doch von vornherein den Entschluß gefaßt, bei unseren Positionen zu bleiben. Anstelle eines echten Suchens tritt in diesem Fall das Verharren beim bereits Gefundenen, das nun dem Partner mittels des Gesprächs unterbreitet wird. Der Dialog als Begegnung und Kommunikation, als Austausch des Eigenen und als zentrales Geschehen im Inneren verwandelt sich in eine beiderseitige Belehrung, in eine Kritik und Selbstkritik mit dem einzigen (eingestandenen oder verschwiegenen) Zweck, sich selbst zu stärken.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die russisch-sowjetischen Denker, die am Dialog zwischen Christen und Marxisten bisher nicht teilgenommen haben, sich doch für diesen Dialog von Anfang an interessierten24, einige Schlüsse aus dem Grundsatz des Verbleibens bei der eigenen Position gezogen haben und diese Schlüsse nun als Richtschnur zum Verlauf des Dialogs verkünden:

1.    „Unter dem politischen Aspekt erscheint uns der derartige ,Dialog' als Bestandteil des Kampfes für die Errichtung einer antiimperialistischen und antimilitaristischen Front“;

2.    „unter dem wissenschaftlichen Aspekt kann der ,Dialog' als Mittel für die Entwicklung unserer Philosophie dienen“, indem diese „im Verlauf einer lebendigen Diskussion ihre Problematik erweitert, ihre schwachen Stellen erkennt und somit sich vervollkommnet bzw. bereichert“;

3.    „unter dem organisatorischen Aspekt soll der ,Dialog' einen systematischen, für eine längere Zeit berechneten Austausch der Meinungen darstellen, wobei sowohl Veröffentlichungen der Materialien als auch persönliche Kontakte stattfinden“;

4.    „unter dem ideologischen Aspekt verstehen wir den ,Dialog' nicht als Selbstzweck, sondern als eigentümliche Form der Polemik mit der bürgerlichen Ideologie und als Verteidigung und Verbreitung der marxistisch-leninistischen Weltanschauung“;

5.    „die Voraussetzung für die Fruchtbarkeit des ,Dialogs“ ist die Stärkung theoretischer Positionen der marxistischen Philosophie sowohl in der Sowjetunion als auch in anderen Ländern des sozialistischen Lagers“;

6.    „die Voraussetzung für die Wirksamkeit des ,Dialogs“ ist die Unversöhnlichkeit der marxistischen Philosophie mit reaktionären Ergebnissen der bürgerlichen Ideologie wie auch die Fähigkeit, auf diejenigen Philosophen ,der westlichen Welt“ einzuwirken, die auf die Stimme der Wahrheit hören und deshalb bereit sind, mit der reaktionären Ideologie zu brechen und der Position des wissenschaftlichen Materialismus beizutreten“25.

Wie diese Zitate zeigen, soll der Dialog zwischen Christen und Marxisten

1. zur Organisierung einer politischen Front, 2. zum Mittel der inneren Stärkung der sowjetischen Philosophie, 3. zur Gelegenheit der Verbreitung der marxistischen Weltanschauung und 4. zum Ort der Werbung für den wissenschaftlichen Materialismus dienen. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, daß die Aufstellung dieser Regel, nach denen der Dialog geführt werden soll, nichts anderes bedeutet als eine gewisse Vorbereitung russisch-sowjetischer Marxisten, am gegenwärtigen Dialog doch teilzunehmen. Würde aber diese Teilnahme nach der genannten Richtschnur verlaufen, so würde sie den Dialog in seinen Gegensatz umkehren, ihn praktisch in einen christlich-marxistischen Kongreß für Philosophie und Theologie verwandeln und das echte Gespräch zunichte machen. Sind aber die russisch-sowjetischen Denker nicht konsequent, wenn sie den bisherigen Dialog so auslegen und damit seine innere Unmöglichkeit aufdecken? Was soll denn ein Gespräch, dessen Partner das gemeinsame Suchen nach der Wahrheit durch das von vornherein verkündete Verbleiben bei der eigenen Position ausschalten, noch sein, wenn nicht eine günstige Gelegenheit, den eigenen Standpunkt öffentlich zu bekräftigen?

15   M. Stöhr, Anfang und Ziel ... S. 51.

16   R. Garaudy, Vom Bannfluch ... S. 116.

17   E. Kellner, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 18.

18   R. Garaudy, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 96.

19   R. Garaudy, a. a. O., S. 320.

20 M. Machovec, Kampf oder Dialog? in: Echo der Zeit, vom 12. 11. 1967, S. 11.

21    R. Garaudy, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 319—320.

22    F. M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff, München 1923, S. 482.

23    Die Bereitschaft von einander zu lernen, zeigen heute sowohl Christen als auch Marxisten: der Dialog könne „unsere gegenseitige Erkenntnis auf eine viel höhere Stufe stellen“ (L. Prokupek, Die Beurteilung des heutigen Christentums vom Standpunkt des heutigen Marxismus, in: Disputation zwischen Christen und Marxisten, S. 27); Christen und Marxisten müssen imstande sein, „vom anderen zu lernen“ (R. Garaudy, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 17; vgl. auch S. 66 u. 319); der Dialog sei notwendig „zur Information, zur Konfrontation, auch zur Korrektion“ (H. Schaefer, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 335).

24   Vgl. L. N. Veličkov, Dialog katolicizma s sovremennym mirom (Der Dialog des Katholizismus mit der gegenwärtigen Welt) in: Voprosy filosofii, 1966, Nr. 8, S. 103-115.

25   A. S. Bogomolov, Ju. K. Melvil, J. S. Narsldj, O nekotorych osobennostjach kritičeskogo analiza sovremennoj burzuaznoj filosofii (Über einige Besonderheiten einer kritischen Analyse der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie) in: Voprosy filosofii, 1967, Nr. 9, S. 122-123.

 

3

Im Lichte dieser Regel ist es sehr aufschlußreich zu erfahren, wie anders auch die Notwendigkeit des Dialogs durch die Ostmarxisten interpretiert wird. R. Garaudy als Vertreter der Westmarxisten bezeichnet den Dialog, wie erwähnt, als „eine objektive Notwendigkeit“, und zwar für die beiden Seiten. Denn sowohl Christen als auch Marxisten befinden sich nun in einem „durch den Weltraum schwimmenden Schiff mit drei Milliarden Menschen an Bord, das durch die Streitigkeiten seiner Mannschaft von jetzt an jeden Augenblick kentern kann“; es obliegt deshalb den beiden Seiten, dieses Schiff vom Untergang durch die Bildung einer gemeinsamen Front zu retten. Es finden aber „Hunderte Millionen von diesen Menschen“ die Bettung, d. h. „den Sinn ihres Lebens und ihres Todes, ja sogar den Sinn der menschlichen Geschichte im religiösen Glauben, und für Hunderte Millionen von Männern und Frauen gibt der Kommunismus den Hoffnungen der Erde ein Gesicht und unserer Geschichte auch einen Sinn“. Daraus folgert Garaudy: „Die Zukunft des Menschen wird nicht gegen die Gläubigen, ja nicht einmal ohne sie erbaut werden können“, aber „die Zukunft des Menschen wird auch nicht gegen die Kommunisten, ja nicht einmal ohne sie erbaut werden können“. Diese „unabweisbare Tatsache“ führt die beiden Seiten notwendigerweise zum Dialog und zur Mitarbeit.26 Darauf erwidert E. Kolman, ein tschechischer Marxist, Professor an der Universität in Prag und Mitglied der tschechoslovakischen Akademie der Wissenschaften: der Dialog treffe zwar die beiden Seiten, aber „mit einer unterschiedlichen Notwendigkeit“, denn „das Christentum und jede andere Religion sind Ideologien einer von der Bühne der Geschichte abtretenden alten Welt, während der Marxismus die Ideologie einer neuen Welt ist“; daraus ergibt sich von selbst „ein tiefer Unterschied für die beiden Seiten beim Führen des Dialogs“: die christlichen Theologen bemühen sich zu beweisen, daß beim gewissen Umdenken der Dogmen des Christentums „die Religion auch für den Marxismus voll annehmbar werden kann“, indes müssen die Marxisten „das Gegenteil davon beweisen“, nämlich „den radikalen und grundsätzlichen Unterschied zwischen Religion und Marxismus“27.

Das Wichtigste in dieser Erwiderung Kolmans liegt jedoch nicht in der Betonung des Unterschiedes zwischen Religion und Marxismus im allgemeinen (das ist eine alte und bisher nie aufgegebene These), sondern in der Herausstellung des Unterschiedes zwischen Religion und Marxismus in bezug auf die Geschichte. Die Religion gehöre zu der alten Welt, die von der Bühne der Geschichte eben abtritt, während der Marxismus auf dieser Bühne erst erscheint, und zwar als Gestalter einer neuen Welt. Diese zwei Welten begegnen sich allerdings in unserer Epoche und können selbstverständlich zu einem Dialog kommen. Doch ihre Beziehung zu der Zukunft ist grundverschieden. Die Religion als Erscheinung einer abtretenden Welt hat keine Zukunft mehr. Mag sie auch noch so lange praktisch existieren, sie existiert nur wie ein Überbleibsel aus der vergangenen Zeit, wie ein Fossil gleich den zwergwüchsigen Rassen der Pygmäen oder der Papuas. Der religiöse Mensch lebe aus der Vergangenheit allein, denn der Gang der Geschichte habe ihn überholt und seine wahre Existenz bereits ausgelöscht. Dagegen im Marxismus habe die Entwicklung der Menschheit eine qualitativ neue Stufe erreicht und somit ihn an die vorderste Linie der Geschichte gestellt. Der marxistische Mensch lebe aus der Zukunft und halte diese Zukunft in seinen Händen. Er werde deshalb notwendigerweise den ehemaligen (byvšij) religiösen Menschen ablösen und sich als der einzige gegenwärtige (nastojaščij) Mensch auf der Erde behaupten. Folglich ist der marxistische Mensch kein eigentlicher Partner des religiösen Menschen, sondern dessen Nachfolger, der das ganze bisherige Erbe der Menschheit übernimmt, umprägt und weiterträgt. Daher ist auch die Notwendigkeit des Dialogs für diese zwei so unterschiedlichen Seiten ebenfalls unterschiedlich groß. Den Christen ist der Dialog mit den Marxisten notwendig, um ihr Abtreten von der Bühne der Geschichte möglichst weit hinauszuziehen. Darum versuchen sie, einen Platz für ihren Glauben auch in der kommunistischen Gesellschaft ausfindig zu machen, um sich dadurch größere Aussichten für die Zukunft zu schaffen. Die Notwendigkeit des Dialogs mit dem Marxismus als einer neuen Welt ist also für die Christen eine Lebensnotwendigkeit. Daraus folgt jedoch keineswegs, daß die gleiche Notwendigkeit des Dialogs auch für die Marxisten gilt. Denn eine abtretende und eine neuauftretende Erscheinung der Geschichte stehen nie auf derselben Ebene, sind nie von derselben Bedeutung für die Zukunft und können nie die gleiche Sprache sprechen.

Damit wird R. Garaudy korrigiert, der — aus Überzeugung oder Taktik — die Notwendigkeit des Dialogs für die beiden Seiten ununterschiedlich betont und den Eindruck erweckt, das Christentum und der Marxismus stehen in bezug auf den Dialog auf derselben Ebene, und zwar als zwei gleichberechtigte Partner. Angesichts der Zukunft kann von der Gleichberechtigung von Christentum und Marxismus keine Rede sein.

Über den Charakter der Notwendigkeit des Dialogs für Marxisten spricht Kolman in seinem Artikel nicht. Er weist uns nur auf die Notwendigkeit des Dialogs für Christen als Vertreter einer abtretenden Welt hin: diese Welt möchte noch lange am Leben bleiben, deshalb suche sie den Kontakt mit dem Marxismus, der allein über die Überbleibsel der Vergangenheit entscheidet. Aus diesem Grund ist der Dialog der Christen verständlich. Warum ist er aber eine Notwendigkeit auch für Marxisten als Vertreter einer neuen Welt? — Eine Antwort darauf gibt R. Garaudy selbst. Schon seit langem vertritt er die Auffassung vom Marxismus als Integration aller Kulturwerte. „Der Marxismus hat alles zu integrieren“, sagte Garaudy in Salzburg 1965, „was im Menschen menschlich ist, also alles das, was das Christentum an Menschlichem in die Welt gebracht hat“ (S. 63) ; er „integriert grundsätzlich alles, was der Mensch an Werten der Kultur und Zivilisation in seiner Geschichte je geschaffen hat“ (S. 77). Da aber das Christentum, nach der marxistischen Lehre, auch „ein Erbgut der Menschheit ist“, so integriert der Marxismus auch christliche Werte.28 „Ohne zu verarmen, können wir nicht“, betont Garaudy, „den grundlegenden Beitrag des Christentums vergessen.“29

Sehr deutlich und konkret hat R. Garaudy die Idee der Integration in einem früheren Artikel, betitelt „Kommunisten und Katholiken nach der Enzyklika ,Pacem in terris““ (1963), formuliert: „Eben darin besteht das möglichst tiefschürfende Vorgehen des Marxismus, überall das winzigste Körnchen von Wahrheit aufzuspüren, selbst wenn es unter tausend Entstellungen verborgen liegt, sich dieses Körnchen anzueignen. . . und es .. . in das lebendige Denken des Marxismus-Leninismus einzuordnen. Wh kommen dieser Aufgabe ohne irgendeine Konzession prinzipieller Art nach, ohne irgendeinen ideologischen Kompromiß, mit der stolzen und erobernden Gewißheit, daß alles, was wahr und wirkhch ist, uns gehört, hier auf Erden, im Himmel und im Herzen des Menschen, mit seiner ganzen Zukunft, die wir aufzubauen haben. Der Marxismus würde ärmer werden, wenn Plato oder der heilige Augustinus, wenn Pascal oder Kafka uns fremd würden.“30 Erkennen wir in diesen Worten nicht das Verhalten der griechischen Kirchenväter zur antiken Kultur? Erinnern uns die Worte Garaudys nicht an die im Wesentlichen gleichen Worte Justins des Märtyrers, die er in bezug auf griechische Denker und Dichter ausgesprochen hat: „Was immer sich bei ihnen trefflich gesagt findet, gehört uns Christen an?“31 Wie das Christentum antike Kulturwerte integriert hat, so schickt sich nun der Kommunismus an, christliche Werte zu integrieren. Wie das Christentum die antike Welt abgelöst hat, so soll nun der Marxismus die christliche Welt ablösen, — jedoch nicht auf eine barbarische Art und Weise der Vernichtung, wie dies in den ersten Jahrzehnten nach der Revolution in der Sowjetunion geschah, sondern auf dem Wege der Integrierung.32

26 R. Garaudy, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 16—17.

27 E. Kolman, Dialog ili bratanie? (Dialog oder Verbrüderung?) in: Sovetskaja kultura, Moskau 1967, Nr. 99.

28   R. Garaudy, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 63, 77, 82.

29   R. Garaudy, Vom Bannfluch . . S. 107.   

 30 R. Garaudy, Communistes et catholiques après 1’ Encyclique ,Pacem in terris“, in: Cahiers du communisme, Paris 1963, Nr. 7/8; zit. Ost-Probieme, 1963, Nr. 22, S. 678.

31   Justin der Märtyrer, Die 2. Apologie, Kap. 15.

32   Die Interpretation des Marxismus als Integration der Kulturwerte der Vergangenheit ist nicht neu. Diese Idee wurde in der Sowjetunion etwa vor 10 Jahren ausgesprochen, und zwar zuerst in der sowjetischen Literaturwissenschaft, die die sowjetische Literatur als „die rechtmäßige Erbin aller großen Weltliteraturen“ bezeichnete (vgl. M. Tichonov, in: Literaturnaja gazeta, Moskau 1958, Nr. 19, S. 1); diese Idee wurde auch in der sowjetischen Ethik ganz deutlich vertreten (vgl. das 2. Kap. dieses Buches); sie ist ebenfalls in dem oben zitierten Artikel von E. Kolman zu finden; sie hat auch M. Machovec in der öffentlichen Diskussion mit den kath. Theologen J. B. Metz und K. Rahner in Münster/W. am 4./5. November 1967 ausgesprochen, als er sagte, wenn man die Entwicklung des Marxismus mit der des Christentums vergleichen wolle, so befinde sich der Marxismus in der voraugustinischen Epoche, in der sich das Christentum heidnische Elemente aneignen mußte, und die Marxisten müßten nun von den Christen lernen, wie Augustinus von den Heiden gelernt habe (zit. nach einer privaten Aufzeichnung).

4

Ist aber dieser Prozeß im Marxismus überhaupt möglich? Sind nicht alle Kulturwerte der Vergangenheit, nach der Lehre des Marxismus selbst, auf einer völlig anderen ökonomischen Basis entstanden und tragen sie nicht die Wesensmerkmale dieser Basis? Die vorkommunistische Basis, ungeachtet ihrer Differenzierung in sich, widerspricht aber dem Kommunismus von Grund auf. Folglich widersprechen ihm auch geistige Werte, die aus der vorkommunistischen Basis hervorgegangen sind. Wie kann man sie also „in das lebendige Denken des Marxismus-Leninismus“ einordnen, wie das Garaudy will? Wie kann man behaupten, daß „alles, was wahr und wirklich ist“ dem Kommunismus gehöre? Was ist an allen vorkommunistischen Werten eigentlich wahr und wirklich?

Darauf gibt R. Garaudy eine für das Verständnis des marxistischen Gesprächspartners entscheidende Antwort. Über den Modus der Integrierung christlicher Werte in den Kommunismus sagt er folgendes: „Der Marxismus integriert die wunderbare Wirklichkeit der Gemeinschaft der Heiligen', indem er sie säkularisiert . . . Der Marxismus transponiert die Perspektiven eines endzeitlichen Reiches, das im Christentum ,Reich Gottes' genannt wird, von der eschatologischen auf eine kämpferische Ebene.“33 Die Säkularisierung oder Entheiligung christlicher Werte und ihre Transponierung auf die mnerweltliche Ebene ist der Weg, auf dem der Marxismus hofft, das Christentum integrieren zu können. Wie dieser Prozeß konkret vor sich geht, erklärt uns Garaudy in dem oben zitierten Artikel mit dem Beispiel der Integrierung der christlichen Auffassung von der Person. .,Die Marxisten nehmen für sich stolz das Erbe des griechischen Humanismus und Bationalismus in Anspruch, wissen aber, daß das Christentum eine neue Dimension des Menschen geschaffen hat: jene der menschlichen Person. Dieser Begriff war dem klassischen Bationalismus derart fremd, daß die griechischen Kirchenväter weder die Kategorie noch die Worte zu finden vermochten, um diese neue Realität auszudrücken.“34

Bedeutet das aber, daß die Kommunisten diese vom Christentum entdeckte neue Realität der menschlichen Person ohne weiteres sich zu eigen machen? Keineswegs! Denn „dieses Problem wurde“, fährt Garaudy fort, „in einer Form aufgeworfen und gelöst, die wir als mystifiziert betrachten“, nämlich: „in Form einer Beziehung zwischen menschhcher und göttlicher Natur, einer Meditation über die Fleischwerdung und einer Theologie der Dreifaltigkeit“ (ebd.). Indem der Marxismus die Idee der Person nun integriert, will er dieses Problem „seiner mystischen oder idealistischen Hülle“ entkleiden und es „in seiner richtigen Perspektive“ (ebd.) erfassen, d. h. bereits als säkularisiert und auf die innerweltliche Ebene transponiert. Die Dimension der Person müsse man nicht im Zusammenhang mit dem Göttlichen verstehen und verwirklichen, sondern im Zusammenhang mit der Natur und der Geschichte: anstatt auf das Göttliche ausgerichtet und vom Göttlichen her begriffen zu sein, wird sie im Marxismus auf das Natürliche und Geschichtliche gerichtet und von diesem her gedeutet. Dadurch entledigt sie sich der mystischen Hülle, die sie im Christentum bekommen hatte, und wird in die richtige Perspektive gestellt. Darin eben „besteht das möglichst tiefschürfende Vorgehen des Marxismus“, jedes Körnchen der Wahrheit aufzuspüren und es sich anzueignen (Garaudy, ebd.).

Dieses Beispiel erklärt, auf welche Art und Weise die Integrierung vorkommunistischer Werte in das marxistische Denk- und Lebenssystem möglich ist: diese Werte werden nicht so aufgenommen, wie sie in ihrem ursprünglichen Baum existieren, sondern sie werden umgedeutet. Die Säkularisierung und Transponierung vorkommunistischer Werte erfolgt mittels der Umdeutung ihres Sinngehaltes. Sie werden im Kommunismus anders erlebt, anders verstanden, anders akzentuiert. Wie das Christentum den antiken Werten — der Philosophie, der Kunst, dem Staat, sogar manchen religiösen Formen — einen anderen Sinngehalt verlieh und diese Werte auf dem Wege der Umdeutung in das christliche Leben integrierte, so will nun das gleiche auch der Kommunismus unternehmen. Nicht darin besteht also das Wesentliche im kommunistischen Verhalten zu vorkommunistischen Werten, daß der Kommunismus sie materiell übernimmt, sondern darin, daß er sie formell umdeutet, indem er ihnen einen neuen Sinngehalt gibt und sie somit bereit macht, Bestandteile des kommunistischen Systems zu werden. Dadurch bereichert sich der Kommunismus und wird als Weltanschauung zweifellos stärker.

Eben darin liegt die Notwendigkeit des Dialogs auch für Marxisten. Denn der Marxismus als eine neue Seinsdeutung ist noch nicht entwickelt, geschweige denn vollendet; er sucht nach vielem, und „bei dieser Suche kann uns (den Marxisten, Vf.) das Christentum viel lehren“, gibt Garaudy freimütig zu.35 Noch freimütiger äußert sich darüber L. Lombardo-Radice (Rom), indem er sagt, „daß auch der Marxismus seine notwendigen Liik-ken, seine unvermeidlichen Einseitigkeiten hat“ und daß er „sich also mit Hilfe anderer, in ihrer Weise auch einseitiger, doch gewissermaßen für ihn ,komplementärer Wahrheiten“ vervollständigen und entwickeln kann und muß“36. Das Christentum sei eine dieser „komplementären Wahrheiten“ für den Marxismus. Deshalb sind die Marxisten entschlossen, „die menschlichen Grundlagen des Christentums zu verstehen, zu verwirklichen und zu integrieren“37. Aus diesem Grund treffen sie sich mit denjenigen Christen, „die begreifen, daß der Marxismus eine reinigende Kraft ist gegenüber allen reinen Spiritualismen“ (R. Garaudy, ebd.). Daraus entsteht ein Dialog als Weg, auf dem die Integrierung christlicher Werte in das kommunistische Denk- und Lebenssystem erleichtert und beschleunigt wird. „Und es wäre eine Tragödie der Geschichte und viel verlorene Zeit für die Menschheit, wenn der Dialog zwischen Christen und Marxisten. . . vereitelt würde“38 — genauso, wie wenn der Dialog zwischen dem Christentum und der antiken Kultur nicht stattgefunden hätte. Wären die Christen dem Verhalten Tatjan des Syrers oder Tertulians — „quid academiae et ecclesiae?“ — gefolgt, so hätten sie ihren Glauben nie zu einer Universalreligion entwickeln können.

In diesem Zusammenhang sind die Worte von J. Wiatr, einem polnischen Kommunisten, von Bedeutung, der gleichzeitig mit Garaudy, nämlich im Jahre 1963, die Idee der Integrierung proklamiert und den Dialog als Mittel dazu interpretiert hat. In seinem Artikel „Offensive der sozialistischen Kultur“ schreibt Wiatr: „Eine Zukunft des Sozialismus auf kulturellem Gebiet ist in der Isolierung von anderen, seien es selbst ideologisch fremde Tendenzen und Strömungen, nicht denkbar“; in der Isolierung könnte nur „eine armselige und flache Kultur“, „ein sozialistisches Ghetto“ entstehen.39 J. Wiatr beruft sich auf Lenin und die anderen Führer der Sowjetunion, die sowohl eine „proletarische Kultur“ als auch eine „proletarische Wissenschaft“ kritisiert und somit die Öffnung des Kommunismus für edle Kulturwerte gefordert haben. Denn „nach den Grundkonzeptionen des Kommunismus stellt die sozialistische Kultur eine schöpferische Synthese aller wertvollen Elemente der heutigen Welt dar und müßte sich deshalb gerade in der Konfrontierung mit der außerhalb der sozialistischen Länder bestehenden Kultur fortentwickeln . . . Erst wenn wir von der Sache und von der Ideologie her den reaktionären Charakter der modernen kapitalistischen Kultur überwunden und aus ihr alles zivilisatorisch und kulturell Wertvolle ausgeschöpft haben, wird der Sozialismus imstande sein, eine Kultur zu schaffen, die der neuen Epoche würdig ist“ (ebd.). Das kann aber erst, dann möglich sein, wenn die sozialistische Kultur „sich der Herausforderung seitens der bürgerlichen Kultur“ stellt und auf diese Herausforderung antwortet. „Das ist unter anderem der Sinn unserer Politik der kulturellen Kontakte mit der ausländischen Bourgoisie, unser Ziel im Austausch auf dem Gebiete der Wissenschaft, der Literatur und Kunst“ (ebd.). Es geht dabei ja „um die Herausstellung, Verbreitung und Verallgemeinerung der Ideen des Sozialismus, des Humanismus (S. 76), der sozialen Gerechtigkeit und des damit verbundenen kulturellen, künstlerischen, philosophischen und wissenschaftlichen Gehalts“ (S. 77). Der Dialog zwischen Christen und Marxisten ist nun eine der Formen dieser Kontakte und erweist sich als ein gutes Mittel, um die Konfrontierung des Sozialismus mit dem Christentum zustandezubringen. Auf diesem Wege, nach Wiatr, werden „in das geistige Leben der heutigen Welt die sozialistische Idee, unsere Auffassung von den gesellschaftlichen Fragen und unser Wertsystem“ (S. 78) hineingetragen. „Dadurch wird ein ideologisches Klima geschaffen, das der Gesellschaft in den kapitalistischen Ländern ermöglicht, die historische Chance wahrzunehmen und den Sozialismus auf friedlichem Wege zu verwirklichen“ (S. 77).

Deutlicher kann man über den Sinn des Dialogs als Form der Kontakte mit der außerkommunistischen Kultur kaum sprechen. Die schon oben angeführte russisch-sowjetische Richtschnur für den Dialog ist von Wiatr vorweggenommen worden. Das weist auf eine auffallende Übereinstimmung der Ostmarxisten in der Auffassung und Durchführung des Dialogs hin; eine Auffassung, die von den Westmarxisten nicht immer — bewußt oder unbewußt — mit aller Deutlichkeit ausgesprochen wird.

33 R. Garaudy, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 82.

34   R. Garaudy, Communistes et catholiques ... S. 677.

35   R. Garaudy, Vom Bannfluch ... S. 91.

36 L. Lombaro-Radice, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 256.

37   R. Garaudy, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 86.

38    R. Garaudy, Vom Bannfluch ... S. 91.

39 J. Wiatr, Ofensyva kultury socjalistycznej (Offensive der soz. Kultur), in: Zycie Warszawy, vom 22. 11. 1963; zit. Ost-Probleme, 1964, Nr. 3, S. 77.

 

5

Im Lichte der Selbstauffassung des Marxismus als Erbe und Nachfolger des Christentums wird uns auch die Anerkennung, ja, das Lob der Religion, die diese im gegenwärtigen Dialog seitens der marxistischen Gesprächspartner findet, verständlich. „Die wunderbare Konzeption der christliehen Liebe“ enthalte in sich „das höchste Bild, das der Mensch über sich selbst wie über den Sinn seines Lebens entwerfen kann“; deshalb bedeute diese Konzeption auch „für Marxisten die höchste Aussage menschlicher Liebe“40. „Die Metaphysik des Christentums als einer Religion der absoluten Zukunft“ sei auch für einen Marxisten „ein hohes intellektuelles Vergnügen“41. Christentum und Marxismus „zehren und leben“, trotz ihrer Fremdheit, „in ihren ursprünglichen Antrieben, die der Quell ihrer Kraft sind, . . . von Gleichem“; folglich dürfen sie „nicht Feinde sein“42. Daraus ziehen die marxistischen Gesprächspartner eine höchst verblüffende und bisher noch nie gehörte Schlußfolgerung: „Die Religion kann, ohne Rücksicht auf ihre Formen, in jedem gesellschaftlichen System existieren“43, denn „der Marxismus versteht sich nicht als Negation der Religion“44. Wenn wir all diese Aussagen vom Anspruch des Marxismus auf Integration und Erbe abstrahieren oder diesen Anspruch bagatellisieren, so erscheinen sie uns entweder unglaubwürdig oder revolutionär: unglaubwürdig, weil die kommunistische Praxis in bezug auf die Religion einen völlig anderen Weg geht; revolutionär, weil die konkrete Verwirklichung dieser Aussagen eine radikale Umgestaltung des gesamten kommunistischen Systems nach sich ziehen müßte. In Wirklichkeit jedoch sind diese Aussagen weder unglaubwürdig noch revolutionär. Sie formulieren nur das, was der Marxismus als Nachfolger für das Christentum als Erbschaft empfindet. Und erst dieses Verhältnis (Nachfolger — Erbschaft) erhellt uns den wahren Sinn der im Dialog jetzt so oft vorkommenden marxistischen Anerkennung der Religion.

Der Marxismus ist heute bereit und glaubt, imstande zu sein, alle Werte des Christentums zu integrieren, indem er sie auf die innerweltliche Ebene verlegt und somit säkularisiert. Eines jedoch schlägt er als Erbschaft aus, nämlich: Gott. Warum er das tut und warum sich Gott in das marxistische System nicht integrieren läßt, erklärt uns Garaudy sehr überzeugend und erstaunlich konsequent: „Wenn wir sogar den Namen Gott ablehnen, so geschieht das deshalb, weil er eine Gegenwart impliziert, eine Wirklichkeit, während wir nur eine Forderung erleben, eine niemals befriedigte Forderung nach Totalität und Absolutheit . . . Von dieser Totalität, von diesem Absolutum kann ich alles sagen, außer: es ist. Denn es steht gerade immer noch aus und befindet sich immer noch im Wachstum wie der Mensch selbst. Wenn wir ihm den Namen geben wollen, so wird es nicht der Name Gott sein, denn man kann sich keinen Gott denken, der immer erst im Begriff ist, sich zu schaffen, zu entstehen.“45 Die Totalität und Absolutheit, von der sowohl Christen als auch Marxisten sprechen, ist also von Grund auf verschieden; „die eure“, sagt Garaudy erklärend, „ist Anwesenheit und die unsere Abwesenheit“ (ebd. S. 90). Das heißt: die christliche Totalität und Absolutheit ist die Anwesenheit Gottes in seiner Schöpfung und Verheißung. Da aber, nach der Lehre des Marxismus, Gott als Wirklichkeit nicht existiert, so bedeutet die marxistische Totalität und Absolutheit die Unvollendung des Menschen und somit eine radikale Abwesenheit, „denn der Mensch“, betont Garaudy, „ist eben derjenige, der nicht ist“, sondern immer wird (ebd.).

Konsequenterweise ist auch der wahre Name jener Totalität und Absolutheit nicht Gott, sondern „der Name Mensch“ (ebd.). Die Christen glauben, daß die Forderung, die der Mensch dauernd stellt und dadurch sein Unvollendetsein stets bezeugt, schließlich doch ihre Erfüllung in der Verheißung Gottes finden wird. Indes bekennen die Marxisten öffentlich und stolz: „Uns Atheisten ist nichts verheißen und niemand erwartet uns“ (ebd.). Die Dimension der Zukunft ist für den Marxismus seinshaft leer, und eben in diese Leere projiziert der Mensch seine Wünsche und Forderungen, und zwar unendlich, denn „Marxisten glauben nicht, daß dem Vorwärtsschreiten des Menschen ein Ende gesetzt ist“46, und mit vollem Recht, denn im Fall der Nichtexistenz Gottes gibt es auch nichts, was der Geschichte ein Ende im Sinne der Vollendung gesetzt hätte. Die Geschichte kann nur ein Ende im Sinne einer äußeren kosmischen Auslöschung des Menschen haben. Dann aber würde die Materie „mit derselben eisernen Notwendigkeit . . . den denkenden Geist . . . anderswo und in anderer Zeit wieder erzeugen“47, und die Geschichte würde weitergehen.

Indem der Marxismus Gott als Wirklichkeit ablehnt und das religiöse Faktum „auf das menschliche Faktum“ reduziert48, kann er sich selbstverständlich nur auf den Menschen berufen und sich „unsere ganze Geschichte und ihre Bedeutung“ ledighch „im Verstand, im Herzen und im Willen des Menschen und nirgendwo anders“ abspielen sehen (ebd. S. 90). Allerdings sprechen auch die Marxisten von der Transzendenz, doch sie bedeutet hier nicht das Übersteigen des Daseins selbst, sondern nur die Veränderung des Modus des Daseins. „Die Transzendenz ist für den Christen ein Tun Gottes, das auf ihn zukommt und ihn ruft. Für den Marxisten ist es eine Dimension des menschlichen Handelns der Überschreitung auf sein fernes Wesen hin, es ist die Überschreitung der Natur zur Kultur hin“ (S. 87) oder „ein neues Sichablösen . . . von allen Entfremdungen, die sich seit Tausenden von Jahren kristallisiert“ haben und „so zur Gewohnheit geworden sind, daß sie uns als eine gegebene Natur . . . erscheinen . . . Diese zum Unendlichen hin geöffnete Zukunft ist die einzige Transzendenz, die wir Atheisten kennen“ (S. 89). In seiner Seinslehre ist der Marxismus ein radikaler ontologischer Monismus, folglich auch ein radikaler Atheismus, denn die Anerkennung Gottes als Wirklichkeit, die nicht nur den Daseinsmodus, sondern auch das Dasein selbst übersteigt, würde den Monismus der marxistischen Ontologie von selbst sprengen und den ganzen dialektischen Materialismus zum Einsturz bringen. Deshalb lehnen die Marxisten, die diese unabwendbare Konsequenz begreifen, Gott ab.

Derartige Haltung der Marxisten Gott gegenüber verleiht auch dem Dialog zwischen Christen und Marxisten einen eigenartigen Charakter. Die marxistischen Gesprächspartner lassen die Christen von vornherein wissen, daß im Dialog von Gott als Wirklichkeit nicht gesprochen wird. „Wird irgend etwas mit dem bloßen Beteuern erreicht: Gott besteht oder Gott besteht nicht?“, fragt B. Bošnjak, ein jugoslavischer Marxist. Wird die Frage auf diese Art und Weise trotzdem gestellt, so „kann es keinen Dialog geben“, betont Bošnjak.49 Wohl gibt er zu, daß man von Gott im Sinne einer Gottesidee im menschlichen Bewußtsein sprechen kann: „Wenn man von Gott spricht, dann spricht man nur von dem eigenen Begriff Gottes . . . Das Gespräch über den menschlichen Begriff Gottes ist eigentlich das Gespräch von dem Menschen“ (S. 22). Von dem Menschen kann man aber mit allen sprechen. „In diesem Sinne“, räumt Bošnjak ein, „wird auch ein Gespräch notwendig“, denn das ist ja „das Gespräch vom Menschen selbst, d. h. von den Formen und von der historischen Metamorphose seiner verschiedenen Ideen und Auffassungen“ (S. 26). Wird aber der Dialog in jedem Fall nur auf den Menschen reduziert, so geraten die Christen als Gesprächspartner in eine peinliche Lage: ihr Glaube verlangt von ihnen, sich öffentlich zu Gott zu bekennen, denn „in der Frage nach Gott geht es für uns Christen um eine letzte Frage, von der wir nicht absehen können“50; ihre Bereitschaft zum Dialog nötigt sie jedoch, diese letzte Frage auszuklammem und so mit Marxisten zu sprechen, als ob es Gott überhaupt nicht gäbe oder als ob er nur eine menschliche Idee im Bewußtsein wäre. Es ist doch sehr erstaunlich, daß kein christlicher Denker bisher bei den Begegnungen mit Marxisten einen Vortrag über Gott als Wirklichkeit gehalten hat. Ein Dialog aber, in dem eine Frage, die als entscheidende, als letzte empfunden wird, umgangen wird, kann nicht als offen und aufrichtig bezeichnet werden. Solange Gott verschwiegen wird, bleibt der Dialog zwischen Christen und Marxisten intellektuell nicht redlich. Wird Gott aber zum Thema des Gesprächs, so bricht dieses sofort ab. Bei der Frage nach Gott kommt die innere Widersprüchlichkeit des Dialogs zwischen Christen und Marxisten greifbar zum Vorschein.

40   R. Garaudy, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 81—82.

41   C. Luporini, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 215.

42   R. Havemann, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 240.

43   B. Bošnjak, in Christentum und Marxismus — heute, S. 112; vgl. auch B. Bošnjak, Zum Sinn des Unglaubens, in: Marxistisches und christliches Weltverständnis, Freiburg/Br. 1966, S. 35—49; E. Kadlecova, Kirche und Gesellschaft, in: Disputation zwischen Christen und Marxisten, S. 253.

44   R. Garaudy, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 83.

45   R. Garaudy, Vom Bannfluch ... S. 89—90.

46   R. Garaudy, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 97.

47   Fr. Engels, Dialektik der Natur, S. 28.

48   R. Garaudy, Vom Bannfluch ... S. 104.

49   B. Bošnjak, Zum Sinn des Unglaubens, S. 11.

50   K. Rahner, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 325.

 

 

6

Im Dialog zwischen Christen und Marxisten spricht man zwar nicht von Gott, aber man spricht gern und viel von der Religion. Das ist wiederum eine Eigenart dieses Dialogs, die seine Widersprüchlichkeit noch deutlicher bloßlegt. Denn der Begriff Religion bedeutet für die marxistischen Gesprächspartner etwas ganz anderes als für die Christen. Für diese ist die Religion, ganz allgemein gesprochen, eine Beziehung des Menschen zu Gott als Wirklichkeit, die mit dem Menschen nicht identisch ist. Für die Marxisten aber bedeutet die Religion, da Gott keine Wirklichkeit an sich, sondern nur ein anderer Name des Menschen ist, eine Beziehung des Menschen zu sich selbst, wie das als erster Ludwig Feuerbach formuliert hat (vgl. 5. Kap., 1. Abschn.). Diese Beziehung des Menschen zu sich selbst ist aber, nach der marxistischen Lehre, doppelsinnig: „Die Religion ist menschlicher Entwurf“, sagt Garaudy, „aber ein mystifizierter menschlicher Entwurf.“51 Insofern dieser Entwurf menschlich ist, wird er vom Marxismus anerkannt, geschätzt und integriert; insofern er aber mystifiziert ist, wird er abgelehnt und bekämpft. Nun kommt die Mystifikation der Religion als menschlichen Entwurfs überall dort zum Ausdruck, wo Gott und sein Wirken als Wirklichkeit verstanden und in entsprechenden Praktiken objektiviert werden. In diesem Sinne ist die Religion eine Illusion und ein Traum.

Doch die Marxisten von heute, vor allem im Westen, „finden es sogar schön, daß der Mensch in seiner Not solche Träume, solche Hoffnungen und die unendliche Liebe Christi erdacht hat“52. Sie lehnen diese Träume beileibe nicht ab. Da aber all das nur ein Traum ist, so bestehe die Aufgabe des Kommunismus nun darin, „den Menschen seinen schönsten Träumen und seinen größten Hoffnungen näherzubringen, wirklich und praktisch näherzubringen, damit die Christen selbst auf unserer Erde den Beginn ihres Himmels finden“ (S. 82). Das heißt: Was die Christen subjektiv erdacht haben, werden die Kommunisten objektiv verwirklichen. Der Kommunismus wird solche „Bedingungen für eine Gesellschaft schaffen, in der die Liebe aufhören wird, eine Hoffnung oder ein moralisches Gesetz zu sein, um das objektive Gesetz der ganzen Gesellschaft zu werden“ (S. 81).53 Die Hoffnungen der Christen werden also erst im Kommunismus zur Wirklichkeit, denn die Religion als Objektivation christlicher Träume und Hoffnungen hat sich als unfähig gezeigt, diese Träume und Hoffnungen, „wirklich und praktisch“ zu machen; sie verstand sie nämlich eschatologisch und verlegte ihre Realisierung ins Jenseits oder hinter das Ende der Geschichte. Eben das nennt der Marxismus eine Mystifikation und will nun das Jenseits ins Diesseits und die Eschatologie in den Verlauf der Geschichte verlegen. Denn, „wenn der Mensch sich als ein natürliches Wesen auffaßt, dann ist er frei von jeder Jenseits-Illusion“, und wenn er „sich als die höchste Seinsstufe auffaßt, dann bleibt kein Raum mehr für die Eschatologie übrig“54. Wird die Religion entmystifiziert, d. h. legt sie das Jenseits und die Eschatologie als Verhüllung menschlichen Entwurfs in der Gestalt von Träumen und Hoffnungen ab, so bleibt ihr menschlicher Kern durchaus annehmbar und erweist sich sogar als wertvoll: er drückt ja die tiefste Sorge des Menschen um das Dasein aus.

In diesem Sinne nannte R. Kalivoda (Prag) in Marienbad „die Geschichte der Religion die authentische Vorgeschichte unserer eigenen menschlichen Existenz“55. Die Religion spiegele wahrhaft eine Epoche der menschlichen Existenz wider, aber diese Epoche sei schon überholt, denn sie war nur die Vorgeschichte. Sie stellte wohl große Fragen der menschlichen Existenz auf, doch sie war nicht imstande, diese Fragen zu beantworten. Das tut nun der Kommunismus als die wahre Geschichte des Menschen. Infolgedessen zeigt sich der Marxismus gegenüber der Religion als Raum großer Fragen wohlwollend. Denn er ist „nicht gleichgültig“ gegenüber den Fragen, “die sich die Menschen über den Sinn ihres Lebens und ihres Todes, über das Problem ihres Ursprungs und ihres Zieles, über die Forderungen ihres Denkens und ihres Herzens stellen“56. Insofern erkennt der Marxismus „die Größe der Religion“ an (ebd.). Er verwirft nur „die illusorischen Antworten“, die die Religion „als endgültig, ja als heilig“ betrachtet, aber er verwirft nicht „das wirkliche Sehnen, die sie hervorgerufen haben“ (ebd.). Die Antworten der Religion werden verworfen, weil sie „Schöpfungsmythen oder eschatologische Mythen“ oder „Mythen einer Transzendenz“ sind, die „immer einen Bruch mit uns selbst, eine fremde, von außen kommende Wirklichkeit implizieren“57. Da es aber eine solche Wirklichkeit, nach der Lehre des Marxismus, überhaupt nicht gibt, so sind und bleiben die Antworten der Religion Hinweise auf das, was nicht existiert. Glaubt der Mensch an diese Hinweise, so betrügt er sich selbt. Daraus folgt: „Die Entfremdung (der Religion) liegt vor allem in den Antworten und weniger in den Fragen.“58 Die Fragen entstehen aus der Religion, insofern sie einen menschlichen Entwurf darstellt, deshalb sind sie allgemein menschlich und können vom Kommunismus integriert werden. Doch die Antworten der Religion entstehen aus ihrer Mystifikation der menschlichen Existenz, deshalb müssen sie abgelehnt und durch rationale Antworten ersetzt werden.

51    R. Garaudy, Vom Bannfluch ... S. 73.

52    R. Garaudy, a. a. O., S. 81—82.

53    Die Idee der Liebe als objektives Gesetz geistert auch in der katholischen Theologie von heute und wird durch die Formel „Entprivatisierung der Liebe“ ausgedrückt (vgl. vor allem J. B. Metz, Der Unglaube als theologisches Problem, in: Concilium 1965, Nr. 6, S. 489—490; Religion und Revolution, in: Neues Forum, Juni/Juli 1967, S. 464). Dabei bemerkt man jedoch nicht, daß die Entprivatisierung der Liebe, „gesellschaftlich mobilisiert“ (J. B. Metz), notwendigerweise zu ihrer Institutionalisierung und von da aus zum „Liebesministerium“ von G. Orwell (im Roman „1984“) führt. Die ostkirchlichen Religionsphilosophen haben sich schon vor Jahren mit der Idee der entprivatisierten und organisierten Liebe auseinandergesetzt und sie als unchristlich abgelehnt (vgl. S. Frank, Problema christianskago socializma / Das Problem des christlichen Sozalismus, in: Putj, 1939, Nr. 60, S. 18—39; N. Berdiaeff, De l’Esclavage et de la Liberty de 1'Homme, Paris 1946, S. 19—63, 113—129).

54    B. Bošnjak, Zum Sinn des Unglaubens, S. 44, 45.

55    R. Kalivoda, in: Neues Forum, Juni/Juli 1967, S. 471.

56 R. Garaudy, Vom Bannfluch ... S. 84.

57 R. Garaudy, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 78.

58   R. Garaudy, Vom Bannfluch ... S. 84.

 

7

Damit wird auch die Frage nach der weiteren Existenz der Religion gelöst. Die marxistischen Gesprächspartner im heutigen Dialog geben zu, daß die Religion „in jedem gesellschaftlichen System existieren“ kann und faktisch existiert, also auch im kommunistischen System.59 Allerdings liefert der Kommunismus „keine objektiven Bedingungen für ein weiteres Bestehen der Religion“. Indem er „das Privateigentum als Quelle der Exploitation“ aufhebt, entzieht er auch „der Religion ihre Existenzwurzeln, denn in der neuen Gesellschaft bestimmen die Menschen selbst die Art und das Wesen ihrer Existenz“; sie lassen sich nicht „von der Hoffnung auf ein Jenseits“ leiten, sondern sie unternehmen selbst, „den gesamten Inhalt hier auf Erden zu verwirklichen“. Die Religion „als eine Theorie des Jenseits trägt nicht mehr bei zur Verbesserung der wirklichen Existenz . . . Dadurch wird der Religion ihr Boden genommen, und sie stirbt ab . . . Die Religion als ein sozialer Trost wird zwecklos“60. Dann erübrigt sich auch die Frage der Christen, ob sie in der kommunistischen Gesellschaft oder im kommunistischen Staate „den Kampf gegen Unrecht, Ausbeutung und Unterdrückung führen“ können61, denn in der kommunistischen Gesellschaft werde es kein Unrecht, geschweige denn eine Ausbeutung oder Unterdrückung geben: diese werden bereits in der ersten Phase auf dem Wege zur Verwirklichung des Kommunismus beseitigt.62 Insofern also die Religion aus sozialer Not und Unterdrückung des Menschen entstanden ist und diese Situation authentisch widerspiegelt, hat sie in der kommunistischen Gesellschaft keine Existenzberechtigung und keine Zukunft mehr.

Doch die Religion verdankt ihre Entstehung nicht der sozialen Not allein. Außer den mitmenschlichen Beziehungen, die zur Unterdrückung und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geführt und somit die Verlegung der Hoffnung auf ein besseres Leben ins Jenseits verursacht

haben, besitzt der Mensch noch „das individuell-existierende Verhältnis zum Sein“ (S. 42), d. h. der Mensch will leben, und zwar ewig; gleichzeitig hat er „das Bewußtsein von seinem Tode“ (S. 47). Daraus entsteht ein schmerzliches und sogar tragisches Problem, nämlich die Frage „nach dem Sinn des Seins“ (S. 44). Beim Suchen nach der Beantwortung dieser Frage entsteht eben die Religion als Theorie vom Jenseits, wo das Leben ewig fortgesetzt wird, weil es im Diesseits unausweichlich ein Ende nimmt. Die Religion erweist sich dann „als Antithese zum Tode“ (S. 46), als Wunsch „nach dem Überwinden des Todes“ (S. 47), und „alle diejenigen, die an Gott glauben, glauben es, weil sie sich unsterblich wünschen“ S. 44).63 Das ist eine ganz andere Quelle der Religion, die nicht in der sozialen Mitmenschlichkeit, sondern in der Endlichkeit und Vergänglichkeit des Menschen als Individuum liegt.

So verstanden erweist sich die Religion als sehr zählebig, denn auch nach der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse „bleibt immer noch das individuelle Problem des Verhältnisses zum Tode, d. h. zum Wunsch nach der Unsterblichkeit“ (S. 45). Und solange dieser Wunsch besteht, bleibt auch die Religion als Antwort darauf bestehen. „Solange die Furcht vor dem Tode bestehen wird, sowie der Wunsch nach Unsterblichkeit, wird auch die Religion bestehen (S. 45) . . . ohne Rücksicht auf die Modi und Systeme, in denen man lebt“ (S. 48).64 In diesem Sinne erhält die Religion „ihre Kompensationsfunktion“ auch in der kommunistischen Gesellschaft.65 Selbstverständlich bedeutet das noch keine Anerkennung der Wahrheit der Religion. „Daß die Religion auch weiterhin andauert, ist noch kein Beweis ihrer Wahrhaftigkeit, sondern es ist bloß das Willenszeichen, derjenigen, die sich in der Hoffnung auf ein ewiges Leben aus dem natürlichen Lauf der Dinge absondem möchten.“66 Dieses Willenszeichen kann „nur durch ein rationales Verhältnis zum Sein überwunden werden“, nämlich, durch eine Einsicht, „daß der Mensch ein natürliches Wesen ist“ und daher „dem allgemeinen Wechsel in der Welt des Seins“ unterliegt (S. 46). Das setzt eine bestimmte Interpretation des Menschen und somit auch eine bestimmte Metaphysik voraus. Deshalb sagt Bošnjak: „Wer den Tod auf dem Boden der Philosophie überwindet, braucht keine Religion.“67 Doch „solange dieses nicht erzielt ist, wird auch die Religion nicht absterben, sondern sie wird auch weiterhin bestehen als eine Antithese zum Tode.“68 Diesen ausgesprochen Feuerbachschen Standpunkt — „der Glaube an die persönliche Unsterblichkeit ist ganz identisch mit dem Glauben an den persönlichen Gott“ (Ludwig Feuerbach) — teilt auch Karl Rahner als katholischer Gesprächspartner im Dialog mit Marxisten und sieht den Grund für das Weiterbestehen der Religion ebenfalls in der Erfahrung des Todes. „Keine ökonomische Veränderung und kein gesellschaftliches System werden verhindern können, daß der Mensch die Grenze seines Todes wissend erfährt und dadurch sich als ganzer in Frage stellt.“69 Gewiß kann man diese Frage, nach Rahner, unbeantwortet lassen, man kann sie sogar „für sinnlos“ erklären, aber mein kann nicht machen, daß sie sich nicht stellt: „Sie wird sich immer stellen“ (ebd.). Deshalb „wird es immer Menschen geben, die den Mut haben, diese Frage mit der Antwort der Religion der absoluten Zukunft zu beantworten“ (ebd.). Daraus folgt: „Weil diese Frage bleiben wird, wird auch die Religion sein“ (S. 23), und zwar nicht nur als persönlicher Glaube, sondern zugleich auch als Institution, denn der Glaube vollzieht sich „in kategorialen Begriffen, in konkreten Taten, in gesellschaftlicher Ordnung, kurz kirchlich . . . Gibt es also die Religion der Zukunft immer, dann wird es sie auch immer als gesellschaftliche Größe geben“ (S. 23).

Das öffentliche Bekenntnis der Marxisten zur Religion als bleibendem Phänomen in jedem gesellschaftlichen System hat seinerzeit im Westen großes Aufsehen erregt. Man sprach von „einer revidierten Auffassung von der Religion“ im Marxismus70; man sah darin „bisher unerhörte Chancen“ für die Existenz der Kirchen in Ostblockstaaten71; man vergaß jedoch zu fragen, in welchem Sinne die Marxisten das Weiterbleiben der Religion verstehen und als was sie im kommunistischen Staat existieren kann. Diese Frage hat nun der schon zitierte Prager Marxist E. Kolman von neuem aufgeworfen und ganz deutlich beantwortet. Indem er sich auf die Thesen B. Bošnjaks und K. Rahners bezieht und die Angst vor dem Tode als Quelle der Religion ohne weiteres anerkennt, erläutert er näher den Charakter dieser „Religion“ und ihrer Stellung in der kommunistischen Gesellschaft. „Die Angst vor dem Tode“, schreibt Kolman, „wird zwar auch in der kommunistischen Gesellschaft bestehen“, denn „im Rahmen einer absehbaren Zukunft wird die Frage nach der Unsterblichkeit des Menschen ungelöst bleiben“. Doch diese Angst vor dem Tode „wird sich nicht in Religion verwandeln“. Denn im Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft existieren in der kommunistischen Gesellschaft „gewisse gesellschaftliche Faktoren“, die gerade verhindern, daß das Angstgefühl „zu einem Bestandteil des gesellschaftlichen Bewußtseins wird“. Die Angst vor dem Tode wird in der kommunistischen Gesellschaft lediglich „als Kennzeichen einzelner Individuen bleiben, ähnlich der Furcht in der Dunkelheit, der Platzangst und den anderen Phobien“. K. Rahners These also, „die Religion wird in der künftigen Gesellschaft nicht nur als Weltanschauung, sondern auch als gesellschaftliche Institution erhalten bleiben“, sei, nach Kolman, irreführend, denn „im Kommunismus kann die Religion nicht ein Bestandteil des gesellschaftlichen Bewußtseins werden und daher sich auch nicht zu einer Institution entwickeln: sie kann hier „nur als eine seltsame atavistische Erscheinung möglich sein“72.

Man irrt sich also, wenn man glaubt, die Religion werde in der kommunistischen Gesellschaft als eine „gesellschaftliche Größe“ am Leben bleiben. Nein, sie kann hier nur als eine reine Privatsache sein, d. h. eine rein persönliche Überzeugung und Praxis, die im Vergleich mit der kommunistischen gesellschaftlichen Theorie und Praxis nur wie eine Art Atavismus erscheint und deshalb von denen, die ihr Verhältnis zum Sein rational bestimmen, nicht geteilt wird. Wie heute, in der Epoche der Wissenschaft, neben der Astronomie auch die Astrologie am Leben ist, so kann auch im verwirklichten Kommunismus die Religion bestehen. Aber sie besteht hier nicht als eine reale Kraft, sondern als ein lächerliches und bedauernswertes Überbleibsel, von dem man in kultivierten Kreisen nicht spricht. Die Religion ist unsterblich, wie der Aberglaube unsterblich ist. Jeder realistisch denkende Marxist wird das ohne weiteres zugeben. Sollten sich aber die Christen darüber freuen, es als Mut bezeichnen und darin „unerhörte Chancen“ sehen?

59   B. Bošnjak, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 117; vgl. auch E. Kad-lecova, in: Disputation zwischen Christen und Marxisten, S. 253.

60   B. Bošnjak, Zum Sinn des Unglaubens, S. 38.

61   K. Rahner, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 325.

62 Vgl. K. Marx, Zur Kritik des Gothaer Programms, in: Marx-Engels Werke, Bd. 19, S. 21; W. I. Lenin, Werke II, S. 229.

63 B. Bošnjak, Zum Sinn des Unglaubens, S. 44—47.

64 B. Bošnjak, a. a. O., S. 45, 48.

65 E. Kadlecova, in: Disputation zwischen Christen und Marxisten, S. 253.

66 B. Bošnjak, Zum Sinn des Unglaubens, S. 42—43.

67   B. Bošnjak, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 118.

68  B. Bošnjak, Zum Sinn des Unglaubens, S. 46.

69 K. Rahner, Marxistische Utopie und christliche Zukunft des Menschen, in: Der Dialog, S. 22.

70 Vgl. Herder-Korrespondenz, Juni 1965, S. +18.

71 Vgl. Wort und Wahrheit, 1965, Nr. 6/7, S. 480.

72 E. Kohnan, Dialog ili bratanie (Dialog oder Verbrüderung)? in „Sovetskaja kultura“, 1967, Nr. 99.

 

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Im Lichte dieser Auffassung vom Bestehen der Religion in der kommunistischen Gesellschaft wird auch die Frage nach der Toleranz religiöser Überzeugungen und Praktiken in der zukünftigen Gesellschaft viel klarer; eine Frage, die die Marxisten als Gesprächspartner nie eindeutig beantwortet haben. Diese Frage ist für die Christen von lebenswichtiger Bedeutung, denn, wie J. Y. Calvez sehr richtig bemerkt, „Dialoge sind möglich und wünschenswert unter allen möglichen Verhältnissen, aber in einer Gemeinschaft gemeinsam zu leben, ist eine andere Sache“73. Das ist um so richtiger, da die Marxisten einen Dialog immer mit Christen der westlichen Welt, nie aber mit Christen der vom Kommunismus beherrschten Länder anstreben. Mit Recht drängen deshalb die christlichen Gesprächspartner auf eine klare Beantwortung der Frage, ob die kommunistische Gesellschaft aufrichtig bereit ist, gegenüber der Religion Toleranz auszuüben. Eine rein abstrakte These, wie sie V. Pavicevič (Belgrad) in Salzburg formulierte, „daß sich aus der marxistischen Lehre selbst praktische Stellungnahmen der Toleranz und des Humanismus gegenüber den gläubigen Menschen ergeben können“74, genügt nicht, denn diese Möglichkeit, falls sie auch bestünde, widerspricht der bisherigen kommunistischen Wirklichkeit, in der die Kirche sich als Fremdling fühlt, aus der sie geistig ausgestoßen ist und von der sie als Trägerin des Aberglaubens stets verhöhnt wird.75 Indes ist die Toleranz und Koexistenz, für die die Marxisten als Gesprächspartner jetzt so intensiv plädieren, etwas ganz anderes. „Eine Koexistenz zwischen Marxismus und Christentum kommt für uns (Christen, Vf.) erst dann in Frage, wenn die marxistische Seite davon abläßt, alle Staatsbürger auf den dialektischen und historischen Materialismus zu verpflichten, und wenn auch den Gläubigen das Recht und die praktische Möglichkeit zuerkannt wird, auch ihre Überzeugung frei zu propagieren, ohne mit irgendwelchen unliebsamen Konsequenzen rechnen zu müssen.“76 Ist das aber in der kommunistischen Gesellschaft überhaupt möglich, wenn diese Gesellschaft kommunistisch bleiben will?

Viele marxistische Gesprächspartner (Flamengo, Garaudy, Gruppi, Holit-scher, Kalivoda, Lombardo-Radice, Macbovec, di Marco, Pavicevič, Prucha) versuchen heute, die Christen damit zu beschwichtigen, daß sie öffentlich beteuern, der Marxismus überprüfe seine Haltung gegenüber der Religion, er müsse nicht unbedingt in seiner Praxis atheistisch sein, Lenins Verhalten zur Religion sei unzureichend und müsse deshalb revidiert werden, die Religion bedeute nicht immer eine Form der Entfremdung, das Streben nach dem Sozialismus könne auch aus christlichen Motiven hergeleitet werden usw.77 Damit wird der Eindruck geweckt, man befinde sich wirklich vor einer inneren Wandlung des Kommunismus zugunsten der Religion. Doch diesen Eindruck korrigiert, die kommunistische Stellung zur Tolerierung der Religion beschreibt schonungslos E. Kolman in dem schon zitierten Beitrag. Da dieser Aufsatz unmittelbar nach dem Treffen von Christen und Marxisten in Marienbad erschienen ist und sich direkt mit den dort geäußerten Ansichten (vor allem Bošnjaks, Garaudys und Rahners) auseinandersetzt, bekommt er einen beinahe offiziellen Charakter. Man will mit ihm wahrscheinlich den Ostmarxisten zeigen, worin der wahre Sinn all der marxistischen Aussagen im Dialog liegt. Es ist deshalb von großer Wichtigkeit, Kolmans Korrektur zu zitieren.

Der Kommunismus sei, nach Kolman, nicht bereit, die Religion „im Selbstlauf (na samotek)“ zuzulassen und zu ihr sich „nach einer humanen Toleranz“ zu verhalten, wie dies die Christen fordern. Allerdings erkennt auch Kolman den ideologischen Pluralismus an und verwirft „das Streben nach Uniformität auf dem Gebiete der Ideologie“, unterstützt durch „administrative Methoden“. Doch gerade die Religion besitze kein Recht, an diesem Pluralismus teilzunehmen. Das folgende Beispiel Kolmans soll seine Interpretation veranschaulichen und begründen. „Es ist doch nicht dasselbe“, sagt er, „ob in der Medizin verschiedene Hypothesen miteinander streiten oder ob antiwissenschaftliche Kurpfuschermethoden um sich greifen. Im ersten Fall soll die Gesellschaft den Wissenschaftlern volle Freiheit der Diskussion gewähren, im zweiten Fall soll sie den Menschen vor einer möglichen Schädigung seiner Gesundheit schützen“. Wenn der Marxismus die Religion in dem Sinne deutet, daß sie „den Menschen schwächt, ihn

benebelt, ihn vom Kampf um die Verbesserung des realen Lebens wegführt, indem sie ihn zu einer nichtexistierenden Jenseitigen Welt“ lockt, so ist er sogar verpflichtet, der Religiosität den Kampf anzusagen, zwar nicht mit gewalttätigen Mitteln, aber doch auf dem Wege der Entfernung aus der Gesellschaft von all dem, was die Wurzeln der Religion noch nährt . . . Im Interesse der positiven Humanität war und ist der Marxismus ein kämpferischer Atheismus“78.

Diese schonungslose Offenheit Kolmans sollte eigentlich keine Überraschung für die Christen als Gesprächspartner sein, denn ähnliche Gedanken sind marxistischerseits auch im Dialog selbst hie und da geäußert worden. Derselbe Bošnjak, zum Beispiel, der das Bestehen der Religion als Antithese zum Tode so stark betont, verzichtet keineswegs auf die Bekämpfung dieser Antithese. „Denn die Religion“, sagt er, „bleibt für den Marxismus ein Opium, ohne Rücksicht darauf, um welche Religion es sich handelt“ (S. 57), und auf die W'orte Marxens, die Religion sei „die imaginären Blumen an der Kette“, hinweisend, fährt er fort: „Solche Blumen, die die Ketten schmücken, muß man loswerden, um so schnell wie möglich auch von den Ketten frei zu sein.“79 Das heißt: die Religion verschönert die Versklavung des Menschen in der Welt. Sind aber die Ketten ohne die Blumen, so werden sie in ihrer ganzen Grausamkeit und Schwere gesehen, schneller als Versklavung empfunden und deshalb auch schneller zerrissen. Wie könnte also der Marxismus ruhig zusehen, wie die Religion als eine illusorische Blume die Versklavung des Menschen ausschmückt und sie erträglich macht? Wenn nun auch christliche Gesprächspartner die Rehgion als Antwort auf die Erfahrung des Todes (K. Rahner) oder auf die Diskrepanz des Menschen zu sich selbst (J. B. Metz) verstehen, so bestätigen sie nur die marxistische Deutung, daß die Religion tatsächlich unserem Jammertal einen Heiligenschein (Marx) aufsetzt, ohne den Jammer selbst zu überwinden, denn die Antwort der Rehgion beseitigt weder den Tod noch die Diskrepanz. Die Vertröstung des Menschen auf das Jenseits kann nur dann gerechtfertigt werden, wenn dieses Jenseits existiert. Der Wunsch danach ist kein Beweis dafür: „Mein Durst beweist nicht die Quelle“80, bemerkt Garaudy sehr treffend dazu. Unternimmt nun jemand, den Durst ohne die Quelle zu löschen, so betrügt er die Menschen und darf sich nicht auf die Toleranz oder den Pluralismus berufen. Solange also die marxistische Auffassung der Religion als Illusion besteht, kann man nicht erwarten, daß der Marxismus diese Illusion wohlwollend behandelt und ihre Verbreitung in der kommunistischen Gesellschaft zuläßt.

Wie dieser Überblick über den Verlauf und die religiöse Problematik des Dialogs zwischen Christen und Marxisten zeigt, ist — nach dem bisherigen Gespräch — keine Wandlung der kommunistischen Einstellung zur Religion festzustellen. Im Gegenteil, der Dialog hat die Grundthesen der marxistischen Religionsauffassung gerade bestätigt, indem er ihren wahren Sinn verdeutlicht oder schärfer formuliert hat, nämlich:

1.    Gott ist keine Wirklichkeit, sondern nur eine menschliche Idee; von dieser Idee kann man wohl miteinander sprechen, nicht aber von Gott als Sein; daher ist jedes Sprechen von Gott ein Sprechen vom Menschen.

2.    Die Religion ist eine entfremdete Beziehung des Menschen zu sich selbst; findet ein Gespräch über die Religion statt, so soll es diese Beziehung berichtigen, indem es ihre Mystifikation bloßlegt und überwindet; in diesem Sinne ist das Gespräch über die Religion für die Marxisten sehr wünschenswert.

5. Die Dauer der Religion hängt sowohl von der ökonomischen Situation des Menschen als auch von seinem Verhalten zum Dasein ab. Die Religion als Trost in materieller Not ist vom Kommunismus radikal überwunden worden und besitzt keine Existenzberechtigung mehr; doch die Religion als Antithese zum Tode und als Theorie vom Jenseits bleibt auch in der kommunistischen Gesellschaft bestehen, jedoch bloß als ein Atavismus, der erst auf Grund einer rationalen Auslegung des menschlichen Wesens als Naturwesen langsam absterben wird.

4.    Die Religion darf am ideologischen Pluralismus der kommunistischen Gesellschaft, der auf den Gebieten der Kunst, der Wissenschaft und sogar der Philosophie sich immer deutlicher abzeichnet, keinen Anteil haben, denn sie wird hier lediglich als eine reine Privatsache im Sinne eines Aberglaubens geduldet.

5.    Im Dialog selbst sind die Aussagen von Westmarxisten sehr oft verschwommen und zweideutig; sie werden aber von Ostmarxisten richtiggestellt; in dieser Hinsicht ist der Dialog für die Christen sehr aufschlußreich. Dadurch aber verliert er seine innere Widersprüchlichkeit nicht, die in der Überzeugung der beiden Gesprächspartner, im Besitztum der Wahrheit zu sein, besteht: als kollektive Wahrheitssuche ist dieser Dialog unmöglich.81

73   J. Y. Calvez, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 273.

74   V. Pavicevič, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 125.

75 Wie fremd sich die Kirche in der kommunistischen Gesellschaft fühlt, sollen zwei Briefe von einem katholischen Priester aus Sowjet-Litauen und von einem evangelischen Lehrer aus der deutschen Ostzone veranschaulichen. Der katholische Priester schreibt: „Die Zeitungen sind voll von Überlegungen, wie man die Leute von der Kirche entfernen könnte. Es werden alte heidnische Bräuche propagiert, um die christlichen Sitten auszurotten. Wie soll sich der Gläubige in diesem Strudel der Propaganda fühlen? Was für eine Stimmung sollen die Geistlichen haben? Die ersten Christen sind heldenhaft für Christus gestorben. Auch heute würde es viele geben, die bereit sind, für den Glauben zu sterben. Aber niemand verlangt das. Der glaubende Mensch soll heute eben nicht sterben, er soll sich abnutzen, ersticken, vermodern: er soll als Unbekannter, Verstoßener, Verfemter, beinahe Anomaler existieren. Das ist die größte menschliche Tragödie, denn das ist die Verwandlung des lebendigen Menschen in eine Leiche. Ich habe nichts gegen den Atheismus, der nach Wahrheit sucht, denn er wird eines Tages doch vor Gott auf die Knie fallen. Aber ich hasse den verleumderischen und gott-lästernden Atheismus, vor allem, wenn er nicht erlaubt, daß die verleumdete Seite sich rechtfertigt“ (in: Draugas, Chicago, vom 12. 11. 1963). — Der evangelische Lehrer aus Mitteldeutschland schildert die gleiche Lage: „Ich fürchte zuerst für die Kirche. Nicht so sehr für die in großen Städten, in denen die Menschen nahe beisammen wohnen und wo es sich herumspricht, wenn Schikanen stattfinden. Aber ich fürchte für die Landpfarrer in den unkirchlichen Gegenden Sachsens und den Industriegebieten von Anhalt. In einem Maße sind diese Familien einem Druck ausgesetzt, wie es sich wohl schwerlich die Menschen Westdeutschlands vorstellen können. Um ihrer Herkunft und ihrer Weltanschauung willen werden sie verachtet und verfolgt. Nicht nur die Bürgermeister der Dörfer, nicht nur die Behörden, sondern Einzelpersonen, Parteifunktionäre und Lehrer in den Schulen, Verkäufer in den Geschäften lassen ihre Launen an ihnen aus. Sie bekommen weniger Wohnraum, von den rationierten Lebensmitteln weniger als andere; ihre Kinder werden in den Schulen verächtlich behandelt. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man das Wort Märtyrer auf diese Pfarrersleute und vor allem ihre Kinder anwendet. Sie werden offentlich verlacht und verhöhnt wegen ihres Glaubens, der den Materialisten als lächerlicher Aberglaube gilt. Sie stehen mit wenigen treuen Gemeindegliedern allein gegen eine bösartige und gleichgültige Masse“ (in: Christ und Welt, vom 13. 10. 1961). Wie diese zwei Zeugnisse beweisen, empfindet sich die Kirche in der kommunistischen Gesellschaft — sei diese eine deutsche oder eine litauische — seelisch fremd, ja lächerlich. Das Gefühl der Fremdheit der ersten Christen, das aus der damaligen eschatologischen Erwartung entstand, verwandelt sich heute in die sozialpsychologische Fremdheit, die die Christen psychisch zermürbt und ihre Tätigkeit lähmt. Das ist die Tatsache, die bei der Beurteilung der Lage der Kirche im kommunistischen Raum viel zu wenig beachtet wird.

76   G. A. Wetler, in: Christentum und Marxismus — heute, S. 309.

77   Darüber haben die Marxisten als Gesprächspartner sehr interessante Aussagen vor allem in Salzburg 1965 (vgl. Christentum und Marxismus — heute, S. 87, 124, 282—283, 285, 291, 311) und teilweise auch in Marienbad 1967 (vgl. Neues Forum, Juni/Juli 1967, S. 471, 473, 475—479, 483) gemacht.

78 E. Kolman, ebd.

79 B. Bošnjak, Zum Sinn des Unglaubens, S. 57, 62.

80 R. Garaudy, Vom Bannfluch ... S. 87.

81 In diesem Sinne hat sich neuerdings Georg Lukacs (1885), der in Deutschland auch gut bekannte ungarische marxistische Philosoph, geäußert und somit unsere Schlußfolgerungen unerwartet bestätigt. Vom Korrespondenten der Wochenschrift „Publik“ gefragt, welcher Ansicht er über „den seit einiger Zeit geführten Dialog“ zwischen Marxisten und Theologen sei, antwortete Lukacs: „Ich bin absolut für den Dialog, aber ohne Überschätzung dieses Dialogs. Denn dieser Dialog ist für uns Marxisten — ich sage das ganz offen — dazu da, um unsere abweichende Haltung von den heutigen religiösen Reformbestrebungen abzugrenzen. Ich glaube keinesfalls daran, daß wir Marxisten hier zu einem Dritten kommen würden, das eine Synthese von Thomas v. Aquin und Marx bedeuten könnte. Das mag zwar ein wahltaktischer Trick für bestimmte Parteien sein, ernsthaft ist in dieser Richtung aber nichts zu erwarten. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß wir in der Frage von Pille, Scheidung usw. sehr wohl auf einem einheitlichen Standpunkt stehen können“ (Publik vom 16. Mai 1969, S. 18).

 

II. Exkurs

Die Gottbildner im Marxismus

Zum Abschluß dieser Darlegungen soll noch kurz eine Erscheinung im Marxismus berührt werden, die von den sowjetischen Ideologen zwar als überwunden betrachtet wird, die jedoch immer aufflackert, wenn die Marxisten im Dialog mit den Christen aufrichtig von der Religion sprechen. Das ist die Erscheinung des sog. Gottbildnertums. Die gegenwärtige, hie und da seitens der marxistischen Gesprächspartner gezeigte Bereitschaft, die Religion auch in der kommunistischen Gesellschaft leben zu lassen (B. Bošnjak), ja die religiösen Werte sogar in das kommunistische Wertsystem einzubauen (R. Garaudy, Lombardo-Radice)1, ist im wesentlichen nichts anderes als die alte Sprache der „Gottbildner“ um die Jahrhundertwende; eine Sprache, in der Gott als objektive Wirklichkeit ausgeklammert, die Religion als subjektive Einstellung dagegen um so mehr betont wird. Das Verständnis dieser Sprache kann uns deshalb helfen, all jene Äußerungen, die wir heute im Westen von den Marxisten über die Religion hören, richtig zu bewerten und vor allem in ihrem eigenthchen Sinn zu begreifen.

Um die Jahrhundertwende entstand im russischen Marxismus eine bemerkenswerte Bewegung. Der Materialismus, der damals auch unter den gebildeten Marxisten immer noch einen stark mechanistischen Charakter hatte, befriedigte viele tiefer denkende Menschen nicht, und sie bemühten sich, die Frage zu klären, ob es wirklich nichts gibt außer der sich „rechts und links und nach allen Seiten“ bewegenden Materie, wie schon Goethe den Materialismus Holbachs ironisierte (vgl. Dichtung und Wahrheit, 11. Buch). Aus dieser Bemühung gingen zwei Strömungen hervor: die Gottsucher (bogoiskateh) und die Gottbildner (bogostroiteli). Die Gottsucher fragten nach einem objektiv existierenden Gott und fanden ihn im Sein, während die Gottbildner versuchten, den Menschen selbst zur göttlichen Ebene zu erheben — nach dem Feuerbachschen Prinzip „homo homini deus“. Die erste Richtung mündete in das Christentum: die bekanntesten marxistischen Gottsucher — N. Berdjaev, S. Bulgakov, S. Frank, P. Struve — konvertierten zur Orthodoxie und wurden Religionsphilosophen und Theologen.2 Die zweite Richtung wurde von der bolschewistischen Partei scharf angegriffen und verurteilt, obwohl sie selbst sich als marxistisch betrachtete und den Marxismus vollenden wollte. — Was waren diese Gottbildner?

Als wir von der Feuerbachschen Auffassung Gottes als Gattungswesen des Menschen selbst, sprachen, sagten wir, daß Feuerbach die Religion keineswegs ablehnt: er will sie nicht abschaffen, sondern nur vollenden, und zwar dadurch, daß er ihr Objekt ändert. Anstatt die Herrlichkeit Gottes als transzendenten Wesens zu preisen, soll der Mensch „die Herrlichkeit des eigenen Wesens“ preisen. Das Preisen als Ausdruck der Religion soll jedoch auch weiterhin erhalten bleiben. Feuerbach selbst beteuert ja, er sei nicht „gegen das menschliche Wesen der Religion“; im Gegenteil, Gott als das ideale Wesen des Menschen sei „ein auserlesener Gegenstand“ der Religion. In der Religion als Beziehung des Menschen zu sich selbst wird sich der Mensch seiner Erhabenheit und Herrlichkeit gerade bewußt: „Das Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewußtsein des Menschen.“3 All das, was der Mensch Gott zuschreibt, besitzt er selbst. Begreift er das, so geht er mit sich selbst eine religiöse Beziehung ein: die übernatürliche Religion überläßt ihre Stellung der natürlichen oder menschlichen Religion, in deren Mittelpunkt nun der Mensch selbst steht. Feuerbachs Absicht war es, uns zum Bewußtsein zu bringen, daß die religiösen Mysterien nicht die einer übernatürlichen Welt, sondern „die Mysterien der menschlichen Natur“ seien (I, 21).

Eben diese Feuerbachsche Einstellung zur Religion versuchten nun die russischen Gottbildner konkret zu entwickeln und im Marxismus selbst zu verwirklichen. Im Jahre 1908 erschien in Petersburg ein zweibändiges Werk von Anatolij Lunačarskij (1875—1933), dem späteren Volkskommissar für Bildungswesen der föderativen russischen Republik der Sowjetunion, betitelt „Religion und Sozialismus“. Dieses Buch ist, wie Lunačarskij im Vorwort schreibt, ein Versuch, „das Verhältnis der Religion zum Sozialismus“ zu klären.4 Lunačarskij gibt zwar zu, daß der Sozialismus die Religion als Glauben an einen transzendenten Gott ablehnt. Doch er fragt, wie sich der Sozialismus und speziell der Marxismus zur Religion im Sinne Feuerbachs verhält, nämlich im Sinne der Beziehung des Menschen zu sich selbst als ideales Gattungswesen. Lehnt der Marxismus die Religion auch in diesem Sinne ab? Erkennt er nicht an, daß das ideale Gattungswesen des Menschen diesem alles ersetzt, was er früher von Gott erwartete? Lunačarskijs Antwort fällt für die Feuerbachsche Religion positiv aus, und er versucht diese Antwort in seinem Buch zu begründen.

Der Marxismus erschöpfe sich, nach Lunačarskij, nicht in seinen rein theoretischen und praktischen Momenten; er enthalte in sich auch ein drittes Element, nämlich das Religiöse. Marxens „Philosophie ist eine Religionsphilosophie“, behauptet Lunačarskij überraschend (II, 326). Das folge von selbst aus der Auffassung der Religion. Die Religion sei, nach Lunačarskij, „die Lösung der Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt“, und zwar eine durchaus praktische Lösung (I, 28). Wer diese Frage löst, hat die Religion, mag diese ein Glaube an Gott oder „ohne Gott“ (I, 29) sein. Nun gibt ja der Marxismus auf die Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt eine ganz eindeutige und konkrete Antwort; mehr noch: er löst diese Frage sogar praktisch, indem er den Kampf des Menschen mit der Natur organisiert, um sie dem menschlichen Geiste zu unterwerfen. Er verkündet den Sieg des Menschen über die Natur und objektiviert diesen Sieg durch die Wissenschaft und Technik. Eben darin liege der religiöse Charakter des Marxismus (vgl. I, 48—49). Marx rechtfertigt weder Gott noch die Welt. Er interpretiert die Welt nicht so, daß der Mensch darin Trost findet; im Gegenteil, Marx zeigt dem Menschen die Welt als verkehrt, er stellt ein Ideal auf und beweist, daß weder die Natur noch die Gesellschaft diesem Ideal entsprechen; er fordert deshalb den Menschen auf, die Natur und die Gesellschaft zu verändern, damit diese die Bedürfnisse des Menschen befriedigen (vgl. II, 535). Das ist eben das praktische Verhältnis des Menschen zur Welt wie auch in jeder Religion, mit dem Unterschied allerdings, daß die Religionen die Verwirklichung ihres Ideals ins Jenseits verlegen, während der Marxismus sein Ideal im Diesseits zu verwirklichen sucht. Das Ideal selbst aber umfaßt alles, was das menschliche Leben am Werthaften nur bieten kann: das marxistische Ideal sei das integrale Ideal. Deshalb kann es ohne Bedenken an die Stelle jedes religiösen Ideals treten; ja, es muß sogar an dessen Stelle treten, denn der Marxismus unterscheidet nicht zwischen Theorie und Praxis. Die Verkündigung des Ideals und seine Verwirklichung sind im Marxsmus „aus ein und demselben Stück“ geschmiedet (I, 17).

Aus diesem Grund eben sei der Marxismus, nach Lunačarskij, eine Religion. Mit dem Verschwinden des transzendenten Gottes höre die Religion beileibe nicht auf. „Die Religion ist lebendig und sie wird lebendig bleiben (hören wir nicht in diesen Worten B. Bošnjak?, Vf.); sie hat nur ihre Form völlig verändert“ (I, 42). Anstelle der Religion als Glaube an einen transzendenten Gott tritt nun eine andere Religion als Glaube an den Menschen: „Gott ist die Menschlichkeit in der höchsten Potenz“, sagt Lunačarskij, Feuerbach folgend, in seiner Studie über den Atheismus.5 Denken und erleben wir diese Potenz als Ideal, umgeben wir sie mit einer inneren Achtung und äußeren Glorie, so haben wir wieder einen Gott, den wir lieben und verehren können. „Die Vorstellung von Gott“, sagt Lunačarskij, „hat doch immer etwas ewig Schönes“ (ebd.). Warum müßten wir auf dieses Schöne verzichten? Warum sollten wir das übersehen oder gar leugnen? „Die Trauer ist doch immer im Menschen lebendig, und wer nicht versteht, die Welt religiös zu denken, ist zum Pessimismus verurteilt, wenn er noch kein Spießbürger ist.“6 Man müsse also den Marxismus so verkündigen, daß das religiöse Denken der Welt zum Ausdruck kommt und die Menschen begeistert, wie sie die alten Religionen begeistert haben. Eine rein wissenschaftliche oder klassenhafte Auslegung des Marxismus sei zu eng. Der Marxismus solle die Sympathie aller fortschrittlichen Menschen erobern. Das kann man aber erst dann erreichen, wenn das marxistische Ideal sich in all seiner Schönheit und Lebendigkeit zeigt (vgl. I, 14, 17). Dazu gehört eben das religiöse Moment als konkrete Verkörperung dieses Ideals. Deshalb ruft Lunačarskij am Schluß seiner Studie über den Atheismus etwas pathetisch aus: „Werfen wir ab den alten Mantel des grauen Materialismus! Wenn unsere Materialisten munter und aktiv sind, so sind sie es trotz ihres Materialismus und nicht dank dem Materialismus . . . Das Proletariat bedarf einer harmonischen Synthese . . . Und wir suchen sie nach Kräften . . . Wir suchen sie freudenvoll und fleißig.“7 Dieses Suchen nach dem religiösen Moment im Marxismus bedeutet keineswegs eine Bemühung, die Religion im traditionellen Sinne in den Marxismus einzubauen und ihn dadurch zu ergänzen, wie dies heute, zum Beispiel, M. Reding möchte.8 Lunačarskij will den Marxismus selbst zur Religion entwickeln und ihn zum Rang der fünften Religion der Erde — neben dem Hinduismus, dem Konfuzianismus, dem Islam und dem Christentum — erheben. Das soll eine Religion „ohne Gott“ sein; eine Religion, deren Grundlage in der Hoffnung auf den menschlichen Sieg über die Natur besteht, so daß wir, sagt Lunačarskij, „mit dem Apostel Paulus sagen können: ,Wir sind in der Hoffnung gerettet“9, nämlich in der Hoffnung, daß wir eines Tages die Natur so vollkommen beherrschen, daß daraus das vollkommene und selige Dasein entsteht. Allerdings sieht Luna-carskij den Unterschied zwischen dieser neuen Religion ohne Gott und den früheren Religionen mit Gott darin, daß die früheren Religionen dem Menschen „die absolute Garantie des Sieges des Guten“ gaben, während der Marxismus als Religion „voll und ganz im Handeln aufgeht“ und deshalb keinen Erfolg im voraus verspricht: die vollkommene Beherrschung der Natur oder die Erfüllung der Hoffnung und damit auch der Erlösung hängt von der Tätigkeit des Menschen ab. Ungeachtet dieses Unterschiedes besteht Lunačarskij darauf, daß der Marxismus eine Religion werden kann und soll: „Die neue Religion, die Religion des Menschtums und der Arbeit gibt keine Garantie. Und trotzdem nehme ich an, daß sie auch ohne Gott und ohne die Garantie — die Maske desselben Gottes — eine Religion bleibt“ (I, 49).

Wie weit Lunačarskij in dieser Richtung ging, veranschaulicht uns das „Vater unser“ der neuen Religion, das er verfaßte und das folgendermaßen lautet: „Zu uns komme Dein Reich — regnum gloriae, der Sieg des vernünftigen Wesens über seine schöne, aber unvernünftige Schwester Natur. Dein Wille geschehe — es verwirkliche sich der Wille des Hausherms (cho-

zjajskaja volja) von einem Ende der Welt bis zum anderen. Geheiligt werde Dein Name — auf den Thron der Welt setze sich jemand, der das Gesicht des Menschen trägt und den die Welt durch den Mund aller lebenden und toten Naturkräfte anbetet: Heilig, heihg, heilig! Himmel und Erde sind erfüllt von seiner Herrlichkeit.“10 Mit diesem Gebet wollte Luna-čarskij, wie einst auch Feuerbach11, das religiöse Gefühl von neuem auffrischen und somit den Marxismus auch für diejenigen annehmbar machen, die an einen transzendenten Gott nicht glauben, das Leben jedoch nicht nur materialistisch deuten wollen. Damit bekommt die Bemühung Lunačarskijs eine aktuelle Note, denn die heutigen marxistischen Kontakte mit den Christen gehen deutlich in die Richtung der ehemaligen Gottbildner: die Religion laut anzuerkennen, ja sie sogar zu fördern, vom Gott aber zu schweigen und ihn aus dem Denken als eine logisch überflüssige Hypothese auszuschließen.

Für uns ist es vor allem interessant, wie die damaligen Marxisten auf diese Bemühung Lunačarskijs und der anderen — zu den Gottbildnem zählte sich auch Maxim Gorkij — reagierten. Am ausführlichsten beschäftigte sich mit dem Gottbildnertum G. Plechanov. In seiner langen Abhandlung über „Das sogenannte religiöse Suchen in Rußland“ (in „Sovremennyj mir — Die gegenwärtige Welt“ 1909, Nr. 9—12)12 untersucht er die damalige Tendenz russischer Intellektuellen, eine Rehgion ohne Gott zu schaffen, und kritisiert derartige Bemühungen bei Leo Tolstoj, Maxim Gorkij, Dmitrij Merežkovskij und Lunačarskij. Die Ansichten Tolstojs und Merežkovskijs interessieren uns an dieser Stelle nicht, denn sie waren keine Gottbildner in dem hier gemeinten Sinne, wenn auch ihr Suchen nach Gott aus der damaligen allgemeinen Stimmung entstanden war. Gorkij sagt im wesentlichen dasselbe wie Lunačarskij (über Gorkij etwas später im Zusammenhang mit Lenins Kritik des Gottbildnertums). Plechanovs Einwände gegen Lunačarskij sind für uns deshalb die wichtigsten und aufschlußreichsten.

In seiner Kritik weist Plechanov zuerst darauf hin, daß der Marxismus lehrt, der Mensch könne die Wahrheit auf dem Wege des Studiums der Natur erkennen und seine Ideale und Wünsche durch die Verwirklichung der Naturgesetze erreichen. Folglich brauche er keinen Mystizismus, keine Vergöttlichung seiner Menschlichkeit, keine Gebete und keinen Kult. Die Mystifizierung des Menschen bedeutet gerade Abweichung vom Marxismus (vgl. III, 380). Das Wesentliche jedoch, das Plechanov gegen Lunačarskij, Gorkij und die anderen Gottbildner anführt, ist folgendes: „Die Vergöttlichung setzt die religiöse Haltung zum vergöttlichten Objekt voraus“ (III, 378). Wenn das Menschtum, wie Lunačarskij es will, vergöttlicht werden soll, wenn wir es mit einem mystischen Schleier umgeben, so müssen wir uns zu diesem Menschtum auch so verhalten, als ob es ein transzendent existierender Gott wäre. Wir konstruieren also selbst einen Gott, der wir eigentlich selbst sind, und fallen vor ihm nieder; wir beten ihn genauso innig und aufrichtig an, als ob er über uns existiere. Das sei, nach Plechanov, ein Widerspruch: nachdem der Mensch erkannt hat, daß Gott nichts anderes ist als sein eigenes irrtümlicherweise ins Jenseits projiziertes Wesen, kann er sich nicht zu diesem Wesen so verhalten, als ob es ein über uns thronendes Du wäre, das unsere Gebete hört und erhört. In der Epoche der Religion mit Gott hat der Mensch sich selbst unbewußt betrogen, indem er Gott anbetete, denn er betete eigentlich nur sich selbst an, jedoch ohne es zu wissen. Nun in der Epoche der neuen von den Gottbildnem konstruierten Religion ohne Gott betrügt der Mensch sich selbst bewußt: er betet sich selbst an, indem er seine eigene Menschlichkeit zur höchsten Potenz erhebt. Diesen bewußten Selbstbetrug betrachtet Plechanov, wie dann auch Lenin, als eine Erniedrigung des Menschen. Wenn es keinen objektiv existierenden Gott gibt, so ist jede Beibehaltung einer religiösen Vergöttlichung oder Anbetung sinnlos. Deshalb betont er entschieden: „Eine Religion ohne Gott gibt es nicht“ (III, 377).

Bald sprach auch die Partei ihr Wort über das Gottbildnertum. Im Juli 1909 wurde eine Versammlung der erweiterten Redaktion der Zeitschrift „Proletarij — der Proletarier“ veranstaltet, und diese Versammlung verurteilte das Gottbildnertum als „eine Strömung, die mit den Grundlagen des Marxismus bricht und Schaden . . . für die Aufklärung der Arbeitermassen bringt“; die Versammlung erklärte das Gottbildnertum für „eine Form des Kampfes der Kleinbourgeoisie gegen den proletarischen Sozialismus oder Marxismus“; sie rief alle Marxisten zum Kampf „mit derartigen Tendenzen“ auf und verlangte die Entlarvung „ihres antimarxistischen Charakters“13.

Am schärfsten jedoch äußerte sich Lenin gegen das Gottbildnertum in einem Brief an M. Gorkij im Jahre 1913. Gorkij billigte nämlich die Theorie Lunačarskijs und trug mit seiner Erzählung „Die Beichte“ (1908), die Plechanov „eine Predigt der neuen Religion“ nannte (III, 389), vieles dazu bei, daß diese Theorie auch in die Literatur einging. Schon im Jahre 1907 antwortete M. Gorkij auf die Rundfrage des „Mercure de France“, ob wir heute die Auflösung oder eine Entwicklung der religiösen Idee erleben, im Sinne des Gottbildnertums: „Die unzweifelhafte Erkenntnis des Fortschrittes soll im Menschen das religiöse Gefühl wecken, d. h. ein kompliziertes schöpferisches Gefühl des Glaubens an seine Kräfte, ein Gefühl der Hoffnung auf den Sieg, ein Gefühl der Liebe zum Leben. Der Sozialismus bedeutet ja einen Wettbewerb mit der Vergangenheit und der Zukunft in Wissenschaft und Kunst; das ist ein Gefühl der Verbindung mit dem, was

war und was noch kommen wird; deshalb sollte das religiöse Gefühl nur wachsen.“14 Welchen Sinn dieses Wachsen des religiösen Gefühls bei Gorkij hat, klärte er später in einem Artikel, veröffentlicht in der Zeitschrift „Russkoe slovo — das russische Wort“ (vom 27. Oktober 1913). In diesem Artikel distanziert sich Gorkij vom Gottsuchen und bekennt sich zum Gottbilden: „Es gibt nichts zu suchen, wo man nichts hingelegt hat. Wer nicht sät, wird auch nicht ernten. Ihr habt keinen Gott, ihr habt ihn noch nicht erschaffen. Götter sucht man nicht, man erschafft sie; das Leben wird nicht erdacht, sondern erzeugt.“15 Das bedeutet: vom Gottsuchen sollen die Menschen zum Gottbilden oder -schaffen übergehen. Denn das Suchen kann erst dann erfolgreich sein, wenn das Gesuchte existiert. Gott aber existiert nicht. Deshalb kann man ihn auch nicht finden. Doch man kann Gott erschaffen als das Ideal alles Menschlichen. Eben das solle nun die Aufgabe der russischen Intelligenz, zuallererst der russischen Marxisten sein.

Dieser Aufruf Gorkij s, mit dem er den genannten Artikel schloß, erregte Lenins helle Empörung. In zwei Briefen an Gorkij (Mitte November und Mitte Dezember 1913) lehnte er Gorkijs Ansinnen, „nur deshalb gegen die Gottsucherei“ aufzutreten, „um sie durch die Gottbildnerei zu ersetzen“, verärgert ab, denn diese unterscheide sich, nach Lenin, von der Gottsucherei „nicht mehr, als sich ein gelber Teufel von einem blauen Teufel unterscheidet“. Deshalb sei es „hundertmal schlimmer“, „einen blauen Teufel einem gelben vorzuziehen als überhaupt darüber nicht zu reden“ (S. 105). Ist das Gottbilden doch die übelste Art von Selbstbespeiung. „Jeder Mensch, der sich mit der Erschaffung eines Gottes beschäftigt oder eine solche Erschaffung auch nur duldet, bespeit sich selbst auf die übelste Weise“ (S. 106). Das sei in gesellschaftlicher Hinsicht nicht anderes als „die verliebte Selbstbetrachtung des stumpsinnigen Spießbürgertums“ (ebdi), wobei dieser Mensch die „schmutzigsten ,borniertesten, knechtischsten Züge seines Ich durch das Gottbilden vergöttlichen“ will, um seine Feigheit zu verbergen (ebd.).16

Damit hat Lenin das Wesentliche im Gottbildnertum getroffen. Denn viele Marxisten von damals waren wirklich zu feige (viele sind es auch heute), die letzten Konsequenzen aus dem Atheismus zu ziehen, und bemühten sich deshalb, wenn es Gott nicht gibt, wenigstens das religiöse Gefühl und das religiöse Verhalten zur Welt zu retten. Es tat ihnen aufrichtig leid, mit all dem radikal zu brechen, was die .Menschheit bisher für heilig gehalten hatte. Sie wollten den Marxismus so umdeuten und umbauen, daß dieser irgendwie doch als religiös betrachtet werden konnte. Eben daraus entstand die Bewegung der Gottbildner. Doch die Bolschewiken waren in dieser Hinsicht viel folgerichtiger. Wenn es keinen real existierenden Gott im Sein gibt, so ist seine Erschaffung im Bewußtsein nur Ausdruck der Feigheit und daher auch ein Selbstbetrug und eine Selbstbespeiung. Wenn es einen Gott objektiv nicht gibt, so muß der Mensch alle Konsequenzen auf sich nehmen und sie ertragen, ohne zu versuchen, die Nichtexistenz Gottes mit seinen kleinbürgerlichen Vorstellungen und Ängsten zu verdecken und Gott als die höchste Potenz des Menschlichen zu bilden.

Diese Folgerichtigkeit der Bolschewiken zeigt uns zugleich auch, warum der Marxismus weder in seiner Theorie noch in seiner Praxis mit einer Religion — mit Gott oder ohne Gott — zu vereinbaren ist. In dem zitierten Brief an Gorkij betont Lenin, daß „jede religiöse Idee, jede Idee von jedem Gott (im Original: „bozenjke — Göttchen“), selbst jede Koketterie mit Gott eine unsagbare Abscheulichkeit ist“ (S. 106), und zwar deshalb, weil diese Idee den Menschen zwingt, sich in jedem Fall vor einem falschen Bild zu verbeugen. Gibt es keinen objektiv existierenden Gott, so ist jeder Anbetungsakt eine Entwürdigung des Menschen. Als bewußtes und freies Wesen steht der Mensch im Fall der Nichtexistenz Gottes auf der höchsten Stufe der Seinsordnung und darf sich, ohne sich zu bespeien, vor nichts verbeugen und nichts anbeten. Tut er das trotzdem, wie dies die Gottbildner wollten, so handelt er inkonsequent und beweist nur seine innere Feigheit. Da aber der Marxismus eine solche Feigheit nicht hinnimmt, bleibt er deshalb „unbedingt atheistisch und jeder Religion entschieden fremd“17. Innerhalb des Marxismus als Welt- und Lebensanschauung kann kein religiöses Element und keine religiöse Bewegung Platz finden, ohne seine Grundlagen auszuhöhJen und seine Folgerichtigkeit zu untergaben. Das Schicksal des Gottbildnertums ist deshalb nicht nur ein Kapitel der marxistischen Vergangenheit, sondern zugleich auch ein Hinweis auf die marxistische Zukunft.

1   Vgl. 1. Exkurs, 6. Abschn.

2   Vgl. N. Berdjaev, Russkaja ideja (Die russische Idee), Paris 1946, S. 224.

3 L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Bd. I, S. 50—51.

4 A. Lunačarskij, Religija i socializm (Religion und Sozialismus), Petersburg 1908, Bd. I, S. 8.

5 A. Lunačarskij, Ateizm (Der Atheismus), im Sammelwerk „Očerki po filosofii marksizma (Umrisse der Philosophie des Marxismus), Petersburg 1908, S. 157.

6 A. Lunačarskij, Religija i socializm, Bd. I, S. 41.

7 A. Lunačarskij, Ateizm, S. 160.

8 Vgl. 3. Kapitel, 1. Abschn.

9 A. Lunačarskij, Religija i socializm, Bd. I, S. 49.

10   A. Lunačarskij, Ateizm, S. 159.

11 Vgl. L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Bd. II, S. 419.

12   G. V. Plechanov, Izbrannye filos. proizvedenij a, Bd. III, S. 326—437.

13 Kommunistifeskaja partija i sovetskoe pravitelstvo o religii i cerkvi (Die kom. Partei und sowj. Regierung über Religion und Kirche; eine Dokumentensammlung), S. 37-38.

14   Zit. A. Lunačarskij, Religija i socializm, Bd. I, S. 45.

15   V. I. Lenin i A. M. Gorkij, Pisma, vospominanija, dokumenty (Briefe, Erinnerungen, Dokumente), Moskau 1958, S. 105, 399—400.

16   V. I. Lenin i A. M. Gorki, a. a. O., S. 105—106.

17 W. I. Lenin, Über die Religion, S. 19.

 

Sachregister

Altem 162 f

Atheismus :
    als Freiheit 42 f, 94 f
    bürgerlicher 77 f
    dialektischer Charakter 91 f
    als gemeinschaftsbildender Faktor 127 f, 129 f
    kämpferischer 82, 191
    und Kollektivismus 129
    und Kommunismus 79 f,
    Ulf als Macht 115
    als Positivität 79
    postulatorischer 93
    und Souveränität J14 f
    und Technik 115  f
    als Urzustand 104
    als Verwaistheit 126 f

Basis 175
    und Überbau 52

Beerdigung 123 f, 150 f

Beichte 128 f

Bewußtsein (gesellschaftliches) 43, 45 f, 59 f, 61

Christentum:
    als ab tretende Erscheinung 172 f
    als absolute Zukunft 179 f
    und Antike 176 f
    und Asien 27
    Einfluß 32 f

Dasein als Kampf 64f

Dialog:
    Eigenschaften 167 f
    und eigene Überzeugung 169 f
    als Form der Ost-West-Kon-takte 178
    Inhalt 166 f
    als innere Begegnung 170 f
    als Methode 170
    Notwendigkeit 172 f, 177 f
    nach sowjetischer Ansicht 171 f
    als Wahrheitssuche 168 f

Diktatur
    des Proletariates 29 f

Ethik:
    Entstehung 16 f
    und Grenzsituationen 14 f
    als Lehrfach 17 f, 20

Entfremdung:
    Begriff 11, 22 f, 100
    bei Hegel 197 f
    bei Marx 97 f

Erziehungsfaktoren 34 f

Ewigkeit 147 f

Faktor:
    ethischer 30
    objektiver 16, 33 f
    subjektiver 35 f, 38 f

Feind 66 f, 72

Friede 66

Gegensatz 65 f

Geschichte:
    und Natur 11
    Umkehrung ihres Sinnes 96 f
    als Werdegang der Freiheit 95 f

Gesellschaft:
    und Person 58 f
    Wesen 30, 61 f

Gott:
    und Dialog 179, 181
    als Idee des Menschen 180 f
    als Menschlichkeit 194 f

Gottbildnertum 192 f, 196 f

Gottsucher 192, 198

Hoffnung 183 f

Ikonen 124

Kategorischer Imperativ 54 f

Kirche:
    und Staat 79, 83 f
    als Fremdling 188

Klassenkampf 75 f

Kommunismus:
    und Alltag 14 f
    und asiatischer Mensch 27 f
    Aufbau und Moral 31
    und Immoralismus 9 f, 12 f, 41
    Phasen der Entwicklung 28 f
    als radikale Kritik 13
    Trennung vom Atheismus 80 f, 82
    als Verbundenheit 182 f
    als Verwirklichung der Religion 182 f
    und Zukunft 13 f, 173

Kultur (sowjetische) 34f

Leben:
    als Verlauf in den Tod 152 f
    Verherrlichung 149 f

Legalität 71 f

Liebe 63

Marxismus:
    Ausgangspunkt 31
    als auf tretende Erscheinung 172, 174
    als Integration des Christentums 174 f
    und Kampf um den Menschen 49
    als Religion 193 f, 195
    als Säkularisierung 175 f

Mensch:
    und Geschichte 95 f
    und Natur 158, 194
    als Selbstschöpfer 159 f, 164 f

Mitsein 58, 61, 67, 70 f, 74

Moral:
    Begriff 43 f
    Begründung 48
    bürgerhche 41 f
    Definition 45
    Einwirkung auf die Basis 47 f
    Normen 68, 75    
    religiöse 49 f
    Objektivismus 73 f
    im Programm der KP der UdSSR (1961) 21 f

Nächstenliebe 66 f

Natur:
    als Begründung der Moral 51 f, 53
    und Geist 31 f

Neopositivismus 135

Partei 74 f

Person:
    Begriff 59 f
    und Gesellschaft 58 f, 60 f
    Würde 62 f

Postatheistisches Zeitalter 118 f, 122, 126

Produktion 46

Religion:
    als Antithese zum Tode 183
    als bleibendes Phänomen 185 f
    Dialektik im Kommunismus 87 f, 90
    und Drangsalen des Lebens 125 f
    als Entfremdung 110 f
    als menschlicher Entwurf 182
    als Mystifikation 182 f
    als Negativität 108 f
    ohne Gott 197
    als Positivität (Feuerbach)  107 f, 194 f
    als Privatsache 84 f
    als Projektion des menschlichen Wesens 88 f
    als Rauschgift 91, 190
    im sowjetischen Alltag 120 f
    und sowjetische Jugend 121 f
    als sozialer Trost 184
    und Sprache 124 f
    als Überbleibsel 90 f, 121 f
    Ursprung 102 f, 104 f
    als Verdoppelung des Daseins 106
    als verkehrtes Weltbewußtsein 106 f
    Verfolgung 85

Revolution:
    in Asien 25 f
    als Weltrevolution 22 f, 25

Sein (gesellschaftliches) 45 f

Selbstbewußtsein 60

Selbstmord 154f

Sinn:
    und das Absurde 140
    als anthropologische Kategorie 142    f
    und Diesseits 132
    der Epoche 145
    und Glück 140, 147 f
    und Jenseits 131 f, 142 f
    als historische Kategorie 144
    und Kollektiv 144f, 146 f
    und Menschheit 138
    objektiver 139 f
    und Optimismus 140f
    als Schöpfung des Menschen 143    f, 146 f
    und Tod 147 f
    universaler 141 f

Sinnfrage:
    Aktualität 135 f
    Entstehung 133 f
    und Person 136 f, 146 f
    als Prüfstein 137 f

Situationsethik 15

Taufe 123

Teleologie 142

Theismus (postulatorischer) 92 f

Tod:
    Absolutheit 153 f
    und Alltag 150 f
    Angst 151 f, 186
    in der Existenzialphilosophie 152 f
    und Geheimnis 148
    als Heldentat 150
    in der Natur 159 f
    als Randerscheinung 149 152
    und Rehgion 165, 185
    Sein-zum-Tode 148 f
    Überwindung 156, 161 f
    Wesen 155 f
    als Zufall 150

Toleranz 187 f

Transzendenz 180 f

Trauung 123

Überbau 32, 46 f

Unsterblichkeit 148, 149, 185
    als Schöpfung des Menschen 163 f
    der Seele 157
    als Vollendung der Freiheit 164 f

Wahrheit 144

Weltzugekehrtheit 26 f

Werte 55 f

Zukunft 180 f

Kirche und Staat in der Sowjetunion

Gesetze und Verordnungen Herausgegeben von Prof. D. Dr. Robert Stupperich 48 Seiten, kart., DM 3,60

Robert Stupperich Die Russische Orthodoxe Kirche in Lehre und Leben

312 Seiten, 23 Abbildungen im Text, 8 Seiten Bilder, Ln., DM 28,-

Kirche und Kosmos

Orthodoxes und evangelisches Christentum Herausgegeben vom Außenamt der Ev. Kirche in Deutschland 168 Seiten, broschiert, DM 4,60

Tradition und Glaubensgerechtigkeit

Das Arnoldshainer Gespräch zwischen Vertretern der EKD und der Russischen Orthodoxen Kirche vom Oktober 1959

Herausgegeben vom Außenamt der Ev. Kirche in Deutschland

88 Seiten, broschiert, DM 5,60

Vom Wirken des Heiligen Geistes

Das Sagorsker Gespräch über Gottesdienst, Sakramente und Synoden Herausgegeben vom Außenamt der Ev. Kirche in Deutschland 165 Seiten, 4 Seiten Abbildungen, broschiert, DM 14,80

Versöhnung

Das deutsch-russische Gespräch über das christliche Verständnis der Versöhnung zwischen Vertretern der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Russischen Orthodoxen Kirche

Herausgegeben vom Außenamt der Ev. Kirche in Deutschland

200 Seiten und 4 Bildseiten, kart., DM 20,—

LUTHER-VERLAG

Antanas Maceina wurde am 27. Januar 1908 in Litauen geboren. Er studierte (1928-32)

Philosophie an der Universität in Kaunas (Kowno) und als Stipendiat des litauischen Kultusministeriums (1932-34) in Louvain, Freiburg und Straßburg. Im Jahre 1934 promovierte M. mit einer Arbeit über die nationale Erziehung und habilitierte ein Jahr später an der philosophischen Fakultät in Kaunas, wo er Vorlesungen über Religions-, Kultur- und Sozialphilosophie hielt. 1942 wurde er Extraordinarius für

Philosophie und Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte der Philosophie.

Als die Sowjets im Sommer 1944 Litauen besetzten, flüchtete Maceina nach Deutschland und war hier lange Jahre als Privatgelehrter tätig. Im Jahre 1956 bekam er einen Lehrauftrag für osteuropäische Philosophie an der Universität Freiburg und hielt Vorlesungen überwiegend über die marxistische Philosophie. 1959 wurde M. an die Universität Münster als Gastprofessor für osteuropäische Geistesgeschichte eingeladen und 1961 zum apl. Professor für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionsphilosophie ernannt. Das spezielle Arbeitsgebiet des Autors ist die russische Philosophie, inbegriffen die sowjetische Philosophie.

Außer mehreren Büchern in seiner litauischen Muttersprache hat Antanas Maceina u. a. in deutscher Sprache veröffentlicht: „Der Großinquisitor. Geschichtsphilosophische Deutung der Legende Dostojewskijs“ (Heidelberg 1952), „Das Geheimnis der Bosheit. Eine Untersuchung über ,Die Erzählung vom Antichrist' Wl. Solowjews“ (Freiburg 1955) und einige Studien in „Commentationes Balticae“ (Bonn), „Zeitschrift für Ostforschung“ (Marburg), „Stimmen der Zeit“ (München) und „The Baltic Review“ (New York).